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jeudi, 26 octobre 2017

Der blinde Seher: Ernst Niekisch revisited

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Der blinde Seher: Ernst Niekisch revisited

In einem Kommentar in Tichys Einblick stand neulich zu lesen, dass selbst ein Rücktritt der Kanzlerin an der Gesamtlage wenig ändern würde, da links-liberales Gedankengut immer noch zu tief in den maßgebenden Teilen der Gesellschaft verankert sei.

Erst eine Art „Langer Marsch“ durch die Köpfe und Herzen der Menschen könne nachhaltige Veränderung bringen oder aber, gleichsam als Abkürzung, Krieg und/oder Revolution. Warum letzteres unter jetzigen (west-)deutschen Verhältnissen eher unwahrscheinlich ist, hat Ernst Niekisch gegen Ende seines bewegten Lebens vorausgesehen.

Der schwer zu klassifizierende Publizist und Politiker, der heute im Zuge von Querfront-Strategien wieder herangezogen wird, war ein Enttäuschter der Geschichte, zumal der deutschen. Nirgendwo richtig zu Hause und von den Strapazen der NS-Haft gezeichnet, verlor er zum Schluss sein Augenlicht, was sein politisches Gespür allerdings umso schärfer werden ließ. Gleich einem prosaisch-preußischen Homer sah er statt Götter Ideen auf den Schlachtfeldern der Geschichte gegeneinander streiten. Die bürgerliche Ideologie in all ihren Verkleidungen und Verästelungen nahm für ihn die Rolle des Trojanischen Pferdes ein. Sie verhinderte immer wieder den ersehnten revolutionären Durchbruch – bis heute.

Auf der Suche nach der Revolution

Ernst Niekisch war geborener und stolzer Preuße, der die erste Zeit seines politischen Wirkens allerdings im „Feindesland“, nämlich in Bayern zubrachte. Er kommt am 23. Mai 1889 in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Trebnitz/Schlesien zu Welt und bleibt zeitlebens ein erklärter Feind bürgerlicher Wertvorstellungen. 1908 als Einjährig-Freiwilliger eingezogen und im Ersten Weltkrieg in der Etappe eingesetzt, verabscheute er Militarismus und Pazifismus gleichermaßen.

Kein Rassist, aber vom Adel der preußischen Rasse überzeugt, wird er zum nationalen, nicht-marxistischen Sozialisten, der zeitweise von einem preußisch-russischen Agrarimperium schwärmt. Die Kriegseuphorie des Sommers 1914 lässt ihn vergleichsweise kalt, während ihn der Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 in Russland mit Begeisterung erfüllt und in die Politik treibt. Es ist mehr Ehrgeiz und nicht wirkliche Überzeugung, die Niekisch 1917 in die SPD eintreten lässt, liebäugelt er doch bereits mit einem Einzug in eine künftige Regierung. „Ich meine, es müsste sich nun endlich meine Zeit erfüllen“, schreibt er, vor Sendungsbewusstsein strotzend, in sein Tagebuch.

Rätebewegung

In der Phase der Arbeiter- und Soldatenräte wird er in einer Augsburger Kaserne zum Vorsitzenden des dortigen Rates gewählt. Niekisch steht für eine Revolution ohne Kommunismus, obwohl er den Marxismus vor allem für seine soziale Diagnostik schätzt. Die Moskau-Hörigkeit der späteren KPD wird er hingegen ablehnen. Die Rätebewegung sieht er als Plattform, um das „nötige Gemeinschafts- und Brüderlichkeitsgefühl“ unter den Deutschen zu erwecken. Doch ist er in seiner Politik nicht konsequent genug, da er in einer vermittelnden Position gegenüber der bayerischen Landesregierung verharrt und die letzte Radikalität in der Praxis scheut.

Nach Ende der Münchener Räterepublik wird er verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er u.a. zusammen mit dem Anarchisten Erich Mühsam verbüßt. Zuvor war Niekisch in die Redaktion der USPD-nahen Zeitung Umschau eingetreten, bevor er im Jahre 1926 die SPD ganz verlassen wird, um einem drohenden Rauswurf zuvorzukommen. Da hatte er sich unter dem Einfluss von Oswald Spengler schon zum sozialistischen Nationalisten gewandelt. Ähnlich Hitler, den er schon vor 1933 bekämpft, tritt er bald darauf in eine Splitterpartei ein, die er gemäß seinen Vorstellungen umzuwandeln gedenkt: der sogenannten Alten Sozialdemokratischen Partei, die sich als Alternative zu NSDAP und SPD positionieren will.

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Im Widerstand zusammen mit den Gebrüdern Jünger

Ernst Niekisch nimmt in dieser Phase auch Fühlung zu den diversen paramilitärischen Bünden auf, wie dem Bund Oberland, dem Wehrwolf oder dem Jungdeutschen Orden, da er vor allem die Entfesselung aller revolutionären Energien auf nationaler Ebene vorantreiben will. Von manchen dieser Organisationen lässt er sogar die Parteiveranstaltungen bewachen, auf denen auch das Horst-Wessel-Lied erklingt. Aber anders als Hitler ist Niekisch bei seinen Projekten allenfalls mäßig erfolgreich. Bekannter wird er in dieser Zeit vor allem durch seine Zeitschrift Widerstand, für die er u.a. die Gebrüder Jünger als Autoren gewinnen kann.

Auch diesem Projekt, das gleichwohl wie nichts zuvor und danach mit seinem Namen verknüpft bleiben sollte, ist kein langes Leben beschieden. Die anhebende NS-Diktatur ist ihm nicht revolutionär genug und Hitler wird in den Augen des Preußen Niekisch stets ein überspannter österreichischer Kleinbürger bleiben, dessen dogmatischer Rassismus ihm letztlich fremd ist. Ernst Niekisch geht in die innere Emigration, kann aber einen Kreis ehemaliger politischer Gefährten bei der Stange halten.

1939 wird er wegen Verschwörungsabsichten vom Regime zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Die Solidarität unter den kommunistischen Häftlingen wird ihn tief beeindrucken, so dass er sich nach seiner Befreiung dem neuen SED-Regime der beginnenden DDR zur Verfügung stellt. Es folgen Tätigkeiten als Dozent sowie als Volkskammerabgeordneter der herrschenden Einheitspartei. Obwohl eine Anbindung an Russland zu den Konstanten in Niekischs geopolitischen Ansichten zählt, protestiert er gegen die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und gilt in der SED fortan als eigenbrötlerischer Sektierer. 1963 zieht er nach Westberlin und muss von nun an in der ungeliebten Bundesrepublik auf demütigende Weise jahrelang für sich und seine Frau eine Rente einklagen.

Die Geschichte als Feind

Dass eine Revolution nach dem Geschmack Niekischs in Deutschland weitgehend ausblieb, versucht er immer wieder in seinen Schriften zu ergründen. Er ist fast so etwas wie ein permanent Ernüchterter, der sich nach dem Rausch sehnt. Diese Enttäuschung über den Gang der Dinge in Deutschland macht aus dem glücklosen Politiker den Publizisten Niekisch, der bald zu jedem Gebiet der Ideengeschichte etwas zu sagen weiß. Dabei stößt er immer wieder auf den spezifisch kleinbürgerlichen Geist, welcher in der deutschen Geschichte den großen Wurf, das tollkühne Wagnis der Freiheit bestenfalls in Ansätzen zugelassen hat. Ein Gedanke, der ihn nicht mehr loslassen sollte.

220px-Widerstand.jpg„Das preußische Schwert fand kein fruchtbares Verhältnis zum Geiste“, so verkündet der Autor der Deutschen Daseinsverfehlung sein Urteil gleich zu Beginn seiner Abhandlung. Das Bürgertum war die Quelle von Ideen, welche die althergebrachten und gottgewollt geglaubten Ordnungen ins Wanken bringen sollte – nur in den deutschen Territorien nicht. Jedenfalls nicht auf diese Länder und ihre Herren, die Landesfürsten, bezogen. Die Reformation als theologisch-politische Befreiung vom supranationalen Joch Roms übertrug sich nicht auf die deutschen Territorialfürsten.

Im Gegenteil, das erwachende Bürgertum trat in die Gefolgschaft der Höfe und sicherte somit den Erfolg der Reformation und erbte dafür einen Charakterzug, der bis heute, wenn auch in völlig anderer Gewandung, hervorsticht: den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Man denke hier nur an Luthers Rolle in den Bauernkriegen. Für Ernst Niekisch hat das deutsche Bürgertum auf die Revolution verzichtet und die politische Macht dem Adel überlassen (mit Ausläufern bis 1848). Ideen hatten demzufolge in deutschen Gebieten nur die Chance, von der herrschenden Aristokratie zu eigen gemacht zu werden. Als Beispiel führt der Autor den Preußenkönig Friedrich II. an, der die Aufklärung mit dem Militarismus seines Vaters zu paaren versuchte.

Das Volk als kämpferische Klasse

Es ging also letztlich immer nur „von oben“ herab. Im erstarkenden Preußen kam hinzu, dass dort der Bürger immer auch Soldat war und die Gewalt bzw. die militärische Stärke die Rolle der Idee einnahm. Parallel dazu verlegte sich das aufstrebende Bürgertum, hier im Einklang mit dem Bürgertum anderer Länder, auf das Gebiet der Wirtschaft und nahm hier bald die Rolle des Adels an, „denn auch die bürgerliche Gesellschaft brauchte, wie die feudale Gesellschaft, Menschen, denen das Mark aus den Knochen gesogen werden konnte“, so Niekisch in sozialistischer Aufwallung. Ab diesem Punkt argumentiert er über weite Strecken entlang klassisch marxistischer Parameter. Der sich langsam etablierende bürgerliche Zuschnitt der Demokratie (fast) allerorten ist nach ihm nichts anderes, als ein subtiler Wechsel der Methodik.

Die wachsende Zahl der Proletarier bleibt wirksam ausgeschlossen, obwohl ihm formalpolitisch alle Rechte zugestanden werden. Schlimmer noch: Es bleibt im ideellen Einflussbereich des Bürgertums, dessen Wertvorstellungen es bewusst oder unbewusst übernimmt. Ein proletarisches Klassenbewusstsein, das die Stärke einer einheitlichen Masse in die Waagschale werfen könnte, kommt wenn überhaupt nur in Ansätzen zustande. Der kommunistische Internationalismus ist in Niekischs Augen zudem ein nutzloser ideeller Fremdkörper im deutschen (und nicht nur deutschen) Proletariat. Ernst Niekisch will das Volk als Klasse und zwar als eine kämpferische.

In späterer Zeit wird er auf die USA blicken, deren Marshall-Plan er als Bestechungsgeld an die Deutschen verachtet. Gleichzeitig erkennt er die Cleverness der USA an, sich die Arbeiterklasse gefügig zu machen und die kommunistische Bedrohung im Inland weitgehend auszuschalten. Das amerikanische Modell der von ihm so genannten Clerk-Demokratie lässt jede Widerstandsbewegung wie eine Welle sich totlaufen.

Die Clerk-Demokratie: eine totalitäre Phantasterei?

Die Niekisch-Biografin Birgit Rätsch-Langejürgen schreibt über Niekischs späte Weltsicht: „Es war keine Traumwelt, keine bessere Welt, vielmehr verstieg er sich wie ehedem zu totalitären Phantastereien“. Wer auf den heutigen Zuschnitt der westeuropäisch-amerikanischen Gesellschaft blickt, findet Niekischs Überlegungen weniger als Phantasterei denn als realitätsnahe Prognose. Mit dem englischen Begriff „Clerk“ fasst Niekisch die Gesamtheit aller sachbearbeitenden Dienstleistungen einer zunehmend technokratischen Welt zusammen, was ziemlich genau auf heutiges wie zukünftiges Wirtschaften zutrifft.

Bereits 1935 beschreibt er in der Manier eines H. G. Wells in Die Dritte Imperiale Figur die Fusion zwischen Geist und Funktion im Typus des Funktionärs, den er kurzerhand als „Barbaren modernen Zuschnitts“ bezeichnet. Die einzige Revolution, die hier noch stattfindet, ist die technologische. Ihr fügt sich alles. „Das Dasein muß präzis, im Sinne einer Maschine, funktionieren“, schreibt Niekisch und fügt hinzu, dass diese Revolution um die Welt gehen und den Menschen ganz neu konstituieren werde.

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Später wird Niekisch in seiner Schau präziser. Der innere Zusammenhalt der Clerk-Gesellschaften funktioniert fast wie autogenes Training. Entlang der Phasen Mechanisierung, Typisierung und Normierung entsteht ein Menschentypus, dem auf der einen Seite jede Behaglichkeit in Aussicht gestellt wird oder real zur Verfügung steht, von dem aber auf der anderen Seite totale Unterordnung unter die laufenden Wirtschaftsprozesse gefordert wird. Damit dies möglichst reibungslos vonstattengeht, muss jeder Widerstandswille gleichsam in Watte erstickt bzw. subjektiv als sinnlos und ungerechtfertigt erlebt werden. „Das Behagen am gehobenen Lebensstandard, das Wohlgefühl einer verhältnismäßigen Gesichertheit erstickt den Kampfgeist; man ahnt, daß man, wenn man ihn noch pflegte, vieles aufs Spiel setzen würde“, so Niekisch in einem Aufsatz über die Clerkisierung.

Das Sterben der Ideen

Revolutionen entstehen nach Niekisch fast immer aus Verzweiflung heraus. Wichtig sei, dass die eigentlichen Mächte, die über die Zustände wachen, im Hintergrund bleiben, denn diese Gleichschaltung soll auf freiwilliger Basis erfolgen und möglichst unbemerkt bleiben. Wer das erreichen will, muss bestrebt sein, den Menschen in seinen Schwächen zu packen, ihn auf breiter Front zu entpolitisieren, ihn zu entmündigen, ihn von Verantwortung zu entlasten oder besser noch ihn zum Komplizen seiner eigenen Entmenschlichung zu machen.

Letzteres geht am besten durch den Einsatz dessen, was das Bürgertum groß gemacht hat: einer Idee. Denn, so Niekisch, „der liberale Mensch steht unausgesetzt unter der Kontrolle eines Menschenbildes“. Wenn das Menschenbild politisch edel erscheint, ist man eher geneigt, die wirtschaftliche Ausbeutung für seine vermeintliche Realisierung hinzunehmen. Letztlich führen diese Ideen zum Sterben der Ideen als solchen, was den Machtverwaltern nur recht sein kann. Der Clerk ist eine Schattengestalt in einem Schattenreich unter künstlicher Beleuchtung. Will er zu sich selbst zurückkehren, will er im Willen zum Widerstand sein Menschsein zurückerlangen, möge er sich am Wort des französischen Revolutionärs Camille Desmoulins aufrichten, der einmal gesagt haben soll: „Die Dinge erscheinen uns nur riesig, weil wir auf unseren Knien sind; lasst uns aufstehen!“

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