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lundi, 28 novembre 2011

Bestandsaufnahme der deutschen Seele nach dem Jahrhundertkrieg: Joachim Fernaus „Disteln für Hagen“

Bestandsaufnahme der deutschen Seele nach dem Jahrhundertkrieg: Joachim Fernaus „Disteln für Hagen“


Geschrieben von: Martin Böcker   

Ex: http://www.blauenarzisse.de/


87132_150x217.gifWie soll sich ein deutscher Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg der Nibelungensage annähern? Darf er das überhaupt? Alter, Geschichte, Deutung und die deutschen zwölf Jahre haben sie in mehrfacher Hinsicht höchst subjektiv aufgeladen. Wenn jedenfalls ein junger Mensch sich seine Anlage zur Heldenbewunderung erlaubt, dann dürfte er mit einer gewissen Ehrfurcht diesem blonden Recken Siegfried entgegen treten, erst recht dem Hagen von Tronje, mit seinen Muskeln und den grauen Schläfen.

Als Joachim Fernau eben das getan hat, sich den Nibelungen genähert, war er kein junger Mensch mehr. Disteln für Hagen erschien 1966. Damals war der „erfolgreiche Geschichtsfeuilletonist“ (SPIEGEL) 56 Jahre alt. Im zweiten Weltkrieg wurde der in Posen Geborene und in Schlesien Aufgewachsene als Kriegsberichterstatter eingesetzt. Er arbeitete in München als Schriftsteller und freier Journalist, sein erstes Buch Deutschland, Deutschland über alles…, 1952 erschienen, war bereits ein Bestseller.

Der flapsige Blick auf die Nationalhelden

So nahm sich Fernau das Recht heraus, ziemlich flapsig über Siegfried, Hagen, Gunther, Gernot, Brunhild und die schöne Kriemhild zu berichten und darüber, was nach dem Jahrhundertkrieg noch von ihnen übrig war. Eine Bestandsaufnahme der deutschen Seele wollte er versuchen, so lautet auch der Untertitel des Buches. Er erzählt die Nibelungen-Geschichte nach, und immer wieder kommentiert er sie in „Rondos“, kurzen Zwischenstücken, in denen er die Sage aus seiner Sicht erläutert, also den „Bestand“ aufnimmt. Das ist an einigen Stellen sehr unterhaltsam. Wer die Sage noch nicht kennt, findet hier einen lesenswerten Einstieg.

Fernau schafft andererseits Distanz zwischen sich und dem ersten „deutschen“ Nibelungendichter. Der Journalist und Schriftsteller vergleicht die „deutsche“ Version der Sage mit ihren nordischen, skandinavischen und isländischen Vorgängern. So deckt er allerlei beschönigende Brüche auf, will damit der „deutschen Seele“ auf die Spur kommen. Wenn der deutsche Nibelungendichter bei der Ankunft Siegfrieds in Worms schreibt, dass die Wormser „den Herren“ entgegen liefen, weil das so „Fug und Recht“ war, dann schreibt Fernau: „Sie gafften und staunten und umkreisten die blendenden Gestalten; sie hingen mit den Blicken an den gewaltigen Pferdestärken, sie riefen sich ihre Mutmaßungen zu und waren entzückt, wenn die Fremden nur lächelten.“ Immer wieder kommt er mit diesem hämischen Spott.

Fernau der Kindskopf bläst den Staub vom ehrwürdigen Epos

dyn009_original_196_280_pjpeg_2535747_0e1f88268050c58c218e461ff5454472.jpgWenn Siegfried bei seiner Ankunft in Worms Gunther grundlos zum Duell fordert, dann bezeichnet Fernau das als „peinlich“ – so benimmt sich kein Ritter, das machen höchstens Abenteurer oder Rumtreiber. Hagens „Nibelungentreue“ wird zur „schauerlich-imposanten Geradlinigkeit“. Bei Fernau ist nichts bis wenig von diesem ehrfürchtigen Schauer zu spüren, der – so glaubt man doch als Jugendlicher – bei einem Text dieser Größe und dieses Alters angemessen wäre.

Fernaus wichtigstes Indiz in seiner Argumentation über die deutsche Seele ist die „Saalschlacht“ (besser wohl: das „Saalschlachten“) am Ende der Nibelungensage. Wie die Deutschen in den vier Jahren des ersten Weltkrieges blieb Hagen dort bis zum Ende treu. Doch was hat Hagen getan? Wer ist Hagen? Fernau gibt die Antworten: Er ermordete Siegfried, verriet Kriemhild und versenkte ihren Schatz, vernichtete die Donau-Fähre und machte so jeden Rückzug unmöglich, ermordete den wehrlosen Sohn Etzels, seines ahnungslosen Gastgeber, und traf damit eine Entscheidung über den Kopf seines Königs hinweg.

Hagens falsche Treue und ein Blick auf die Untiefen der deutschen Seele

Wer war treu, sagen Sie es mir!“ fragt der Autor – irgendwie verzweifelt und empört – in die Runde. Hagen, so impliziert der ehemalige Kriegsberichterstatter, war es nicht. Doch was fasziniert „uns Deutsche“ so an diesen gerissenen, kampfstarken, weltgewandten Helden? Was hat diese „schauerlich-imposante Geradlinigkeit“? Es ist die Idee, sagt Fernau. Der Schriftsteller schließt mit beißendem Spott: „Keiner kann der Idee so treu sein wie der Deutsche. Wo die Idee fehlt, schafft er sie. Wo das nicht möglich ist, ist er nicht treu.“

Damit glaubt Fernau, die Essenz der deutschen Seele ermittelt zu haben. Dieser Gedanke ist anziehend, so kann man ihm angesichts Luther, Marx, Wilhelm II., Hitler und den Grünen doch einiges abgewinnen. „Schreckliche Zutaten, sagen Sie? Ja, das ist wahr. Aber seien Sie ohne Sorge; wenn Sie wüssten, womit die Kuchen anderer Völker gebacken sind!“ schreibt der Journalist und Buchautor. Er wirbt für einen klaren, offenen Blick der Deutschen auf sich selbst. Nicht die Welt soll an uns genesen, sondern wir selbst. Denn die Geschichte ist sicher noch nicht zu Ende.

Joachim Fernau: Disteln für Hagen. 11. Auflage. Herbig Verlag. 224Seiten, gebunden. 6,95 Euro.

Joachim Fernau - Leben und Werk in Text und Bildern. Herausgegeben von Götz Kubitschek und Erik Lehnert. Edition Antaios. 144 Seiten, gebunden. 14 Euro.

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