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lundi, 03 janvier 2011

Gottfried Benn und sein Denken

Gottfried Benn und sein Denken

Bewährungsprobe des Nationalismus

Arno Bogenhausen

Ex: http://www.hier-und-jetzt-magazine.de/

benn.jpgEine neuerschienene Biographie des Dichterphilosophen gibt uns Anlaß, über das Verhältnis von nationalem Bekenntnis und geistigem Solitär nachzudenken. Gunnar Decker, der mit seiner Arbeit weit mehr bietet als Raddatz („Gottfried Benn, Leben – niederer Wahn“) und auch gegenüber Helmut Lethens gelungenem Werk („Der Sound der Väter“) einen Zugewinn erbringt, ist als Angehöriger des Jahrgangs 1965 eindeutiger Nachachtundsechziger, damit weniger befangen und im Blick getrübt als die Vorgänger. Bei ihm finden sich Unkorrektheiten wie die beiläufige Bemerkung: „Es gehört zur Natur der Politik, daß sie jeden, egal wie gearteten, Gedanken konstant unter Niveau verwirklicht.“ Dennoch sind auch für ihn Benns Berührungen mit dem Nationalsozialismus und die folgende „aristokratische Form der Emigration“ im Offizierskorps der Deutschen Wehrmacht ein Grund zu längerer Reflexion; allein drei der sechs Kapitel sind den Jahren des Dritten Reiches gewidmet.

Benns Hinwendung zum NS, die 1933 in Rundfunkreden, Aufsätzen und dem Amt des Vizepräsidenten der „Union nationaler Schriftsteller“ zum Ausdruck kam, ist unbestritten. Sie war nicht äußerer Anpassung geschuldet, sondern beruhte auf der Überzeugung, an einer historisch folgerichtigen Wende zu stehen. Der Verächter des Fortschrittsgedankens und jeder programmatischen Erniedrigung des Menschen hoffte, „daß ein letztes Mal im Nachklang ferner dorischer Welten Staat und Kunst zu einer großen, einander begeisternden Form fänden“ (Eberhard Straub). Am 23. 9. 1933 schrieb er einer Freundin in die Vereinigten Staaten, „daß ich und die Mehrzahl aller Deutschen … vor allem vollkommen sicher sind, daß es für Deutschland keine andere Möglichkeit gab. Das alles ist ja auch nur ein Anfang, die übrigen Länder werden folgen, es beginnt eine neue Welt; die Welt, in der Sie und ich jung waren und groß wurden, hat ausgespielt und ist zu Ende.“
Diese Haltung wird ihm bis heute zum Vorwurf gemacht. Es beginnt 1953 mit Peter de Mendelssohns Buch „Der Geist der Despotie“, in dem zugleich Hamsun und Jünger in Moralin getaucht werden. Sehr schön liest sich bei Decker, warum die Vorwürfe ihr Thema verfehlen: „Auf immerhin fast fünfzig Seiten wird Benns Versagen behandelt, das letztlich in seinem Unwillen gegen ein moralisches Schuldeingeständnis gründet. Das überzeugt den Leser nur halb, denn de Mendelssohn argumentiert fast ausschließlich moralisch – und da fühlt Benn sich immer am wenigsten gemeint. In diesem Buch klingt einem ein Ton entgegen, wie später bei den 68ern mit ihrer ebenso ekstatischen wie pauschalen Anklage der Vätergeneration. Oder auch – auf anderer Ebene – wie bei manchem DDR-Bürgerrechtler, dem die DDR abhanden gekommen ist und der darum aus seinem Bürgerrechtssinn eine Ikone macht, die er pflegt.“
Benn hat seinen zahllosen Interpreten, die nach Erklärungen suchten, ihre Arbeit kaum erleichtert. Tatsächlich sind weder gewundene Rechtfertigungsversuche noch tiefenpsychologische Studien, wie sie Theweleit betrieb, vonnöten, um das angeblich „Unverständliche“ zu deuten. Der Denker selbst hat 1950 in öffentlicher Ansprache eine ganz schlichte, in ihrer Einfachheit allen Theorienebel beiseite fegende Aussage getroffen: „Es war eine legale Regierung am Ruder; ihrer Aufforderung zur Mitarbeit sich entgegenzustellen, lag zunächst keine Veranlassung vor.“

Das eigentliche Problem liegt somit nicht in Benns Entscheidung, mit der er – auch unter Intellektuellen – nun wirklich nicht alleine stand, sondern in der Unfähigkeit der Verantwortlichen, mit ihr umzugehen. Klaus Mann stellte als inzwischen ausländischer Beobachter nicht ohne Befriedigung fest: „seine Angebote stießen auf taube bzw. halbtaube Ohren … Benn hört vor allem deshalb auf, Ende 1934, Faschist zu sein oder zu werden, weil es keine passende Funktion für ihn gibt im nationalsozialistischen Züchtungsstaat.“
Vom NS-Ärztebund, der diskriminierende Anordnungen erließ, über fanatische Zeitungsschreiber, die ihm ungenügende völkische Gesinnung attestierten, bis zu Funktionären, denen der Expressionismus insgesamt undeutsch vorkam, schlug ihm Ablehnung entgegen. Seine virile Unbefangenheit in sexuellen Angelegenheiten wurde ihm 1936 von einem Anonymus im „Schwarzen Korps“ verübelt: „er macht auch in Erotik, und wie er das macht, das befähigt ihn glatt zum Nachfolger jener, die man wegen ihrer widernatürlichen Schweinereien aus dem Hause jagte.“ Benn sah sich danach zu der ehrenwörtlichen Erklärung gezwungen, nicht homophil zu sein. Die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums hielt der Deutschen Verlags-Anstalt vor, „völlig überholte Arbeiten“ zu publizieren und übermittelte der Geheimen Staatspolizei, Gedichte Benns zeugten von „pathologischer Selbstbefleckung“, weshalb zu bedenken sei, „ob der Verleger nicht zur Rechenschaft gezogen werden soll“. Ein mit der „Säuberung“ der Kunst befaßter Maler-Autor warf ihm „Perversitäten“ vor, die an „Bordellgraphik und Obszönitätenmalerei“ erinnerten; es sei angebracht, seine Aufnahme in das Offizierskorps „rückgängig zu machen“. Boshafte Unterstellungen gipfelten darin, seinen Familiennamen auf das semitische „ben“ zurückzuführen und ihm eine jüdische Herkunft anzudichten. Lediglich seinem Fürsprecher Hanns Johst, der bei Himmler intervenierte, verdankte Benn, nicht mit weiterreichenden Maßnahmen überzogen zu werden.

Worum es hier geht, ist nicht die Beweinung eines „dunklen Kapitels deutscher Geschichte“. Benn selbst schrieb 1930 an Gertrud Hindemith: „Vergessen Sie nie, der menschliche Geist ist als Totschläger entstanden und als ein ungeheures Instrument der Rache, nicht als Phlegma der Demokraten, er galt dem Kampf gegen die Krokodile der Frühmeere und die Schuppentiere in den Höhlen – nicht als Puderquaste“. Die Agonalität des Lebens war ihm vertraut, und angesichts der Praxis heutiger Bürokratien, die mißliebige Geister einer durchaus größeren Drangsal überantworten, als sie ihm widerfuhr, soll auch nicht leichthin der Stab über eine „offene Diktatur“ gebrochen werden. Daß aber die einmalige Gelegenheit vertan wurde, eine Persönlichkeit dieses Grades für den neuen Staat zu gewinnen, war kaum verzeihlich. Jene Nationalsozialisten, die Benn schlechthin verwarfen, begaben sich – man muß es so hart sagen – auf das Niveau des Bolschewismus herab. In kleinbürgerlich-egalitären Horizonten und ideologisch miniaturisierten Maßstäben befangen, erkannten sie nicht, daß ihnen ein Großer gegenüberstand, dessen Werk – was immer man im einzelnen ablehnen mag – den Deutschen zur Ehre gereichte. (Dasselbe gilt für eine Reihe weiterer, die alles andere als vaterlandslose Gesellen waren, aber ins Abseits gerieten; man denke nur an George, Jünger, Niekisch, Schmitt und Spengler, von dem übrigens Benn schon 1946 schrieb, er „wäre heute genauso unerwünscht und schwarzbelistet wie er es bei den Nazis war“.)
Das traurige Bild, das der Nationalsozialismus in diesem Punkte abgab, wird besonders deutlich im Vergleich mit dem faschistischen Italien, das es verstand, die vitalen Impulse des Futurismus aufzunehmen und in seine vorbildliche Pluralität zu integrieren. Benn versuchte in mehreren Aufsätzen, die futuristische Idee auch den Berliner Staatsmännern schmackhaft zu machen. Als Marinetti, der Verfasser des Futuristischen Manifestes, in seiner Eigenschaft als Präsident des italienischen Schriftstellerverbandes Berlin besuchte und ihm zu Ehren ein Bankett gegeben wurde, hielt Benn in Vertretung für Hanns Johst die Laudatio. Doch sein Mühen blieb vergeblich. Unterlagen doch selbst die weit weniger buntscheckigen Expressionisten, um deren Bewertung zunächst noch ein innernationalsozialistischer Richtungsstreit tobte, den Dogmatikern des Volkstümlichen.
Nach der sog. „Niederschlagung des Röhm-Putsches“ schreibt Benn seinem Lebensfreund Friedrich Wilhelm Oelze: „Ein deutscher Traum, wieder einmal zu Ende.“ Später wird er die Gebrechen des nationalsozialistischen Staates so beschreiben: „Ein Volk will Weltpolitik machen, aber kann keinen Vertrag halten, kolonisieren, aber beherrscht keine Sprachen, Mittlerrollen übernehmen, aber faustisch suchend – jeder glaubt, er habe etwas zu sagen, aber keiner kann reden, – keine Distanz, keine Rhetorik, – elegante Erscheinungen nennen sie einen Fatzke, – überall setzen sie sich massiv ein, ihre Ansichten kommen mit dicken Hintern, – in keiner Society können sie sich einpassen, in jedem Club fielen sie auf“.
Dennoch schließt sich Benn nach 1945 nicht den Bewältigern an. Seine Rückschau bleibt auf wenige Anmerkungen beschränkt und verfällt zu keiner Zeit in Hyperbeln. „Der Nationalsozialismus liegt am Boden, ich schleife die Leiche Hektors nicht.“ Die von den Siegern geschaffene Nachkriegsordnung analysiert er nicht weniger beißend: „Ich spreche von unserem Kontinent und seinen Renovatoren, die überall schreiben, das Geheimnis des Wiederaufbaus beruhe auf ‚einer tiefen, innerlichen Änderung des Prinzips der menschlichen Persönlichkeit’ – kein Morgen ohne dieses Druckgewinsel! –, aber wo sich Ansätze für diese Änderung zeigen wollen, setzt ihre Ausrottungsmethodik ein: Schnüffeln im Privat- und Vorleben, Denunziation wegen Staatsgefährlichkeit … diese ganze bereits klassische Systematik der Bonzen-, Trottel- und Lizenzträgerideologie, der gegenüber die Scholastik hypermodern und die Hexenprozesse universalhistorisch wirken“.
Anwürfe seiner „jüngsten Vergangenheit“ wegen lassen ihn kalt. Einem denunzierenden Journalisten teilt er mit: „Über mich können Sie schreiben, daß ich Kommandant von Dachau war oder mit Stubenfliegen Geschlechtsverkehr ausübe, von mir werden Sie keine Entgegnung vernehmen“. Und entschuldigt hat er sich nie.

Völlig falsch wäre es, Benns Haltung gegenüber dem NS als die eines Linksstehenden begreifen zu wollen. Was ihn von parteiförmigen Nationalsozialisten unterschied, läßt sich in derselben Weise von seinem Verhältnis zu den linksgerichteten Elementen sagen: eine erhabene Position gegenüber geistiger Konfektionsware und ein Bestehen auf der ehernen Reinheit des Wortes, das nicht im trüben Redefluß der Gasse untergehen soll. Im Todesjahr schreibt er: „Im Anfang war das Wort und nicht das Geschwätz, und am Ende wird nicht die Propaganda sein, sondern wieder das Wort. Das Wort, das bindet und schließt, das Wort der Genesis, das die Feste absondert von den Nebeln und den Wassern, das Wort, das die Schöpfung trägt.“
Bereits 1929 erregte Max Hermann-Neiße mit einer Rezension in der linksgerichteten „Neuen Bücherschau“ Aufsehen, in der er Benn anläßlich des Erscheinens seiner „Gesammelten Prosa“ so charakterisierte: „Es gibt auch in dieser Zeit des vielseitigen, wandlungsfähigen Machers, des literarischen Lieferanten politischer Propagandamaterialien, des schnellfertigen Gebrauchspoeten, in ein paar seltenen Exemplaren das Beispiel des unabhängigen und überlegenen Welt-Dichters, des Schöpfers eines nicht umfangreichen, aber desto schwerer wiegenden Werkes, das mit keinem anderen zu verwechseln ist.“ In dieser Distanz zur politischen Reklame liege aber nicht – und dies ist der entscheidende Punkt – ein Mindermaß an Radikalität, sondern vielmehr eine Größe, die weit über das kleinliche Tagesgeschehen hinausgehe: „Er macht den Schwindel nicht mit. Den hurtige, auf billigen Erfolg versessene Schreiber dieser niveaulosen Epoche schuldig zu sein glauben, sich dümmer stellen, als sie sind, und mit biederer Miene volkstümlich zu reden, wenn einem der Schnabel ganz anders und viel komplizierter wuchs. Und bleibt mit einem Stil, der das Gegenteil von populär ist, zuverlässiger, weiter gehend und weiter wirkend Revolutionär, als die wohlfeilen, marktschreierischen Funktionäre und Salontiroler des Propagandabuntdrucks. Statt des gewohnten ‚kleinen Formats’ der Sekretäre eines politischen Geplänkels um Macht- und Krippenvorteile spricht hier ein Rebell des Geistes, ein Aufruhrphilosoph, der in Kulturkreisen denkt und mit Jahrhundertputschen rechnet.“ Hermann-Neißes Darstellung rief bei den Kollegen des Redaktionskollegiums, den KPD-Funktionären Kisch und Becher, Empörung hervor. Beide traten unter verbalen Kanonaden aus der Schriftleitung aus, womit sie nachträglich bewiesen, zu eben jenen zu gehören, die kritisiert worden waren.
Zu einem gleichartigen Vorfall kam es zwei Jahre später, als Benn eine Rede zum sechzigsten Geburtstag Heinrich Manns auf einem Bankett des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller hielt und wenig später einen Essay über den Literaten veröffentlichte. Obgleich er viel Lobenswertes an ihm fand, bewies er erneut seinen klaren Blick, indem er feststellte, „daß harmlose junge Leute bei ihm den Begriff des nützlichen Schriftstellers ausliehen, mit dem sie sich etwas Rouge auflegten, in dem sie ganz vergehen vor Opportunismus und Soziabilität. Beides, was für Verdunkelungen!“ Nun war es so weit: beginnend mit dem schriftstellernden Architekten Werner Hegemann wurde das Etikett des „Faschisten“ an Benns tadellosen Anzug geklebt.
Der so Entlarvte antwortete mit einem Artikel in der „Vossischen Zeitung“ und mokierte sich, ob es ein Verbrechen sei, den Dichter als Dichter und nicht als Politiker zu feiern. „Und wenn man das in Deutschland und auf einem Fest der schriftstellerischen Welt nicht mehr tun kann, ohne von den Kollektivliteraten in dieser ungemein dreisten Weise öffentlich angerempelt zu werden, so stehen wir allerdings in einer neuen Metternichperiode, aber in diesem Fall nicht von seiten der Reaktion, sondern von einer anderen Seite her.“
Noch Jahre später, als Benn im Reich schon auf verlorenem Posten stand, versäumten es marxistische Ideologen nicht, ihn zu attackieren. 1937 brachte Alfred Kurella, der es einmal zum DDR-Kulturfunktionär bringen sollte, im Emigrantenblatt „Das Wort“ seine „Entrüstung“ über Benn zum Ausdruck und stellte fest, der Expressionismus sei „Gräßlich Altes“ und führe „in den Faschismus“.
Benn hatte seine weltanschauliche Verortung schon im Januar 1933 auf den Punkt gebracht, als eine linkstotalitäre Phalanx unter Führung Franz Werfels in der Deutschen Akademie den Antrag stellte, man müsse gegen Paul Fechters „Dichtung der Deutschen“ mit einem Manifest vorgehen. (Decker hierzu: „Nimmt man heute Paul Fechters Buch zur Hand, schüttelt man erstaunt den Kopf … Das große Skandalon, den Haß, die Geistfeindschaft, den Rassismus, gegen die eine ganze Dichterakademie glaubte protestieren zu müssen, sucht man in dem Buch vergeblich.“) Damals schrieb Benn in einer eigenen Manifestation: „Wer es also unternimmt, den denkenden, den forschenden, den gestaltenden Geist von irgendeinem machtpolitisch beschränkenden Gesichtswinkel aus einzuengen, in dem werden wir unseren Gegner sehen. Wer es gar wagen sollte, sich offen zu solcher Gegnerschaft zu bekennen und Geisteswerte wie etwas Nebensächliches oder gar Unnützes abzutun, oder sie als reine Tendenzwerte den aufgebauschten und nebelhaften Begriffen der Nationalität, allerdings nicht weniger der Internationalität, unterzuordnen, dem werden wir geschlossen unsere Vorstellung von vaterländischer Gesinnung entgegensetzen, die davon ausgeht, daß ein Volk sich … trägt … durch die immanente geistige Kraft, durch die produktive seelische Substanz, deren durch Freiheit wie Notwendigkeit gleichermaßen geprägte Werke … die Arbeit und den Besitz, die Fülle und die Zucht eines Volkes in die weiten Räume der menschlichen Geschichte tragen.“
In dieser Formulierung ist Benns Verständnis der Nation als eines geistig begründeten Raumes fokussiert. Unter Berufung auf die Großen der Vergangenheit (Schiller und Herder werden namentlich genannt) plädiert er schließlich für „unser drittes Reich“, weit oberhalb der von Klassen-, Massen- und Rassenpolitik durchfurchten Ebene.
Benn dachte nach 1933 nicht daran, Deutschland zu verlassen, und seine Meinung von denen, die es taten, war nie eine gute. 1949 schrieb er an Oelze: „Wer heutzutage die Emigranten noch ernst nimmt, der soll ruhig dabei bleiben … Sie hatten vier Jahre lang Zeit; alles lag ihnen zu Füßen, die Verlage, die Theater, die Zeitungen hofierten sie … aber per saldo ist doch gar nichts dabei zutage gekommen, kein Vers, kein Stück, kein Bild, das wirklich von Rang wäre“. Noch gegen Ende seines Lebens konstatierte er in Gegenwart von Freunden, die über die Grenzen gegangen waren, Emigration sei eine ganz und gar nutzlose Sache.
1948, als alle versuchen, sich als gute Schüler der Demokratie zu erweisen, wagt er es, im „Berliner Brief“ ebendieser „Vermittelmäßigungsmaschinerie“ für die künstlerische Existenz eine Absage zu erteilen: sie sei „zum Produktiven gewendet absurd. Ausdruck entsteht nicht durch Plenarbeschlüsse, sondern im Gegenteil durch Sichabsetzen von Abstimmungsergebnissen, er entsteht durch Gewaltakt in Isolation.“ Decker kommentiert lakonisch, es handle sich um „eine feine Unterscheidung, die ihm bis heute noch keiner widerlegt hat“, und: „Da ist er wieder, der Barbar, ohne den das Genie nicht vorkommt“.
Benns Geistesverwandtschaft mit Ernst Jünger ist hier unverkennbar, wenngleich vieles in Perspektive und Stilistik (im weitesten Wortsinne) die beiden trennt. Sie korrespondieren sparsam, doch bemerkt Benn 1950, „wie sehr sich seine und meine Gedankengänge z. T. berühren“, und berichtet über einen Besuch Jüngers – den wohl längsten, den er je zuhause gestattete: „Wir tranken ganz reichlich, und dabei kamen wir uns näher und wurden offen miteinander.“ So hat Decker recht, wenn er resummiert: „Sie haben gemeinsame Themen und im Alter eine ähnlich stoische Haltung zur Welt. Sie sehen in der Parteien-Demokratie einen untauglichen Versuch, das Überleben der Menschheit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu sichern, verachten die Politik und kultivieren den Mythos als Erneuerung der Menschheit. Jüngers ‚Waldgänger’ und erst recht sein ‚Anarch’ sind Benns ‚Ptolemäer’ und dem ‚Radardenker’ verwandt.“
Der „Ptolemäer“, ein 1949 publizierter Essay, bekennt sich schon im Titel zu einem „erdzentrierten“, statischen Weltbild, dem jede Aufwärtsbewegung fremd ist. Diese treffliche Erkenntnis ist gleichwohl nicht mit Resignation zu verwechseln, sondern ruft zum Dasein nach eigenem Gesetz: „halte auch du dich in dem Land, in das dich deine Träume ziehen und in dem du da bist, die dir auferlegten Dinge schweigend zu vollenden“. Während die Masse im Strudel der Nichtigkeiten taumelt, ist es das Amt weniger, sich zu bewähren. In einer Vision des monologisierenden Sprechers findet sich das schöne Bild: „Die Orden, die Brüder werden vor dem Erlöschen noch einmal auferstehen. Ich sehe an Wassern und auf Bergen neue Athos und neue Monte Cassinos wachsen, – schwarze Kutten wandeln in stillem, in sich gekehrtem Gang.“

Als Exponent autonomen Künstlertums steht Benn beispielhaft gegen jede Art von Unterwerfung des Geistes unter politische Zwecke (was die Symbiose auf gleicher Höhe nicht ausschließt, also keineswegs eine apolitische Geistigkeit fordert). Damit ist er von der Ochlokratie unserer Tage ebenso weit entfernt wie von totalitären Systemen. „Was er nicht erträgt, ist eine falsche Gläubigkeit, die das Wesen der Kunst verkennt und diese auf ihre Nebenzwecke reduziert … Und eben inmitten von Konsum und Unterhaltung, den großen Verdurchschnittlichungsmächten, die aus der Verbindung von Kapitalismus und parlamentarischem System hervorgehen, schwindet das Wissen um diese elementare Gewalt der Kunst, die eine geistige Gegenwelt behauptet“ (Decker).
Heute ist der deutsche Nationalismus Äonen davon entfernt, die Hebel der Macht zu bedienen. Insofern stellt sich die Frage, ob er mit der Erfahrung der letzten siebzig Jahre gelernt habe, dem großen Einzelnen bedingungslose Freiheit zuzugestehen, nicht als praktische. Gegebenenfalls wird man einer geschichtlichen Verantwortung nur dann gerecht werden können, wenn nicht allein die „Banalität des Guten“ zugunsten einer „neuen deutschen Härte“ überwunden ist, sondern auch fatale Dummheiten nicht wiederholt werden – von denen Talleyrand bekanntlich gesagt hat, sie seien schlimmer als Verbrechen.

Decker, Gunnar: Gottfried Benn. Genie und Barbar, Aufbau-Verlag, Berlin 2006, 544 S., 26,90 €

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