mercredi, 28 octobre 2009
Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will
Von Wolfgang Dvorak-Stocker / http://www.neue-ordnung.at/
Der Zweite Weltkrieg liegt bald 65 Jahre zurück. Nur mehr wenige Menschen in unserem Land haben ihn bewußt miterlebt. Und doch ist er präsent wie keine andere Geschichtsepoche, nicht nur in Film und Funk, sondern auch in den Gerichtssälen und Parlamenten.
Erst im August wurde der Gebirgsjägeroffizier Josef Scheungraber wegen Mordes an 14 Zivilisten in der Toskana schuldig gesprochen, den er als Vergeltung für den Tod zweier deutscher Soldaten im Juni 1944 befohlen haben soll. Scheungraber selbst hatte immer bestritten, vor Ort gewesen zu sein, ja von dem Vorfall überhaupt etwas gewußt zu haben. Und selbst der Spiegel hat in seiner Prozeßberichterstattung eingeräumt, daß seine Verantwortlichkeit weder durch Dokumente, noch durch Zeugenaussagen belegt werden konnte. 65 Jahre nach der Tat wohl auch kein Wunder, gibt es doch kaum mehr lebende Tatzeugen auf deutscher oder italienischer Seite.
All das läßt das Verfahren als Schauprozeß erscheinen, der mit Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit nicht mehr viel zu tun hat, sondern offenbar andere Zwecke erfüllt. Ob Scheungraber für die Tötung der italienischen Zivilisten nun verantwortlich war oder nicht: Sie mag völkerrechtswidrig, also Mord gewesen sein. Aber was war dann der Partisanenkrieg? Bei Lichte besehen doch auch völkerrechtswidrig. Tausende Wehrmachtsangehörige sind Opfer der Partisanen geworden. Insofern diese ohne Uniform und aus dem Hinterhalt operierten, also: von Kriegsverbrechern. Ginge es nur um Wahrheit und Gerechtigkeit, müßten dann wie Scheungraber wohl auch die letzten noch lebenden „antifaschistischen“ Partisanen vor Gericht geschleppt und abgeurteilt werden.
Der 90jährige Scheungraber ist kein Einzelfall: Ende Oktober beginnt der Prozeß gegen den 88 Jahre alten Heinrich Boere, dem vorgeworfen wird, 1944 als SS-Standartenführer drei Niederländer erschossen zu haben. Ebenso im Spätherbst wird der Prozeß gegen John Demanjuk beginnen, einen Ukrainer, der Wachmann im KZ Sobibor gewesen sein soll. Früher war der US-Staatsbürger für einen Wachmann in Treblinka gehalten worden, doch wurde er 1993 in Israel freigesprochen.
Schon seit elf Jahren sitzt der mittlerweile 96jährige Erich Priebke in Rom in Haft bzw. im Hausarrest, und zwar wegen einer von ihm verantworteten, dem damaligen Völkerrecht entsprechenden Erschießungsaktion von Geiseln in Italien. Priebke hatte Jahrzehnte lang unter seinem richtigen Namen in Argentinien gelebt, ohne belangt zu werden.
2001 wurde Anton Malloth wegen seiner Tätigkeit als Aufseher in einem Gestapo-Gefängnis im heutigen Tschechien verurteilt, er starb im Oktober 2002 in Haft. Im Dezember 2004 verstarb ebenfalls im Gefängnis Josef Schwammberger, der 1992 als Kommandeur von SS-Zwangsarbeiterlagern zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Nicht zum Prozeß kam es dagegen im Fall von Milivoj Asner, einem heute 96jährigen ehemaligen kroatischen Polizeichef, dem von den österreichischen Behörden mangelnde Verhandlungsfähigkeit attestiert worden war. Das dürfte auch bei einem anderen Mann der Fall sein, der gerade in Wien im Krankenhaus liegt: dem 84 Jahre alten ehemaligen KZ-Wächter Josias Kumpf. Ein Volksdeutscher, der mit gerade 17 Jahren ungefragt zur SS dienstverpflichtet wurde und seit den 50er Jahren in Amerika lebte, arbeitete, heiratete und Kinder zeugte. 2003 kamen die Amerikaner hinter seine Vergangenheit, im März 2009 schoben sie ihn nach Österreich ab, von wo aus er 1956 in die USA ausgereist war. Auch Österreich möchte Kumpf gerne loswerden, doch kein anderes Land will ihn aufnehmen. Kumpf braucht ständige Betreuung. Als klar war, daß der Staat nicht einmal die Grundversorgung übernehmen will, ließ auch die Caritas den Schwerkranken im Stich. Nach einem Bericht des „Profil“ vom 22. Juni 2009 liegt er wieder im AKH, und niemand weiß, wo er hin soll. „Ich habe wenig Sympathien für KZ-Wächter“, zitiert das Profil einen seiner Betreuer, „aber mit diesem Menschen geht man um, als ob er Atommüll wäre.“ In Madrid bereitet derweil ein Richter einen Prozeß gegen Kumpf vor, der von Überlebenden des Lagers, zu dessen Bewachung er abkommandiert worden war, angestrengt wurde.
Andere Kriegsverbrecher sterben derweil freilich friedlich im Altersheim. Salomon Morel zum Beispiel, der in Oberschlesien als KZ-Kommandant den Tod von mehr als 1.500 unschuldigen Deutschen verursacht haben soll und, als der amerikanische Jude John Sack seine gegen ihn gerichteten Recherchen publizierte (auf deutsch 1995 unter dem Titel „Auge um Auge. Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten“ im Kabel Verlag erschienen), 1992 nach Israel floh. Die polnische Regierung forderte 1998 und 2005 seine Auslieferung wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch in diesem Fall war die Regierung Israels der Auffassung, daß die Verbrechen bereits verjährt und der Täter für eine Verhandlung schon zu alt und krank sei. Auch gegen den Literaturkritiker Reich-Ranicki sind aufgrund seiner Tätigkeit im Nachkriegs-Polen ähnliche Vorwürfe erhoben worden. Die Beweislage gegen ihn ist fast genauso „dicht“ wie gegen John Demanjuk – doch was im einen Fall für Auslieferung, Anklageerhebung und vermutlich auch Verurteilung reichen wird, das genügt im anderen Fall wohl nicht, den Genuß des Ruhestandes ernstlich zu gefährden.
Es ist also ganz offensichtlich, daß es bei diesen Prozessen nicht mehr um „Gerechtigkeit“, sondern schon um etwas ganz anderes geht. Doch um was? Behandeln wir vor Beantwortung dieser Frage noch eine andere, damit in Zusammenhang stehende Entwicklung.
Deserteure und Kriegsverräter
Rund 20.000 Personen standen wegen Desertion vor Militärgerichten, weitere 10.000 wegen Wehrkraftzersetzung und Kriegsverrat. Schon im Jahr 2002 wurden Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer pauschal durch einen Beschluß des deutschen Bundestages rehabilitiert. Nun will auch die österreichische Bundesregierung Deserteure en bloc rehabilitieren. In Deutschland ist man bereits einen Schritt weiter. Dort sollen jetzt auch alle wegen „Kriegsverrates“ Verurteilte, ohne Berücksichtigung des Einzelfalles pauschal rehabilitiert werden.
In Österreich ist eine heftige Diskussion über die Rehabilitierungen entbrannt. Insbesondere die FPÖ unter Heinz Christian Strache wendet sich dagegen und argumentiert, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Deserteure Gewalt angewendet habe. Dem entgegnet der Historiker Walter Manoschek, daß er 1.276 Fälle von Deserteuren untersucht habe, und von diesen weniger als 5 % Gewalt angewendet hätten. Doch auch eine solche Quote würde rund 60 Fälle von Gewaltverbrechern bedeuten, oder ca. 1.000 auf die Gesamtzahl umgelegt. In der „Neuen Ordnung“ haben wir bereits vor vielen Jahren den Fall Grimburg dokumentiert, der zwei seiner Vorgesetzten im Schlaf ermordete, um ungefährdet desertieren zu können, und für seine Untat nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, sondern es in der Republik Österreich sogar zum Sektionschef bringen konnte. Im von Erwin Peter herausgegebenen Buch „Stalins Kriegsgefangene“ sind sogar mehrere deutsche Soldaten auf einem Bild aus sowjetischen Archivbeständen fotografisch abgebildet, die ihre Offiziere ermordet hatten, um fliehen zu können.
Zudem sind es natürlich nicht nur die Fälle der offenen Gewaltanwendung, bei denen Deserteure das Leben ihrer Kameraden gefährdet oder vernichtet haben. Vielfach haben sie nach ihrer Desertion dem Feind gegenüber Angaben gemacht, die ihm Vorteile brachten, und somit als Verrat gegenüber den ehemaligen Kameraden zu werten sind. Diese Verhaltensweise wird sogar üblich gewesen sein, da Fahnenflüchtige, um beim Gegner gute Aufnahme zu finden, geradezu gezwungen waren, möglichst viel von ihrem Wissen über Stellungen, Truppenstärke usw. ihrer Ursprungsarmee zu verraten. Wenn Heinz Christian Strache davon spricht, daß 10–15 % der Deserteure Handlungen gesetzt haben, die direkt oder indirekt zum Tod ihrer ehemaligen Kameraden führten, so liegt er aus diesem Grund damit sicher nicht falsch.
Auch bei den „Kriegsverrätern“ weisen Historiker darauf hin, daß viele Menschen nur deshalb wegen Kriegsverrats verurteilt wurden, weil sie Juden geholfen oder Kriegsgefangene gut behandelt haben. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen, doch macht diese Gruppe mit Sicherheit nur einen kleinen Teil der „Kriegsverräter“ aus. Eine pauschale Rehabilitation erfaßt gleichermaßen jene, die auch nach heutigen Maßstäben Verbrechen begangen haben.
Aber selbst wenn man all diese Detailfragen beiseite läßt. Welches Signal geht denn von einer Rechtfertigung der Deserteure aus? Keine Armee der Welt kann ohne Gehorsam, Tapferkeit und Pflichterfüllung bestehen. Im übrigen auch kein Staat. Oskar Lafontaine hat alle auf den Begriff der Pflichterfüllung bezogenen Eigenschaften einmal als typische „Sekundärtugenden“ bezeichnet, mit denen man auch ein KZ betreiben könne. Das stimmt natürlich. Es ist mit solchen „Sekundärtugenden“ bestellt wie mit Nägeln und Draht, Holz und Beton. Man kann mit ihnen Konzentrationslager und Schinderstätten bauen. Ohne sie wird es aber auch schwer fallen, Krankenhäuser und Kindergärten zu errichten. Baumaterialien können für das eine wie das andere verwendet werden. „Sekundärtugenden“ auch. Sie sind im Prinzip wertvoll, eben tugendhaft, notwendig, bleiben aber immer Mittel. Die Zwecke, für die sie eingesetzt werden, sind ihnen übergeordnet. Diese Zwecke fließen aus dem Ethos des Staates und seiner Ordnung. Auf sie kommt es an. Ab welchem Punkt es gerechtfertigt oder gar geboten ist, sich einer staatlichen Ordnung zu widersetzen und welche Mittel von passiver Verweigerung bis hin zum aktiven Widerstand dann erlaubt sind, gehört zu den heikelsten Fragen der Ethik.
Wenn unsere Parlamente Deserteure und Kriegsverräter pauschal rehabilitieren, ihr Verhalten also rechtfertigen, kann dies nur zwei mögliche Bedeutungen haben: Entweder unsere Parlamente sind der Auffassung, daß es zu den grundsätzlichen Rechten eines Soldaten gehört, selbst zu entscheiden, wann er den Kampf einstellt, welchen Befehlen er gehorcht oder ob er sich zur Abwechslung vielleicht einmal feindbegünstigend verhält. Dieser Grundsatz müßte dann aber auch für unsere heutigen Armeen gelten. Doch das kann, wie oben ausgeführt, nicht funktionieren. Die verbleibende Möglichkeit ist, daß unsere Parlamente der Auffassung sind, jede gegen das Dritte Reich gesetzte Handlung, selbst Fahnenflucht aus Feigheit, wäre gerechtfertigt gewesen. Damit wird die große Masse der Soldaten, die nicht davongelaufen ist, sondern gekämpft hat, in der Absicht ihre Heimat zu schützen, ins Unrecht gesetzt, und moralisch diskreditiert. Sie alle haben in den Augen unserer Parlamentarier offenbar falsch gehandelt. Doch selbst wenn unsere Parlamente sagen wollen, daß im Dritten Reich der Widerstand zur Pflicht geworden wäre, ist eine pauschale Rehabilitierung rechtlich nicht vertretbar: Der Zweck heiligt nämlich nicht die Mittel. Auch wenn ein Krieg gerecht ist, können einzelne Handlungen den Tatbestand eines Kriegsverbrechens erfüllen, auch wenn in einer bestimmten Situation Widerstand gefordert ist, müssen die konkreten Widerstandshandlungen doch dem Sittengesetz entsprechen. Mord bleibt immer Mord. Doch all dies wird von den Befürwortern der Rehabilitationsgesetze gar nicht mehr gesehen, zu sehr stehen sie unter dem Einfluß des nationalsozialistischen Mythos.
Der nationalsozialistische Mythos
Unter Mythos verstehen wir eine emotional aufgeladene geschichtliche Erzählung, die unserer Gegenwart Sinn gibt, und unsere Zukunft bestimmt. Insbesondere unter dem Begriff „Auschwitz“ ist dieser Mythos des Dritten Reiches bestimmend für unsere Zeit geworden. In ihm steht Hitler-Deutschland für das absolut Böse in der Geschichte, für die Mächte des Satans selbst, der nur durch ständige Bann-Rituale ferngehalten werden kann:
Ein Mythos fordert Bekenntnis. Dieser spricht: Wer nicht gegen mich ist, der ist für mich. Raum für differenzierte Urteile, für nüchterne Analyse läßt er keinen mehr. Das Böse muß exorziert, der Teufel muß ausgetrieben werden. Jeden Tag aufs neue, um ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Auch die Prozesse gegen „Nazi-Kriegsverbrecher“, sind solche Rituale. Sie führen uns immer aufs Neue vor Augen, daß nach wie vor die guten Mächte walten, daß die Dunkelheit fern ist. Damit entsprechen sie den geweihten Kerzen, die die Bauern früher in Gewitternächten entzündeten, während die Dämonen ums Haus jagten.
Die 90jährigen Greise, die wir in Gefängniszellen sperren, und jene, die wegen „Leugnung historisch feststehender Tatsachen“ zu Haftstrafen verurteilt werden, erfüllen die Rolle von Menschenopfern, die wir darbringen, um die Dämonen der dunklen Seite zu bannen. Die Diener des Mythos werden ihre Bannrituale und Opferhandlungen auch in Zukunft fortsetzen, und zwar so lange, wie der Mythos seine Kraft behält. Unser politisches System hat seine Existenz an diesen Mythos geknüpft, in Deutschland noch viel mehr als in Österreich. Deshalb werden in der BRD unter dem Begriff „Kampf gegen Rechts“ täglich exorzistische Rituale abgehalten. Zunehmend bezieht die politische Klasse ihre Legitimation daraus. Daß sie zur Lösung der dringendsten Probleme unserer Zeit – von der explodierenden Staatsverschuldung über die steigende Arbeitslosigkeit bis hin zur Massenzuwanderung – nicht mehr in der Lage ist, hat auch etwas mit der Wirkmacht dieses Mythos zu tun. Je brüchiger der Boden wird, auf dem wir stehen, je näher die Träger des Systems seinen unvermeidlichen Zusammenbruch rücken sehen, desto schriller werden die Rituale, um den systemstabilisierenden Mythos am Leben zu erhalten.
Das Streben nach Gerechtigkeit für vergessene Opfer des Dritten Reiches stand also mit Sicherheit nicht im Vordergrund bei den jüngsten Rehabilitierungsgesetzen. Wäre es nur darum gegangen, kein Weg hätte am russischen Vorbild vorbeigeführt: Zehntausende Wehrmachts- und Waffen-SS-Angehörige sind von der stalinistischen Justiz als „Kriegsverbrecher“ abgeurteilt worden. Schon vor Jahren hat Rußland diesen Männern, bzw. ihren Familien die Möglichkeit gegeben, die Urteile im Einzelfall prüfen zu lassen. Tausende haben davon Gebrauch gemacht, und in rund 90 % der Fälle auch die Rehabilitierung bestätigt bekommen. Das sind Freisprüche, die Familien tatsächlich Frieden geben können. Die pauschale Aufhebung von Urteilen, die wiederum, wie schon in der NS-Zeit, jenen, der justifiziert wurde, weil er aus Mitmenschlichkeit z. B. Kriegsgefangenen helfen wollte, auf die gleiche Stufe mit dem echten Kameradenverräter und -mörder stellt, wird dies nicht leisten können.
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