lundi, 09 décembre 2013
Nietzsches ‚Biopolitik’
Nietzsches ‚Biopolitik’
„Entartete Kultur“ – so charakterisierte Kardinal Meißner 2007 den unfruchtbaren Zustand modernen Kunstlebens. Sofort schallten die Alarmglocken der öffentlichen Meinung, die reflexartig den Bannfluch über die vermeintliche Nazivokabel aktualisierte. Ent-artung – was soviel meint wie „aus der Art schlagen“ – wurde tatsächlich von dem nationaljüdischen Arzt Max Nordau geprägt, und zwar im Rahmen einer Semantik, die bewusst das physiologische und kulturelle Feld miteinander verschränkte. Er transferierte die ursprünglich medizinische Vokabel auf kulturell-künstlerische Phänomene, um vor einer für die Menschheit ungesunden Kulturentwicklung zu warnen. Unter anderem geriet Friedrich Nietzsche unter Nordaus Entartungsverdikt. Der Philosoph, der sich selbst als „Arzt der Kultur“ verstand, hatte nicht zuletzt selbst von einer „Degenereszenz der Instinkte“ als einer Ursache kultureller décadence gesprochen und empfahl den Übermenschen als Remedur zugunsten einer „Höherzüchtung der Menschheit“. Es sieht so aus, als könne man eine Kontinuität zu eugenischen Programmen und Sozialhygienemaßnahmen herstellen, die im 20. Jahrhundert verhängnisvolle Folgen zeitigen sollten. Es scheint, als wäre das Entartungstheorem das darwinistische Pendant der radikalen Rechten zum marxistischen Entfremdungstheorem der radikalen Linken. Beide eröffnen eine ‚engineering’-Perspektive auf Mensch und Gesellschaft, die heute im gender-mainstreaming oder den Anthropotechniken fröhliche Urständ feiert und das befürchten lässt, was C. S. Lewis die Abschaffung des Menschen nennt.
Wenn man die – wie wir heute mit Foucault sagen können- ‚Biopolitik’ Nietzsches genauer betrachtet, stellt sich jedoch ein differenzierteres Bild dar: Entartung ist nicht einfach der Keim des Verfalls, sondern immer auch notwendige Voraussetzung höchster kultureller Blüte. An ihr lässt sich eine aufschlussreiche kulturtheoretische Dialektik ausfalten, welche die Kultur in ihrer geschichtlichen Dynamik zu fassen und Faktoren ihrer Fruchtbarkeit freizulegen vermag. Nietzsches biopolitisches Grundgesetz lautet in nuce: „Veredelung durch Entartung“. Entartung wirkt also nicht primär degenerativ, sondern umgekehrt: veredelnd und kulturproduktiv. Die empirische Beobachtung der Geschichte lehrt Nietzsche, dass der „lebendige Gemeinsinn“ eines kulturfähigen Volkes durch „Gleichheit [der] gewohnten und undiscutierbaren Grundsätze“ und „gemeinsamen Glauben“ konstituiert wird. Durch die „tüchtige Sitte“ werden die Menschen berechenbar und homogen gemacht: Das Individuum muss Unterordnung lernen, seinem Charakter wird Festigkeit anerzogen. Es entsteht so etwas wie Konformität – ein „auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründetes Gemeinwesen“. Kultur enthält nach Nietzsche – vor allem in ihrer anfänglichen Konstitutionsphase- immer die Komponente der Zucht oder mit Max Weber gesprochen das Moment der Sozialdisziplinierung. Ohne kultivierte Menschen würde Kultur in sich zusammenfallen und in nackte Barbarei regredieren. Der Stabilität aufbauende Konformitätsdruck der Kultur kann aber sehr schnell in sein Negativ umschlagen: Nietzsche erblickt die Gefahr in der „allmählich durch Vererbung gesteigerten Verdummung“. Man kann an die Wendung: „kein Hirt und eine Herde“ denken, die in seinem Zarathustra in Zusammenhang mit dem letzten Menschen auftaucht. Statt die biologistischen Anklänge von vererbter Verdummung überzuinterpretieren, können wir uns ein kollektives Trägheitsgesetz der Masse in der Logik des Sozialen vorstellen, das Kreativität und Individualität zu ersticken droht. Da bedarf es eines Gegengewichtes zum „stabilen Elemente eines Gemeinwesens“, das dynamisch und auflockernd wirkt und dadurch zum „geistigen Fortschreiten“ beiträgt. Dieses positive Gegengewicht bilden „die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren Individuen“, eben die „Entarteten“: „es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei versuchen“. Künstler und Intellektuelle erweisen sich als solche Versuchende im Sinne eines kreativen Elements, insofern sie gerade oft außerhalb kultureller oder sozialer Normalität stehen. Sie sind nicht „Zersetzer“, wie die NS-Rhetorik zu suggerieren suchte, sondern das zentrale Stimulans der Kultur. Sie fügen ihr eine „Wunde“ zu, aber „an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesamten Wesen etwas Neues gleichsam inokuliert“. Der „Volkskörper“ ist nicht geschlossen und rein gedacht, sondern assimilatorisch, über die Einverleibung des Anderen vermittelt. So konzediert der Fortschrittskritiker Nietzsche sogar: „Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll.“ Fortsetzung im Großen setze jedoch Schwächung im Kleinen voraus. So ergibt sich ein kulturproduktiver Antagonismus zwischen den starken Naturen, die den Typus festhalten, d.h. im Wortsinne konservativ wirken, und den schwachen Naturen, die den Typus „fortbilden“, d.h. progressiv wirken. Aus dem Zusammenspiel der zentripetalen Kräfte und den zentrifugalen Kräften ergibt sich als Resultante die Kultur. Entartung präsentiert uns Nietzsche als tief ambivalentes Phänomen:
„selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vorteil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in’s Innere schauen und jedenfalls schärfer hören.“ Formen von Entartung – Krankheit oder Behinderung- ermöglichen Kompensation und Spezialisierung, die einen kulturellen Mehrwert zu erzeugen in der Lage sind. Der monokausalen Erklärung vulgärdarwinistischer Kurzschlüsse – der Kampf ums Dasein als Ursache für „das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse“- wird eine scharfe Absage erteilt und durch ein differenzierteres Modell ersetzt:
„Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, teilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen;“ Auf der einen Seite eine homogene Gemeinschaft aus Glauben und Gemeingefühl, auf der anderen Seite die entartenden Naturen, die letztere immer wieder neu transzendieren (und damit natürlich auch den Verband schwächen oder gefährden können). Gerade die „schwächere Natur“ sei die „zartere und freiere“ und mache „alles Fortschreiten überhaupt möglich“. Dabei unterscheidet Nietzsche drei Perspektiven: die auf das kollektive Leben des Volkes, die auf das individuelle Leben des Einzelmenschen und die auf den Staat. Natürlich imaginiert Nietzsche das Volk im Bildes des organischen Körpers: Der Volkskörper – partiell angebröckelt und schwach aber doch „im Ganzen noch stark und gesund“- „vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vorteil einzuverleiben“. Analog solle die Erziehung des Menschen verlaufen: Zunächst sei er „fest und sicher hinzustellen“, um ihm daraufhin „Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen“, damit „in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculiert werden“ könne. Nietzsche plädiert hier weniger für eine autoritäre Erziehung, vielmehr stellt er fest, dass eine freie Persönlichkeit immer auch durch die Negativität des Lebens hindurchgegangen sein muss. Sie muss Schmerz und Bedürfnis erlebt haben, um ihre Stabilität und Autonomie zu bewähren und gegen Widerstände weiter auszubilden. Nietzsche spricht schließlich von den Früchten der „Veredelung“. Am Ende steht der Staatskörper, auf den der Philosoph seine Beobachtungen überträgt. Er ruft dabei Machiavelli als Gewährsmann auf, der Dauer als „das große Ziel der Staatskunst“, welches alles Andere aufwiege, herausgestellt hat. Im Gleichklang mit Machiavelli erweist sich Nietzsche als im klassischen Sinne konservativ, wenn er zustimmend hinzufügt: „Nur bei sicher begründeter und verbürgter größter Dauer ist stetige Entwicklung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich.“ Nur wenn das Staatsgebilde auf Dauer ausgelegt ist und einen Stabilitätskern besitzt, sind Entwicklung und Assimilation des Anderen möglich, durch die hindurch sich ja das, was sich entwickelt, durchhalten muss. Die „gefährliche Genossin aller Dauer“ ist die Autorität, die als Gegenspielerin gegen Dynamik, Entwicklung und Veränderung auftritt und deren Schattenseite reaktionäre Erstarrung im Alten ist. Autorität und Entartung, Dauer und Entwicklung, Konformität und Kreativität bilden das Spannungsfeld, in dem Kultur gebildet wird. Sie sind auch die Koordinaten konstruktiver Kulturkritik, die Reduktionismen vermeiden sollte. Ungesund wird eine Kulturentwicklung immer dann, wenn sie in ein Extrem ausschlägt und den jeweils komplementären Pol vergisst. Wer seinen Nietzsche gelesen hat, darf entspannter das Wort „Entartung“ in den Mund nehmen und kulturkritisch verwenden, ohne natürlich die historischen Belastungen auszublenden. Ein biologistischer Kurzschluss ist bei Nietzsche jedenfalls nicht in der heute inkriminierten Vokabel enthalten, im Gegenteil: Nietzsche weiß um die vor allem produktiven Wechselwirkungen mit der soziokulturellen Sphäre, er weiß, dass soziale Körper – sei es der des Individuums, des Volkes oder des Staates, die immer einer organischen Logik folgen, welche die Form von Geschlossenheit und Emergenz zwischen Teilen und Ganzem anstrebt – auch zur Transzendenz fähig sind und damit nicht nur mit sich selbst sondern immer auch mit ihrem Anderen – eben dem Entarteten- identisch sein können.
Quellen:
Nietzsche: KSA, Bd.2, Menschliches, Allzumenschliches, S.187-188.
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