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jeudi, 01 décembre 2011

Zwölf Thesen zur Skandalokratie

Zwölf Thesen zur Skandalokratie

Felix MENZEL

Ex: http://www.sezession.de/

Vor lauter Skandalen und medialen Ausnahmezuständen (Sarrazin, Guttenberg, Stuttgart 21, Fukushima, Döner-Morde) können wir kaum noch erkennen, was heutzutage wirklich wichtig ist und wo die Entscheidungen für die Zukunft fallen. Dies hat Methode; ja mehr noch: Diese Skandalokratie hat sich als ein neues Herrschaftssystem etabliert. Für meinen Vortrag in Stuttgart in der letzten Woche habe ich dazu zwölf Thesen formuliert, die ich auch an dieser Stelle vorstellen möchte.

  1. In kollektiv traumatisierten Nationen werden Skandale besonders energisch diskutiert und verlangen von den politischen Eliten außerordentliche Konsequenzen. Symptomatisch sind zudem kollektive Gesten der Buße. Nationen mit einem gesunden Selbstbewußtsein neigen hingegen dazu, die Skandale maßvoll zu sanktionieren oder sie sogar auszusitzen.
  2. Der Skandal ist ein Makroritual in den Medien (mehr dazu hier), das dazu dient, die „Gesellschaft“ auf ein neues Leitthema einzustimmen und auf politische Veränderungen vorzubereiten. Mit dem Makroritual wird die Moralität dieses Vorgehens legitimiert und festgelegt, wer zur politischen Öffentlichkeit dazugehört und wer nicht.
  3. Die Enthüllung von Skandalen läuft heute in den Massenmedien quasi in Echtzeit ab und produziert so Gerüchte und Spekulationen am laufenden Band. Personalfragen sind dabei immer wichtiger als die Sache selbst. Im Internetzeitalter ist dabei im Vorteil, wer anonym denunziert. Angreifbar ist, wer mit seinem Gesicht und Namen für kantige Positionen einsteht.
  4. Diese Enthüllungen in Echtzeit setzen die Politik unter enormen Handlungsdruck, den es ansonsten in der Konsensdemokratie nicht gibt. Politische Konsequenzen werden deshalb meistens bereits dann gezogen, wenn die Ermittlungen bzw. die Aufklärung des Skandals noch nicht abgeschlossen sind. Es ist also zum Zeitpunkt der politischen Beschlüsse noch unklar, was nur ein öffentliches Gerücht ist und was der Wahrheit entspricht.
  5. Wir leben in einer entpolitisierten, entideologisierten Konsensdemokratie, die sich von den Ursprüngen des Parlamentarismus entfernt hat und kontroverse Debatten nicht mehr kennt. Doch diese Konsensdemokratie kennt einen Modus, mit Hilfe dessen sich alle Parteien auf ein neues Ziel einschießen können. Dies ist der Skandal, der einen Ausnahmezustand konstituiert, in dem sofortige politische Kehrtwenden durchgesetzt werden können.
  6. Diese Herrschaft des Skandals (Skandalokratie) gefährdet den Rechtsstaat und setzt ihn zuweilen außer Kraft. In der Skandalokratie fällt die „Rechts-Ordnung“ auseinander. Das Recht wird notfalls suspendiert, um die alte Ordnung zu bestätigen oder eine neue auf den Weg zu bringen. Dazu braucht es Legitimitätsverfahren, die über den Legalitätsglauben hinausgehen.
  7. Sobald die Skandale keine Einzelfälle mehr sind, sondern vielmehr einer den nächsten jagt, befinden wir uns in einem permanenten Ausnahmezustand, der medial geschaffen wurde. In diesem geht es zwar nicht um die nackte Existenz, sehr wohl aber um tief sitzende Existenzängste.
  8. Diese Existenzängste werden gebändigt, indem die Öffentlichkeit ein Normalitätsversprechen abgibt. Dieses lautet: Nur wenn jetzt endlich durchgegriffen wird, könnt ihr weiter in Wohlstand, Frieden und Sicherheit leben. Massengesellschaften brauchen ein genaues Bild von Normalität und scheuen Diskontinuitäten. Dies begünstigt ein lineares Geschichtsbild.
  9. Große Skandale lassen Verschwörungstheorien entstehen.
  10. Das Krisenmanagement in allen wesentlichen Politikfeldern ist in Deutschland desaströs. Aus diesem Grund suchen sich die Eliten emotional besetzte Felder, wo sie besser punkten können.
  11. Die Skandalokratie verdrängt in der öffentlichen Wahrnehmung die eigentlichen Herausforderungen unserer Zeit und ist damit eine Debattenverhinderungskultur. Es findet ein Informations-Overkill bei gleichzeitigem Totschweigen der Hintergründe und Ursachen von Problemen statt. Souverän ist folglich, wer mediale Ausnahmezustände auslösen und steuern kann und wem es gelingt, im normalen Tagesgeschäft politische Entscheidungen und Debatten zu verhindern.
  12. Unsere Wahrnehmung ist so sehr von Boulevardisierung, Personalisierung, Ritualisierung, Beschleunigung der Neuigkeiten sowie Virtualisierung bzw. Anonymisierung geprägt, daß diese eigentlichen Herausforderungen nur auf die Agenda kommen, wenn jemand sie skandalös thematisiert. Neben moralischen Verfehlungen und tatsächlichen Straftaten reicht in traumatisierten Nationen häufig bereits eine direkte Schilderung der Wirklichkeit.