vendredi, 12 février 2016
Der „Nomos“ nach 1945 bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas
Der „Nomos“ nach 1945 bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas
Carl Schmitt (1888-1985) war ein früher Zeuge des Übergangs vom nationalstaatlichen Zeitalter zu supranationalen Ordnungen. Theoretisch antwortete er mit seiner Unterscheidung des „Begriffs des Politischen“ vom Staatsbegriff: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“1, meinte er und emanzipierte dadurch die Frage nach dem „Politischen“ von der herrschenden Allgemeinen Staatslehre und dem normativen Zwang zum Staat als „Monopol der legitimen Gewaltsamkeit“. Rückblickend sah er seine „Frage nach den neuen Trägern und den neuen Subjekten des Politischen“ als einen neuen „Anfang und Ansatz“ an.2 Die Aktualität seiner politischen Theorie für eine poststaatliche und postnationalstaatliche Betrachtungsweise wurde deshalb in den letzten Jahren auch verstärkt reklamiert.3 Finden sich bei ihm aber wirklich positive Ansätze zu einem Begriff supranationaler und –staatlicher Organisation, die unsere Gegenwart erhellen? Bietet sein Werk etwa profilierte Ansätze für eine aktuelle Verfassungstheorie Europas?
Betrachtet man seine Diagnosen näher, lässt sich daran zweifeln. Schmitt hat zwar den ganzen Prozess der Formierung Europas seit „Versailles“ und „Genf“ erlebt und publizistisch begleitet. Politisch optierte er aber für eine deutsche Hegemonie in „Mitteleuropa“ und sah die Entwicklungen nach 1945 skeptisch an. Vielleicht ist sein Spätwerk heute deshalb nur noch historisch. Es verbindet seine Diagnose der Europäisierung und Internationalisierung mit einer skeptischen Gesamtbetrachtung der „Legitimität“ dieses Prozesses und bringt die „geschichtliche Legitimität“ und „Substanz“ Europas dabei geradezu in einen Gegensatz zur Europäischen Union. Wie es dies macht, soll hier eingehender gezeigt werden. Schmitts „Großraumlehre“ kann heute aber politisch wohl nur dann noch aktuell sein, wenn man sie mit einem liberalen Universalismus versöhnt, wie das Jürgen Habermas4 in „Der gespaltene Westen“ machte. Die Studie endet deshalb mit einem Ausblick auf Habermas’ Transformation von Schmitts Denken.
I. Vorüberlegungen zu Schmitts Nachkriegsdiagnose
1. Deutungspole der Forschung: Schmitt hat zum europäischen Einigungsprozess nach 1945 nur noch wenig geschrieben. Auch seine Schüler und Enkelschüler publizierten dazu überraschend wenig. Geht man auf Schmitt selbst zurück, so sind verschiedene Lesarten seiner völkerrechtlichen Überlegungen möglich: Die erste, einfachste Rezeption beschränkt sich auf Schmitts theoretische „Lehre vom Bund“. Unlängst unternahm Christoph Schönberger5 einen nuancierten Versuch, sie für eine aktuelle poststaatliche Bundeslehre fruchtbar zu machen. Schmitt selbst lehnte dekontextualisierende Fortbildungen ab und betonte die „konkrete“ Bindung seiner „Positionen“ und „Begriffe“ an die analysierte „Lage“. Seine Bundeslehre war auf die Verhältnisse vor und nach 1933 zugeschnitten. Die Schlüsselbegriffe „Großraum“ und „Reich“ bezeichnen Pole möglicher Deutung, die insbesondere Lothar Gruchmann und Andreas Koenen entwickelten.
Gruchmann6 las Schmitt Großraum-Lehre als apologetische Krönung der nationalsozialistischen Völkerrechtslehre. Mathias Schmoeckel7 bietet weitere Differenzierungen. Dieser machtanalytischen Deutung steht die starke These von Andreas Koenen8 diametral entgegen, die Schmitts Gesamtwerk in den Kontext einer katholischen Reichsideologie stellt, die Schmitt seit den frühen 20er Jahren verfochten habe. In dieser Lesart muss die Großraumlehre vom vorgängigen Reichsbegriff her gelesen und Schmitt in den Zusammenhang einer katholischen Abendland-Ideologie gestellt werden, die nach 1945 in den Europadiskurs einging. Koenens voluminöse Darstellung, ein Pionierwerk archivalischer Entdeckung des politischen Akteurs, endete zwar mit Schmitts Karriereknick und „Fall“ von 1936/37, ohne die völkerrechtliche Deutung des Zweiten Weltkriegs noch näher zu berücksichtigen, die Gruchmann untersuchte. Dennoch sind die Pole möglicher Deutung mit Gruchmann und Koenen deutlich bezeichnet.
Entweder war Schmitt ein opportunistischer Machtanalytiker, der aktuelle imperiale Entwicklungen analysierte und ihnen den Schleier eines fragwürdigen Rechtsbegriffs überwarf, oder er war ein katholischer Abendland-Ideologe, der in prinzipieller Opposition zum Nationalsozialismus stand und mit seinem katholischen „Zähmungskonzept“ scheiterte. Machtanalytik erfolgt aus der Beobachterperspektive. Gelegentlich betonte Schmitt zwar, dass er „Abstand zu jeder politischen Festlegung“ hielt und nur „den Weg unbeirrter wissenschaftlicher Beobachtung gegangen“ (SGN 453) sei. Doch als Jurist fragte er über die politikwissenschaftliche Machtanalytik hinaus nach der „Legitimität“ einer Machtordnung. Niemals argumentierte er nur als neutraler Beobachter. Stets beschrieb er die Verhältnisse in normativer Absicht aus seiner Teilnehmerperspektive. Vermutlich argumentierte er dabei nicht nur als Nationalsozialist oder als katholischer Reichsideologe, sondern hatte darüber hinaus auch noch andere Vorstellungen und Absichten. Eine Lesart geht hier von Schmitts Historisierung des Staatsbegriffs aus und sieht vor 1933 schon Tendenzen zu einem poststaatlichen Begriff des Politischen. Sie lässt eine nationalistische Deutung zu: Schmitt entwickelte demnach einen anti-etatistischen Begriff des Politischen, der der nationalistischen Bewegung entgegen kam und deshalb seit 1933 auch völkische und rassistische Konnotationen aufnahm. Vielleicht entwickelte Schmitt aber nach 1945 noch neue „politische Ideen“ von der supranationalen Nachkriegsordnung oder vom „neuen Nomos der Erde“, die gegenwärtige Probleme berühren. Die Quellenbasis wuchs in den letzten Jahren durch die Publikation nachgelassener Texte, Übersetzungen und Briefwechsel. Erst heute lässt sich deshalb ein einigermaßen umfassendes Bild von Schmitts Sicht der Bundesrepublik, Europas und der „Einheit der Welt“ nach 1945 zeichnen.
2. Bundeslehre vor 1945: Schmitts Völkerrechtsdenken geht textgeschichtlich bis auf frühe Analysen von „Versailles“ und „Genf“ zurück und dann in die „Lehre vom Bund“ ein, die im vierten Teil der „Verfassungslehre“ entwickelt wird. Zu nennen sind hier vor allem die Broschüren „Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik“ (1925) und „Die Kernfrage des Völkerbundes“ (1926) sowie später „Völkerrechtliche Großraumordnung“ (1939). 1940 stellte Schmitt die Bedeutung dieser völkerrechtlichen Arbeiten mit seiner Sammlung „Positionen und Begriffe“ heraus. Günter Maschke pointierte sie unlängst in ihrer nationalistischen Stoßrichtung gegen „Versailles“ durch seine eingehend kommentierte Ausgabe der Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik. Diese Edition ist eine der wichtigsten Herausforderungen an die aktuelle Diskussion.9
Schmitts Blick auf die völkerrechtlichen Probleme gilt zunächst dem Rheinland als „Objekt der internationalen Politik“. Schmitt kritisiert damals eine politische Instrumentalisierung des Völkerrechts und „Juridifizierung der Politik“ durch Versailles und Genf. Er fürchtet, dass die rechtliche Verschleierung der Machtverhältnisse dem „Unrecht der Fremdherrschaft“ noch einen „Betrug der Anonymität“ hinzufügt10 und das deutsche Volk darüber seinen moralisch-politischen Willen zur Selbstbestimmung verliert. Eine Gefahr sei die Verwechselung der bloßen „Stabilisierung“ des Status quo mit einem echten Frieden.11 Eine andere sei die Identifizierung des Völkerbundes mit einem bündischen „System europäischer Staaten“ (PB 89). 1928 publiziert Schmitt einen Vortrag „Der Völkerbund und Europa“, der von der „Europäisierung“ (PB 90) des Völkerbundes und aktuellen Tendenzen zur „Neubildung von Staaten und Staatensystemen“ (PB 89) ausgeht. Gerade weil er solche Tendenzen sieht, fragt er nach den Machtverhältnissen im Völkerbund und den bündischen Strukturen. Sehr drastisch formuliert er seine Problemsicht damals in einem Vortrag über „Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet“, der die „Abnormität“ (PB 98) der Entwicklungen vom Standpunkt nationaler Souveränität aus anprangert. Damals sieht Schmitt die politische Existenz Deutschlands als gefährdet an: „Denn es drängt sich jedem auf, wie sehr die Entwicklung der modernen Technik manche politischen Gruppierungen und Grenzen der früheren Zeit illusorisch macht und den überlieferten status quo beseitigt, wie sehr ‚die Erde kleiner’ wird und infolgedessen die Staaten und Staatensysteme größer werden müssen. In diesem gewaltigen Umwandlungsprozess gehen wahrscheinlich viele schwache Staaten unter.“ (PB 107 vgl. 179f). Im „Begriff des Politischen“ heißt es ähnlich warnend: „Dadurch, dass ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.“ (BP 54). Schmitt sieht damals für Deutschland nicht einmal mehr die Alternative der „Verschweizerung“ gegeben, vor der Max Weber einst gewarnt hatte: die Möglichkeit, „sich einfach aus der Weltgeschichte zu verdrücken“ (PB 107). In dieser Lage stellt er sich nicht auf den alten Standpunkt des klassischen Nationalstaats, sondern akzeptiert die Tendenzen zu bündischen Zusammenschlüssen und fragt deshalb nach der „Substanz“ der neuen bündischen Strukturen.
Schmitt stellt eine „Kernfrage“, die jede authentische Aneignung seiner Bundeslehre übernehmen muss. Er macht die „Legitimierung des status quo davon abhängig, ob der Völkerbund ein echter Bund ist“ (FP 73). „Das eben ist entscheidend für die Kernfrage des Völkerbundes: Ob er mehr ist als ein Büro, auch mehr als ein Bündnis, ob er als wirklicher Bund betrachtet kann. Ist er ein echter Bund, so legitimiert er den status quo von Versailles“ (FP 82). Einen „echten Bund“ definiert Schmitt dabei durch eine eigene „Homogenität“ oder „Substanz“. Er geht von der gegebenen Machtlage aus, vom status quo, und fragt danach, ob dessen rechtliche „Garantien“ durch eine eigene „Homogenität“ getragen sind, die Legitimität verleiht. Homogenität stiftet Legitimität. Als Vorbild nennt Schmitt den klassischen Fall der Schweiz,12 während er das Beispiel der Heiligen Allianz von 1815 ausdrücklich scheut, was erneut13 seine Distanz zum klassischen Konservatismus14 und Legitimismus belegt. Wichtig ist hier auch, dass Schmitt die mangelnde Homogenität und Legitimität des Völkerbundes am Verhältnis zu den Großmächten USA und Russland festmacht. Ein Bund sei nur dann homogen, wenn dessen bestimmende Mächte auch Mitglieder sind. Wenn dagegen wichtige Mächte wie die USA draußen bleiben – heute etwa dem Internationalen Strafgerichtshof - und dem Bund in ihrer inneren Verfassung nicht entsprechen, kann der Bund nicht selbst bestimmend sein. 1934 reklamiert Schmitt die „Rechtssubstanz des europäischen Völkerrechtsdenkens“ (FP 406) für den Nationalsozialismus. 1936 proklamiert er: „Ein echter Bund europäischer Völker kann sich nur auf die Anerkennung der völkischen Substanz gründen und von der nationalen und völkischen Verwandtschaft dieser europäischen Völker ausgehen.“ Eine Hitlerrede gibt ihm damals die „bewusste Fundierung einer neuen europäischen Ordnung“. (PB 213) Formal spricht er dafür auch von einer „politischen Idee“ und definiert Reiche als „die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt“ (SGN 295f) 1943 schreibt er noch: „Ebenso abstrakt und oberflächenhaft global sind die raum- und grenzenlosen Imperialismen des kapitalistischen Westens und des bolschewistischen Ostens. Zwischen beiden verteidigt sich heute die Substanz Europas.“ (SGN 447) Nach Schmitts Überzeugung schafft eine „politische Idee“ eine legitimierende „Homogenität“ und „Substanz“. Homogenität sei nicht gegeben, sondern aufgegeben und erzeugt. Schmitt formuliert diese politische Idee nicht nur nationalsozialistisch affirmativ, sondern auch polemisch: „Großraum gegen Universalismus“. Ein Bund ist ihm ein homogenes politisches Gebilde, das sich durch eine Idee politische Aufgaben gibt und in Spannung hält und dadurch selbst legitimiert. Ein rein wirtschaftlich oder technisch integriertes Gebilde dagegen sei kein „echter“, politischer Bund.15
3. Publizistische Reserven nach 1945: Schmitts publizistischer Schwerpunkt liegt nach 1945 fast ganz auf der Frage nach dem „neuen Nomos der Erde“. Schmitt zog sich damals weitgehend auf völkerrechtliche Fragen zurück und nahm zur Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik kaum mehr öffentlich Stellung. Er beschränkte sich auf eine Rolle als Stichwortgeber an seine Schüler, die Frieder Günther16 aus den Quellen eindrücklich rekonstruierte. Der verfassungstheoretische Gegensatz der juristischen Schulen Schmitts und Smends prägte zwar den verfassungsrechtlichen Diskurs der frühen Bundesrepublik. Schmitt selbst aber griff in diesen Schulstreit nur noch zurückhaltend ein. In der Bundesrepublik konnte man bei Lebzeiten kaum lesen, was er über die Bundesrepublik dachte. Erst mit Öffnung der Nachlässe – Günthers Studie stützt sich nicht zuletzt auf denjenigen Roman Schnurs - und dem Erscheinen erster Briefwechsel mit Schülern und Freunden klärt sich das Bild. Grundsätzlich sah Schmitt die Bundesrepublik negativ. So schrieb er 1960: „Die Situation Deutschlands ist heute entsetzlich, viel schlimmer als die meisten ahnen, weil sie sich vom Wirtschaftswunder blenden lassen. Ich leide als alter Mann schwer darunter und fühle wahre Kassandra-Depressionen.“17 Ähnliche Formulierungen finden sich im „Glossarium“ und in den Briefwechseln vielfach. Mit öffentlichen Äußerungen aber hielt er sich nun zurück. Symptomatisch ist schon, dass er seine wichtigsten Bemerkungen zur frühen Bundesrepublik nur als Glossen zur Publikation älterer verfassungsrechtlicher Aufsätze notierte, während er sich im privaten Gespräch und Briefwechseln18 offener zeigte. Seine grundsätzliche Kritik an der „Tyrannei“ des bundesrepublikanischen „Wertdenkens“ veröffentlichte er zunächst nur als Privatdruck, der in eine Festschrift für Forsthoff einging und damit halböffentlich an seinen „Kreis“ adressiert war.
Schmitt verwies auf sein Alter und seine abnehmenden Kräfte. Er rechnete mit einer biblischen Lebensgrenze von 70 Jahren19 und machte deshalb seit den 60er Jahren auch „keine langfristigen Pläne“20 mehr. Zwar verstarb er erst 1985 im hohen Alter; doch nach seiner „Theorie des Partisanen“ publizierte er nur noch wenige verfassungsrechtliche Gegenwartsanalysen. Ausdrücklich meinte er: „Ich muss alle Arbeit meinen jüngeren Kollegen überlassen.“21 Verweise auf Lektüren traten an die Stelle eigener Erläuterungen. Schmitt konzipierte damals einen Abschluss seines Werkes. In diesem Zusammenhang steht die „Selbst-Edition“22 der „Verfassungsrechtlichen Aufsätze“. Der spekulative Aufsatz über „Nomos, Nahme, Name“ sollte dann sein „letzter Aufsatz“23 sein. Die letzte Monographie „Politische Theologie II“ war Jahre später eine autoritative Leseanweisung, eine „Legende“ zur politisch-theologischen Interpretation. Nur die „Theorie des Partisanen“ scheint als „Zwischenbemerkung“ aus diesem Werkabschluss herauszufallen. Damals hatte sich das neue „Kerneuropa“ gerade erst formiert und die heutige Größe und Bedeutung der EU war noch kaum abzusehen. Schmitts publizistische Zurückhaltung nach 1945 war eine literarisch bewusste Autorstrategie. Die Gründe für sein relatives Desinteresse an der Bundesrepublik und der frühen EU resultieren aber auch grundsätzlichen Zweifeln am politischen Charakter dieser neuen Gebilde.
Schmitts Distanz zur Bundesrepublik korrespondierte damals viel Sympathie für Francos autoritäres Spanien, das man vielleicht seine damalige Wahlheimat nennen könnte. Die Annäherung an Spanien bestand vor 1933 schon und wurde nach 1945 noch durch familiäre Bindungen – Schmitts einzige Tochter Anima heiratete nach Spanien – verstärkt. Die Briefwechseln mit Lúis Cabral de Moncada und Álvaro d’Ors belegen aber auch Distanz zum katholischen Naturrecht. Schmitt akzeptierte die neuzeitliche Ausdifferenzierung von Theologie und Jurisprudenz und den Schweigebefehl der Juristen an die Theologen (vgl. ECS 70ff) und wollte das Recht nicht „in die Bürgerkriegsparolen des Naturrechts“ (VRA 418) werfen. Politisch fürchtete er die Vereinnahmung jedes metapositiven Rechts durch die revolutionäre Linke. „Alle sind auf dem Weg nach Moskau. Das zum Thema Legitimität“,24 meinte er. Spanien verbürgte ihm damals aber noch die Möglichkeit einer Alternative, die den Gegner im Bürgerkrieg bezwang: die stete Möglichkeit eines anderen Europa gegenüber der radikalen Verwestlichung und Demokratisierung.25
Schmitts Europakonzeption ging deshalb auch nicht in der EU auf. Schmitt kannte ein anderes Europa und hielt an dessen Möglichkeit fest. Wenn er nach 1945 auch das politische Projekt der EU publizistisch kaum noch begleitete, schwieg er dennoch nicht über Europa. Das klingt schon in Titeln an. 1950 erscheinen das rechtsgeschichtliche Hauptwerk „Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publikum Europaeum“, das autobiographische Bekenntnisbüchlein „Ex Captivitate Salus“, die „Aufsatzsammlung „Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation“ sowie „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“. Drei dieser Publikationen tragen den Namen Europas schon im Titel. Zwei davon blicken auf die europäische Geschichte im Spiegel der Rechtswissenschaft zurück; eine weitere erörtert die politisch-theologische Bedeutung einer „gesamteuropäischen Interpretation“ im identifikatorischen Spiegel des Donoso Cortés. Der Rückblick auf die europäische Geschichte und die Besinnung auf die „gesamteuropäische Interpretation“ war Schmitts Ausgangspunkt für die Analyse der Nachkriegsentwicklung.
II. Positive Antworten nach 1945?
1. Ansätze zur Weiterführung der Frage nach dem „neuen Nomos der Erde“: Entstehungsgeschichtlich geht „Der Nomos der Erde“ auf die Kriegsjahre vor 1945 zurück. Die materialen Analysen zur Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts, die spekulativen Überlegungen zum Verhältnis von „maritimer Existenz“ und Industrialisierung und auch der Rechtsbegriff von der Einheit von „Ordnung und Ortung“ finden sich vor 1945 schon in anderen Publikationen. Lediglich die „christliche“ Durchführung ist nun neu.
„Der Nomos der Erde“erörtert die Entstehung und Auflösung des neuzeitlichen europäischen Völkerrechts. Schmitt definiert das Recht einleitend erneut als „Einheit von Ordnung und Ortung“ (vgl. NE 13ff, 48, 157). Die „Ortung“ benennt den Raumaspekt des Rechts: Recht gilt nur im Rahmen einer räumlich begrenzten, effektiven Machtordnung: einer „Raumordnung“, sagt Schmitt. Völkerrechtsgeschichte ist in besonderem Maße politische Geschichte. Es liegt deshalb nahe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte unter dem Gesichtspunkt ihrer hegemonialen Trägermacht zu unterscheiden.26 Schmitts Machtgeschichte des Völkerrechts befürwortet ein Gleichgewichtssystem mehrerer Großmächte gegenüber einer Hegemonialverfassung des Völkerrechts (vgl. NE 120, 160f, 164). Eine Besonderheit kennzeichnet dabei seinen Ansatz gegenüber einer reinen Machtgeschichte: Schmitt beschreibt die Weltgeschichte Europas und Globalisierung seines Rechts als Europas „Entortung“ (NE 149, 298) und „Entthronung“ aus der sakralen „Mitte der Erde“ (vgl. NE 188, 199, 206, 212, 255). Dabei konzentriert er sich in Fortsetzung früherer Diagnosen auf den Aufstieg der USA zur führenden Großmacht, den er historisch mit einem von England ausgehenden Übergang von einem „terranen“ zu einem „maritimen“ Rechtsdenken verbindet. In differenzierten Analysen führt Schmitt aus, dass das „maritime“ Rechtsdenken nicht die „Hegung“ (vgl. NE 69, 112ff.) des Feindbegriffs und Kriegsrechts kennt, die er als „Rationalisierung und Humanisierung“ des klassischen Völkerrechts auszeichnet. Die Auflösung des Jus Publicum Europaeum führte deshalb zu einem „Sinnwandel“ (NE 232ff, 270ff) der Anerkennung und des Krieges. Der Aufstieg der USA zerstörte den gemeineuropäischen, von der wirtschaftlichen Marktordnung bestimmten „Verfassungsstandard“ (vgl. NE 170ff, 181ff) des europäischen Gleichgewichtssystems, ohne einen neuen Nomos zu etablieren. „Der Nomos der Erde“ lässt sich deshalb 1950 als eine spekulative Endgeschichte des Abendlandes im Spiegel der Völkerrechtsgeschichte lesen. Diese endgeschichtliche Lesart bestärken damals auch die kleineren Publikationen „Ex Captivitate Salus“ und „Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation“.
Schmitt meidet nach 1945 zunächst eine positive Antwort auf die Frage nach einem „neuen Nomos“ und betont nur die Bedeutung der „Frage nach der großen Frage“ (SGN 559). So versucht er in „Nehmen / Teilen / Weiden“ „die Grundfrage jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zustellen“: also die „Frage“ richtig zu stellen. So schreibt er im Festschriftbeitrag für Ernst Jünger, der methodologische Überlegungen zum „geschichtlich-dialektischen Denken“ entwickelt: „Leider ist es nur allzu natürlich, dass die Menschen auf den neuen Anruf mit der alten Antwort reagieren, weil diese sich für eine vorangehende Epoche als richtig und erfolgreich erwiesen hat. Dies ist die Gefahr“ (SGN 544). Immer wieder beschwört er, eine geschichtliche Antwort sei „nur einmal wahr“ (VRA 415; SGN 563). Es komme deshalb darauf an, den aktuellen „Anruf der Geschichte“ richtig zu verstehen. Schmitt insisitiert hier, mit Nähen zur damaligen Philosophie (Gadamer), auf der Hermeneutik der Frage und scheut positive Aussagen zum „neuen Nomos“. Schmitt weist eine schnelle Auffassung des Ost-West-Gegensatzes als echte politische Systemalternative zurück.
Dennoch finden sich Ansätze zu einer positiven Beantwortung der „Frage eines neuen Nomos der Erde“, weshalb „Der Nomos der Erde“ auch nicht apokalyptisch gelesen werden muss. Ausgangspunkt ist die Diagnose der Entstehung und Auflösung des neuzeitlich-europäischen Völkerrechts: der Zerstörung des „Gleichgewichts“ der europäischen Mächte und „Substanz“ durch den Aufstieg der „westlichen Hemisphäre“. Schmitt bedenkt diesen Prozess amerikanischer Übernahme der Hegemonie im letzten Teil des „Nomos der Erde“ unter dem Titel „Frage eines neuen Nomos der Erde“. Er formuliert einen Genitivus Subjektivus: Nicht der Wissenschaftler fragt nach dem Nomos, sondern die Geschichte selbst stellt eine Frage, auf die der Mensch, in der „Frage nach der großen Frage“, antworten soll: „Die Frage selbst ist ein geschichtliches Ereignis, aus dem durch die konkrete Antwort von Menschen weitere geschichtliche Dispositionen erwachsen“. Indem die Menschen den „Ruf der Geschichte“ vernehmen, wagen sie sich, so Schmitt, in die große „Probe der Geschichtsmächtigkeit“ hinein und stehen in einem „Gericht“. (SGN 534) Diese Formulierungen lassen die geschichtstheologische Auslegung zu,27 dass „die Geschichte“, als Plan Gottes, selbst Akteur ist. Es klingt aber selbstwidersprüchlich, dass der Nomos die Frage nach seiner Existenz stellt. Denn wie kann er seine Existenz bezweifeln? Schmitt bestreitet, dass die westliche Hemisphäre einen neuen Nomos trägt, und sucht nach Alternativen. Er beschränkt sich nicht auf methodologische Bemerkungen zur Bedeutung der Frage, sondern gibt auch Ansätze zu einer positiven Antwort.
Nach 1945 konstatiert er zunächst eine Einigkeit und „Einheit der Welt“ in der Fortschrittsideologie eines geschichtsphilosophischen Planungs-Utopismus. Diese Auflösung des politischen Dualismus in eine ideologische Einheit betrachtet er aber nicht als echte, politische Lösung, weil er jeden Nomos als politisches „Pluriversum“ auffasst, das in Alternativen besteht. Deshalb hält er nach 1945 auch an der „Möglichkeit einer dritten Kraft“ (SGN 500) fest und spricht zunächst noch vom „deutschen Vorbehalt“ einer „tiefer gegründeten Weltsicht“ (SGN 512). Ein echter Nomos der Erde ist nach Schmitt nur als „Gleichgewicht“ mehrerer „Großräume“ möglich. Seine Frage lautet deshalb nach wie vor: „Großraum oder Universalismus“? Die Möglichkeit eines neuen politischen Pluriversums, das eine Gleichgewichtsordnung trägt, bindet er auch an die Frage nach der „dritten Dimension“ des Luft- und Weltraumes. Auch der „Aufbruch in den Kosmos“ sei nur eine Ausflucht vor der Aufgabe politischer Verteilung und Ordnung der „Erde“ (SGN 569). „Die neuen Räume, aus denen der neue Anruf kommt, müssen sich deshalb auf unserer Erde befinden“ (SGN 568), schreibt Schmitt.
Seine analytisch eingehendste Betrachtung der politischen Nachkriegsordnung ist der Vortrag „Die Ordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg“, den Schmitt 1962 in Madrid hielt und bei Lebzeiten nur in einer spanischen Fassung publizierte. Nur hier verknüpft er seine Überlegungen auch mit der Entwicklung der UNO. Sein Ausgangspunkt ist die Dekolonialisierung und der „Antikolonialismus“ nach 1945, den Schmitt als „Propaganda“ und „Reflex“ der Zerstörung der alten, europäischen Raumordnung betrachtet. Diese „anti-europäische Propaganda“ begann „leider“, betont Schmitt, als „inner-europäische Kampagne“ (SGN 594). Gegenstück sei der „Nomos des Kosmos“ (SGN 595): „Der Anti-Kolonialismus ist nichts anderes als die Liquidierung einer historischen Vergangenheit auf Kosten der europäischen Nationen. Die Eroberung des Kosmos hingegen ist pure Zukunft“ (SGN 596), schreibt Schmitt. Dazwischen sei der gegenwärtige „Nomos der Erde“ zu suchen. Schmitt nähert sich ihm mit Überlegungen zum Kalten Krieg als „Teil des revolutionären Krieges“. Er rekapituliert hier Überlegungen zur Wiederkehr der Lehre vom „gerechten Krieg“. Deutlicher benennt er nun aber „drei Stadien des Kalten Krieges“ und kennzeichnet die Gegenwart dabei durch ein „pluralistisches Stadium“, in dem sich eine „erstaunliche Zahl neuer afrikanischer und asiatischer Staaten“ (SGN 602) der dualistischen Struktur des Ost-West-Gegensatzes nicht mehr fügten und die UNO zum Forum der politischen Organisation einer „dritten Front“ nutzten. In der „Theorie des Partisanen“ nennt er an dieser Stelle dann China und Maos „pluralistische Vorstellung eines neuen Nomos der Erde“ (TP 62).
1978 meint er: „Der Impuls zu überstaatlichen Räumen der industriellen Entwicklung hat bisher noch nicht zur politischen Einheit der Welt, sondern nur zu drei etablierten Großräumen geführt: USA, USSR und China.“ (FP 927)28 Die große Bedeutung dieser Bemerkungen innerhalb des Werkes liegt darin, dass Schmitt hier erstmals die Rolle des politischen Opponenten und Garanten des politischen Pluriversums von Deutschland an andere „Staaten“ übergibt. Dezidiert spricht er nun von einer „pluralistischen“ Verfassung der Welt und verlegt die Frage nach dem neuen Nomos der Erde dabei auf das Problem der Entwicklungshilfe: „Wenn Sie mich nun jetzt [...] fragen, was heute der Nomos der Erde sei, kann ich Ihnen klar antworten: es ist die Verteilung der Erde in industriell und und weniger entwickelte Zonen, verbunden mit der unmittelbar folgenden Frage nach demjenigen, der sie nimmt. Diese Verteilung ist heute die wirkliche Verfassung der Erde“ (SGN 605), schreibt Schmitt. Er denkt hier, auch mit Verweis auf die „Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft“, nicht nur an die politische Gefügigkeit, mit der Entwicklungsländer die Hilfe erkaufen, sondern auch an die politische Kompetenz der „unterentwickelten Regionen und Völker“, ihre Bedeutung im Ost-West-Gegensatz auszuspielen und Ost und West zu erpressen. Mit der Entwicklungshilfe benennt Schmitt ein schwaches Instrument wirtschaftlicher Intervention. Sein allgemeiner Befund, dass West und Ost wirtschaftlich in unterentwickelte Regionen intervenierten und so die politische Unabhängigkeit dieser „dritten Front“ erodierten, ließe sich heute noch stärker formulieren.
2. „Superlegalität“ als Motiv: Ausführlicher als in diesem Vortrag beantwortet Schmitt die Frage eines neuen Nomos der Erde wohl nirgendwo. In seinem letzten größeren Aufsatz, 1973 geplant und erst 1978 anläßlich des 90. Geburtstags erschienen, bringt er die Entwicklung aber noch auf den Begriff der „legalen Weltrevolution“ und betrachtet diese Revolution dabei, laut Untertitel, als einen „politischen Mehrwert“, als „Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität“. Der Bezug auf die Schrift „Legalität und Legitimität“ von 1932 ist deutlich. Schmitt überbietet sie nun durch die hyperbolische Rede von „Weltrevolution“ und „Superlegalität“ und blickt dabei ausführlich auf „Hitlers legale Revolution von 1933 bis 1945 als Präzedenzfall“ zurück. Der Text mischt Gegenwartsanalyse mit historischem Rückblick und ist in seiner zentralen Aussage nicht leicht zugänglich. Er wird deshalb als Schlusswort bislang auch kaum zur Kenntnis genommen. Dennoch bringt Schmitt hier seine Nachkriegssicht noch auf einen Punkt.
Schmitt geht von einem Buch des „spanischen Berufsrevolutionärs“ Santiago Carillo über den Eurokommunismus aus, das die legale Revolution als revolutionäres Mittel „für einen Durchbruch aus einem bäuerlichen Agrarland in eine moderne, d.h. industrielle Gesellschaft“ (FP 920) preist. Zeitgeschichtlicher Hintergrund ist die Transformation Spaniens nach Franco, über die sich Schmitt damals häufiger mit Álvaro d’Ors austauscht. In seinem Aufsatz rekapituliert er zunächst seine Terminologie zu „Legalität“ und „Legitimität“ und zur „politischen Prämie“ auf den legalen Machtbesitz. Er übernimmt dann von Maurice Hauriou den Begriff der „Superlegalität“ für die „verstärkte Geltungskraft bestimmter Normen“ und kommt auf die modernen „Fortschritts-Ideologien als treibende Motive der Superlegalität“ zu sprechen. In der legalen Weltrevolution wird der ideologisch überspannte Glaube an die „Legalität“ zu einer revolutionären Macht. Schmitt verbindet seine Überlegungen zur geschichtsphilosophischen „Einheit der Welt“ nun mit einer Kritik der Industrialisierung: „Heute geht es um das der wissenschaftlich-technisch-industriellen Entwicklung adäquate politische System der Gesellschaft: liberal-kapitalistisches, sozialistisch-kommunistisches oder liberal-sozialistisches System mit den jeweiligen Methoden der Beschleunigung (oder nötigenfalls der Aufhaltung) des industriellen Fortschritts.“ (FP 926) Die gegenwärtige „planetarische Industrienahme“ visioniert er als Ende der Politik in der Einheit der Welt: „Die Weltpolitik kommt an ihr Ende und verwandelt sich in Weltpolizei – ein zweifelhafter Fortschritt.“ (FP 926)
Schmitt blickt dann in die Geschichte zurück und behandelt Frankreich nach 1871 und das Deutsche Reich nach 1919 als „zwei präfaschistische Modelle der Superlegalität“. Dann behandelt er „Hitlers legale Revolution von 1933 bis 1945“ als „Präzedenzfall“ der Weltrevolution. Dabei betrachtet er den nationalistischen „Revanchismus“ nach Versailles als die „eigentliche Triebkraft der Hitlerschen Erfolge“ (FP 931). Die Antwort des Grundgesetzes, das „Tor der Legalität“ für verfassungsfeindliche Parteien „völlig zu verschließen“, nennt er einen Weg der „Superlegalität“ und nimmt sie so in den Prozess der legalen Weltrevolution hinein. Resultat sei die Formierung der „Menschheit als politisches Subjekt und Träger einer verfassunggebenden Gewalt“. Ausführlich kommt Schmitt hier auf ein Scheitern der EU zu sprechen: „Dem Fortschritt zur legalen Weltrevolution läuft kein politischer Wille zur politischen Einheit Europas oder gar zu einer Europäischen Revolution parallel“, meint er. „Wer sich in die über tausend Seiten des Standardwerks ‚Europäisches Gemeinschaftsrecht’ von H. P. Ipsen (Tübingen 1972) vertieft [...], den wird eine tiefe Trauer befallen. Die weltpolitischen Kräfte und Mächte, die um die politische Einheit der Welt kämpfen, sind stärker als das europäische Interesse an der politischen Einheit Europas.“ (FP 932) Schmitt sieht die politische Entwicklung Europas in der Fortschrittsideologie der Superlegalität, der forcierten ideologischen Universalisierung bestimmter Verfassungsideale untergehen. Hier wird einmal deutlich, dass der Festlegung auf China als alternativer, dritter Kraft eine klare Absage an die EU als Motor einer alternativen politischen Großraumbildung korrespondiert.
Wenn Schmitt bedauernd von einer fehlenden europäischen Revolution spricht, meint er keine legale, sondern eine legitime Revolution: eine politische Verfassungsentscheidung, die nicht durch die bestehenden Formen der Legalität korrumpiert wäre. Schmitt pointiert die „Superlegalität“ der Weltrevolution gegen eine „andere Art Legitimität“, auf die er weiter hofft, deren Möglichkeit er aber durch die herrschende Legitimität der Legalität gefährdet sieht. Immer wieder kritisierte er das „Legalitäts-Monopol des Gesetzesstaates“ (VRA 412) und die „Aufspaltung des Rechts in Legalität und Legitimität“ (VRA 422, 424, vgl. VRA 448ff), die Legitimität in Legalität und diese Legalität in eine technisch-funktionale Waffe des politischen Kampfes verwandelt habe. Der Gesetzgebungsstaat habe seine Legalität derart als Legitimitätsquelle monopolisiert, dass sich keine andere Art Legitimität mehr abzeichne. Warnend schreibt Schmitt: „Unsere vorliegende Analyse der Möglichkeit einer legalen Weltrevolution betrifft die Legalität, nicht die Legitimität einer Welt-Revolution.“ (FP 920) Immer wieder beschwört er das „Problem der Legalität“, dass die Legalität als einzige Legitimitätsquelle erscheint. „Legitimität erscheint dann als eine Art höherer Legalität“. (FP 923)
Schmitt sieht das politische Projekt der Europäischen Union nach 1945 also nicht als echte Alternative an. Mit der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg findet er in Europa keinen starken Träger eines alternativen politischen Willens mehr, Mitteleuropa als Großraum gegen den technizistischen Universalismus in Ost und West zu behaupten. Nur das autoritäre Spanien sei noch ein Erbe und Hüter der „geschichtlichen Legitimität“ und „Substanz“ des alten Europa. Machtpolitisch habe Europa ausgespielt, weil es keine Systemalternative zum ökonomisch-technischen „Fortschritt“ mehr formulierte. Wer sich auf die herrschende Legitimität der Legalität als Mittel der Revolution einlässt, hat nach Schmitt schon verloren. Deshalb entfallen ihm nach 1945 auch die historischen Alternativen des Faschismus und des Marxismus.
Bei diesem Befund scheint es eher unwahrscheinlich, dass das Spätwerk noch Anregungen für eine aktuelle Verfassungstheorie Europas bietet. Schmitt analysiert den Prozess der „Entthronung“29 Europas und sieht im damals langsam fortschreitenden und oft blockierten Einigungsprozess keine wirkliche Kraft zur alternativen Verfassungsgestaltung und Großraumordnung mehr. Er setzt seine Erwartungen an eine Verfassungsalternative derart fundamental an, dass schon die Angleichung der Wirtschaftsverfassung an den Westen jede Systemopposition ausschließt. So lehrt das Spätwerk zunächst, wie fundamental Schmitt die Idee der Verfassungsalternative verstand. Er betrachtet die EU gar nicht als echte Alternative. Buchstäblich kann er den EU-Prozess institutionell kaum noch anregen, weil die fundamentalen politischen, ökonomischen und kulturellen Eckdaten der Europäischen Union heute nicht zur Disposition stehen. Wer das politische Projekt Europas an einen Ausstieg aus dem Wirtschaftsliberalismus bindet und der Demokratisierung derart skeptisch gegenübersteht, kann allenfalls den Blick für Widerstände und Hemmnisse der Europäisierung schärfen.
III. Aktualisierung mit Habermas
Was würde Schmitt heute wohl über die EU denken? Vermutlich würde er seltene Perlen der osteuropäischen Geistesgeschichte ausgraben, die den EU-Prozess hinsichtlich seiner kulturellen, ökonomischen und politischen Kosten skeptisch beleuchten. Der EU-Prozess der 60iger und 70iger Jahre, den Schmitt noch wahrnahm, gab ihm wenig Vertrauen in ein politisches Europa. Den Großraum, der das politische „Pluriversum“ garantiert, suchte er zuletzt jenseits Europa. Sein spätes Interesse für die Dekolonialisierungsprozesse, für China und die globale „Verteilung“ der Industrialisierung ist bemerkenswert. Schmitt ahnte schon, dass Europas geschichtliche Stunde im imperialen Wettlauf abzulaufen scheint und die Auseinandersetzungen heute nicht nur zwischen Europa und den USA geführt werden. Neue weltpolitische Akteure wie China und Indien treten auf, die die Dominanz der USA gefährden. Die Entwicklungen nach dem 11. September 2001 konzentrieren unseren Blick auf die Auseinandersetzung des Westens mit dem islamistischen Weltterrorismus.30 Die „Theorie des Partisanen“ ist hier Schmitts aktuelle Grundschrift. Daneben wurden in den letzten Jahren aber noch Probleme der Industrialisierung Asiens und des weltpolitischen Auftritts neuer Akteure virulent. Schmitt ahnte diese Folgen globaler Industrialisierung. Freilich sah er sie im politischen Rahmen des „Weltbürgerkriegs“ vor 1989. Immerhin fragte er ausdrücklich danach, was „das der wirtschaftlich-technisch-industriellen Entwicklung adäquate politische System“ sei. Wer diese Frage heute mit dem bloßen Hinweis auf „Demokratie“ oder den westlichen Verfassungsstaat beantwortet, schaut nicht genau genug hin. Wir sehen heute, wie der liberaldemokratische Verfassungsstandard politisch und ökonomisch unter Druck gerät. Die Berliner Republik ist nicht mehr die alte Bonner Bundesrepublik. So erahnte Schmitt aktuelle Entwicklungen jenseits der Spannung von Europa und den USA noch. Sein Spätwerk wird allerdings oft auf die Monographien „Nomos der Erde“ und „Theorie des Partisanen“ verkürzt, wobei die Diagnose der „Entthronung“ Europas oder die Kritik am imperialen Stil der US-Völkerrechtspolitik im Vordergrund stehen.
Eine überraschend positive Aufnahme findet Schmitts Großraumtheorie jetzt bei Jürgen Habermas, der seine früheren Überlegungen zur politischen Theorie nun durch eine deutliche Absage an den „Weltstaat“ und Überlegungen zu einem komplexen „Mehrebenensystem“ der internationalen Politik präzisierte.
Ein Einfluss von Schmitt auf Habermas wurde wiederholt diskutiert. Er lag in der Frankfurter Luft. Schmitt war so etwas wie ein Hausjurist der Kritischen Theorie und Frankfurter Schule. Otto Kirchheimer und Franz Neumann, Ernst Fraenkel und Walter Benjamin hatten alle vor 1933 ihren Schmitt gelesen. Kirchheimer hatte bei Schmitt promoviert; er und Neumann trafen Schmitt in Berlin häufiger. Dessen politische Betrachtung des Rechts und der „Volkssouveränität“ war ihnen für die Ausarbeitung einer sozialistischen Rechtstheorie interessant. Früh kritisierte Kirchheimer31 allerdings Schmitts „Begriffsrealismus“, worunter er eine geschichtsphilosophische Überspannung juristischer Kategorien verstand. Neumann32 adaptierte Schmitts rechtstheoretische Diagnose einer Auflösung des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs dann auch für seine Beschreibung des nationalsozialistischen „Behemoth“. Seitdem gab es einen juristischen Links-Schmittismus, dem Habermas in Frankfurt begegnete.
Kirchheimer, Neumann und Fraenkel waren Schmitt nicht unkritisch gefolgt. Sie hatten ihn politisch wie rechtstheoretisch abgeklärt rezipiert, so dass Berührungsscheu nach 1949 nicht nötig schien. Aus dem „Fall“ Schmitt ließ sich deshalb auch kein „Fall“ Habermas machen. Der von Ellen Kennedy33 formulierte Verdacht lautete dennoch vereinfacht gesagt, dass Habermas von seinen frühen politischen Schriften bis in die Deutung der „Friedensbewegung“ der 80er Jahre hinein um den Preis ideologischer Verblendung von Schmitt beeinflusst war. Habermas’ Replik „Die Schrecken der Autonomie“ grenzte den eigenen, kommunikationstheoretisch entwickelten Begriff der „normativen Grundlagen der Demokratie“ von Schmitt ab. Demnach hält Habermas nicht Schmitts Liberalismuskritik für fruchtbar, sondern dessen Überlegungen zu den normativen Grundlagen der Demokratie. Er schreibt:
„Aber man muss nicht, wie Carl Schmitt und später Arnold Gehlen, einem Hauriouschen Institutionalismus anhängen und an die stiftende Kraft von Ideen glauben, um der legitimierenden Kraft des Selbstverständnisses einer etablierten Praxis eine nicht unerhebliche faktische Bedeutung beizumessen. In diesem trivialeren Sinn kann man das Interesse an den geistesgeschichtlichen Grundlagen der parlamentarischen Gesetzesherrschaft auch verstehen“34.
Die Kontroversen führten zu der Klärung, dass Habermas Schmitts polemischer Trennung von Liberalismus und Demokratie nicht folgte.35 Damals arbeitete Habermas seine Diskurstheorie weiter aus. In den 90iger Jahren konnte er dann deren Konsequenzen für die praktische Philosophie ziehen. So half ihm die Kontroverse auch, seine Rechtstheorie und politische Theorie weiter zu entwickeln. Deshalb wuchs die Bedeutung von Schmitts Verfassungslehre für Habermas noch. Seine Diskurstheorie des Rechts36 antwortet auf Schmitts Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie mit der Darstellung eines „internen Zusammenhangs“ zwischen der demokratischen Volkssouveränität und den liberalen Menschenrechten. Ähnlich wie Schmitt knüpft Habermas37 zwar die normative Geltung rechtssoziologisch an eine politische „Normalität“, wobei er den Normalzustand stärker an normative Standards rückbindet. Neuere Studien zur politischen Theorie machen dann aber die grundsätzliche Distanz zu Schmitts Verfassungslehre sehr deutlich. Habermas kritisiert heute Schmitts nationalistische Auslegung der Demokratie und spricht von einer „Substantialisierung des Staatsvolkes“ zur „Gleichartigkeit von Volksgenossen“.38 Dagegen vertritt er eine „prozeduralistische“ Auffassung von der demokratischen Willensbildung in universalistischer, weltbürgerlicher Perspektive. Deshalb konfrontiert er Schmitt auch mit Kant.39 Dabei konzentriert er sich auf Schmitts späte völkerrechtliche Schriften und bezieht keine pazifistische Gegenposition, sondern wendet sich nur gegen die pauschale politische Verwerfung jeglicher moralischer Rechtfertigung von Kriegen. Habermas schreibt:
„Der wahre Kern [von Schmitts Kritik] besteht darin, dass eine unvermittelte Moralisierung von Recht und Politik tatsächlich jene Schutzzonen durchbricht, die wir für Rechtspersonen aus guten, und zwar moralischen Gründen gewahrt wissen wollen.“40 „Die richtige Antwort auf die Gefahr der unvermittelten Moralisierung der Machtpolitik ist daher ‚nicht die Entmoralisierung der Politik, sondern die demokratische Transformation der Moral in ein positiviertes System der Rechte mit rechtlichen Verfahren ihrer Anwendung und Durchsetzung.’ Der Menschenrechtsfundamentalismus wird nicht durch den Verzicht auf Menschenrechtspolitik vermieden, sondern allein durch die weltbürgerliche Transformation des Naturzustandes zwischen den Staaten in einen Rechtszustand.“41
Übereinstimmend mit Schmitt lehnt Habermas eine direkte Moralisierung des Völkerrechts ab. Er argumentiert aber für die Entwicklung rechtlicher Verfahren des Austrags moralischer Ansprüche in der Politik. Schmitt wies immer wieder darauf hin, dass die „Totalität“ des Politischen das „Schicksal“ (BP 76f.) bleibe. Gleiches ließe sich für das Moralische sagen. So beruht der Standpunkt des klassischen Völkerrechts auf einer moralisch-politischen Bejahung des Rechts zum Krieg. Er verrechtlicht eine historisch bedingte Verhältnisbestimmung von Moral und Politik. Weil Schmitt ein Ende der Epoche der Staatlichkeit sah, musste er eigentlich auch für eine Weiterentwicklung des Völkerrechts und für eine neue Verhältnisbestimmung von Moral, Politik und Recht argumentieren. Er tat es aber aus politischen Gründen nicht: Weil er das „besiegte“ Deutschland nur als „Objekt“ des Völkerrechts ansah, bestand er auf dem staatlichen Souveränitätsprinzip. Habermas' „nationalistische“ Auffassung von Schmitts Verfassungsbegriff ließe sich zwar entgegenhalten, dass Schmitt nicht jede politische Einheit mit einem „substantialistischen“ Nationsverständnis identifizierte, sondern selbst mit dem politischen Entscheidungscharakter auch die Geschichtlichkeit jeder politischen „Substanz“ betonte. Seine Kritik an Schmitts politischer Denunziation moralischer Ansprüche in der Politik und Forderung nach einer komplexeren Theorie trifft aber in den Kern der Sache.
Die Kontroverse regte Habermas positiv dazu an, seine Rechtstheorie und politische Theorie auszuarbeiten. Heute ist ganz unbestreitbar, dass er sich mit Schmitts Verfassungslehre zentral auseinandersetzte. Autobiographisch meint Habermas heute zwar, dass ihm das „‚Weimarer Syndrom’ zu einem negativen Bezugspunkt“42 wurde. Spätestens mit „Die Einbeziehung des Anderen“ wurde aber auch klar, dass es ihm nicht nur um „Schadensabwicklung“43 ging, sondern dass er auch von Schmitts Verfassungstheorie lernte. Stets hielt er dabei an seiner scharfen Ablehnung des Existentialismus und Nationalismus fest. Jenseits der unbeirrten Ablehnung der politischen Positionen näherte er sich aber einigen Positionen Schmitts differenziert an.
„Der gespaltene Westen“ nimmt nun eine komplexe Verhältnisbestimmung von europäischen und universalen politischen Institutionen vor, die Ansätze zur „Entstaatlichung des Politischen“ (GW 191) bei Schmitt würdigt und für eine „modernisierte Großraumtheorie“ plädiert. Politisch profiliert Habermas seine Überlegungen heute scharf gegen die amerikanische Bush-Regierung und scheint sich damit Schmitts Opposition „Großraum gegen Universalismus“ anzunähern. Genauer betrachtet trifft dies aber nicht zu: Es ist gerade die konsequente Integration des menschenrechtlichen Universalismus in das politische Pluriversum, die kritische Umdeutung, die ihm eine Annäherung ermöglicht. Deshalb belegt seine Auseinandersetzung heute die Möglichkeit einer kritischen Aktualisierung Schmitts.
Scharf kritisiert Habermas den Bruch des Völkerrechts durch die amerikanische Bush-Regierung. „Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern“ (GW 34), meint er und hofft auf einen „Widerspruch von Bündnispartnern [...] aus guten normativen Gründen“ (GW 39), der nicht zuletzt durch die – von Schmitt eingehend analysierte - „Abstiegserfahrung“ des alten Europa im 20. Jahrhundert ermöglicht wurde; sie schuf die „reflexive Distanz“, „aus der Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern wahrzunehmen“ (GW 51) und so die Demütigungen der arabischen Welt besser zu verstehen. Schmitt hing der alten, geschichtstheologisch grundierten Überzeugung an, dass Reiche kommen und vergehen und jedes Volk im Gang der Weltgeschichte nur eine geschichtliche Stunde hat. Habermas dagegen kennt eine „zweite Chance Europas“.44 Er betrachtet die Geschichte als Lernprozess, in dem Nationen durch leidvolle Erfahrungen lernen.
Im „Streit zwischen Integrationisten und Intergouvernementalisten“ (GW 73) argumentiert er heute für den Ausbau der „Regierungsfähigkeit“ der EU zum politischen „Global Player“. Habermas begrüßt die „Idee einer gemeinsamen, von Kerneuropa ausgehenden Außen- und Sicherheitspolitik“ gegenüber dem „hegemonialen Unilateralismus der US-Regierung“ (GW 90): Wenn „die EU im Hinblick auf die universalistische Ausgestaltung der internationalen Ordnung gegen die USA einen konkurrierenden Entwurf zur Geltung bringen will, oder wenn wenigstens aus der EU heraus ein politisches Gegengewicht gegen den hegemonialen Unilateralismus entstehen soll, dann muss Europa Selbstbewusstsein und ein eigenes Profil gewinnen“ (GW 53). Habermas akzeptiert nun Schmitts Kritik am „diskriminierenden“ Kriegsbegriff und dessen Unterscheidung zwischen einer „Moralisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“ (GW 103f). Er optiert für ein „globales Mehrebenensystem“, das nicht die Entwicklung zum Weltstaat nimmt, sondern die staatliche Ebene dem mittleren Bereich – in Europa der EU – zuordnet (GW 107) und dadurch eine „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung“ ermöglicht.45 Kant sah sich politisch gezwungen, für einen „Völkerbund als Surrogat für den Völkerstaat“ (GW 125) zu optieren. Habermas wendet diese strategische Option in ein prinzipielles Argument. Er lehnt die „Weltrepublik“ als Lösung ab und optiert für eine „dezentrierte Weltgesellschaft“ im Mehrebenensystem ohne „gewaltmonopolisierende Weltregierung“ (GW 134ff). Eine „politisch verfasste Weltgesellschaft“ betrachtet er als mögliche und wünschbare Alternative zur „Weltrepublik“ und nähert sich damit Schmitt an, der den hegemonialen „Großraum“ gegen den weltstaatlichen „Universalismus“ setzte. Deshalb beschließt er seine Sammlung auch mit der Alternative „Kant oder Carl Schmitt?“ (GW 187ff) Zwar distanziert er sich durchgängig vom existentialistischen „Faschisten“ (GW 31, vgl. 26, 103f, 153). Dennoch findet er bei Schmitt nun anregende Ansätze zu „einer Entstaatlichung des Politischen“ (GW 191) und meint abschließend, dass „sich eine modernisierte Großraumtheorie als ein nicht ganz unwahrscheinlicher Gegenentwurf zur unipolaren Weltordnung des hegemonialen Liberalismus“ (GW 192f) empfiehlt.
Habermas differenziert Schmitts „moralkritisches Argument“.46 Wie Schmitt lehnt er den „Menschenrechtsfundamentalismus“ ab, schränkt ihn aber auf die „unvermittelte Moralisierung von Recht und Politik“ ein und besteht auf der moralphilosophischen Fundierung des Rechts, während Schmitt sich nur auf die juristische Beobachterperspektive beschränkte und nur den Missbrauch der Moralisierung und Politisierung des Rechts kritisierte, ohne seine eigenen moralischen Kriterien philosophisch auszuweisen. Beim Kosovo-Krieg rechtfertigte Habermas die militärische Intervention zwar als „Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand“47 am Rande des Völkerrechtsbruchs. Heute aber distanziert er sich von einer solchen politischen Instrumentalisierung und richtet seine ganze Sammlung gegen die aktuelle Aufweichung des Völkerrechts. Er modernisiert nun die Großraumtheorie, mit deren Option für den politischen Pluralismus gegen den weltstaatlichen Universalismus, indem er den weltbürgerlichen Universalismus nicht gegen den „Großraum“ ausspielt, sondern ihn im Mehrebenensystem mit dem politischen Pluralismus der Großräume verbindet und den europäischen Zentralstaat dabei als Gegengewicht gegen die hegemoniale USA mit „Vorbildfunktion für andere Weltregionen“ (GW 177) preist. Seine Überlegungen zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts sind deshalb mit Fragen nach der Konstitutionalisierung der EU eng verbunden. In dieser Verknüpfung zweier aktueller Konstitutionalisierungsprobleme liegt der wichtigste theoretische Anstoß von „Der gespaltene Westen“. Sie ersetzt Schmitts politische Alternative „Großraum gegen Universalismus“ durch eine differenzierte Verhältnisbestimmung im „Mehrebenensystem“, die den moralischen Anspruch des Universalismus in die Konstruktion eines globalen „politischen Pluriversums“ integriert. In diesen Überlegungen ist einer der wichtigsten Anstöße Schmitts enthalten: den Prozess der Europäisierung nämlich im globalen Kontext der „legalen Weltrevolution“ zu sehen. Habermas gibt ein Beispiel für eine universalistische Modernisierung der Großraumkonzeption. „Politischer Großraum mit menschenrechtlichem Universalismus“ statt „Großraum gegen Universalismus“ lautet gewissermaßen seine Antwort. Diese Adaption der Großraumlehre für das politische Projekt der Europäischen Union entspricht zwar nicht Schmitts politischer Antwort, Alternativen jenseits des alten Europa zu suchen. Schon weil solche Alternativen heute aber kaum zu finden sind, sollte man die Ansprüche an Verfassungsalternativen auch reduzieren und die kleinen Unterschiede nicht gering schätzen. Wenn die Wahl zwischen Lebensformen eingeschränkt ist und politische Verfassungsentscheidungen nicht mehr fundamentale ökonomische und kulturelle Differenzen betreffen, gibt es immer noch Optionen. Es macht noch einen Unterschied, ob man heute in Europa oder anderswo lebt. Wer diesen Unterschied nivelliert, begibt sich seiner Optionen. Deshalb lässt sich Schmitts Großraumtheorie heute nur in einer revidierten Fassung aktualisieren, die den politischen Pluralismus mit einem moralischen Universalismus verbindet.
Fußnoten:
1 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1963 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963 (BP), 20; dazu vgl. Christoph Schönberger, Der Begriff des Staates im „Begriff des Politischen“, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, 21-44. Folgende Ausgaben und Siglen Schmitts werden hier noch zitiert: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles, Hamburg 1940 (PB); Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum, Köln 1950 (NE); Ex Captivitate Salus. Erinnerungen der Zeit 1945/47, Köln 1950 (ECS); Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation, Köln 1950 (DC); Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958 (VRA); Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963 (TP); Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. von G. Maschke, Berlin 1995 (SGN); Carl Schmitt und Álvaro d’ Ors. Briefwechsel, hrsg. Montserrat Herrero, Berlin 2004 (SdO); Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978, hrsg. Günter Maschke, Berlin 2005 (FP)
2 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Vorwort von 1971 zur italienischen Ausgabe, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, 269-273, hier: 271
3 Theoretisch besonders ambitioniert: Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996
4 Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, Frankfurt 2004 (GW)
5 Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, in: Archiv des öffentlichen Rechts 129 (2004), 81-120
6 Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer ‚deutschen Monroe-Doktrin’, Stuttgart 1962; Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, Berlin 1994; ferner Felix Blindow, Carl Schmitts Reichsordnung. Strategien für einen europäischen Großraum, Berlin 1999. Maschke meinte in überspannter Polemik über Gruchmann und Schmoeckel: „Beide Autoren verharren ganz im Banne der re-education“ (SGN 358).
7 Schmitt nahm zu diesem Vorwurf schon im Rahmen seiner Nürnberger Vernehmung Stellung: Beantwortung der Frage: Wieweit haben Sie die theoretische Untermauerung der Hitlerschen Grossraumpolitik gefördert?, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Carl Schmitt: Antworten in Nürnberg, Berlin 2000, 68ff
8 Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitts. Sein Aufstieg zum Kronjuristen des Dritten Reiches, Darmstadt 1995
9 Dazu meine Besprechung in der Internet-Zeitschrift HSK vom 25.5.2005
10 Carl Schmitt, Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik, Köln 1925, in: FP 26-39
11 Dazu vgl. Carl Schmitt, Der Status quo und der Friede (1925), in: PB 33-42 und FP 51-59
12 Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt 1999, 25-33
13 Dazu schon Carl Schmitt, Politische Romantik, 1919, 2. Aufl. München 1925; vgl. auch: ders., Illyrien (1925), in: SGN 483-488
14 Dazu orientierend Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998
15 Zur Kritik an einer einseitig marktwirtschaftlichen Integration der EU vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt 1999, 68-102
16 Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004
17 Brief vom 12.2.1960 an d’Ors, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, hrsg. Montserrat Herrero, Berlin 2004, 200
18 Aufschlussreich ist hier etwa der Briefwechsel mit Armin Mohler: Carl Schmitt, Briefwechsel mit einem seiner Schüler, hrsg. Armin Mohler, Berlin 1995
19 Carl Schmitt am 11.5.1961 an d’Ors, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, hrsg. Montserrat Herrero, Berlin 2004, 200
20 Schmitt am 17.7.1959 an d’Ors, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 196, vgl. 242
21 Schmitt an d’Ors, Brief vom 6.1.1964, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 236
22 Schmitt an d’Ors, Brief vom 3.3.1958, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 185. Schmitt spricht hier davon, dass er auf Wunsch des Verlegers „noch einen Band völkerrechtlicher und einen 3. Band rechtsphilosophischer Aufsätze folgen lassen“ wolle. Diese briefliche Bemerkung ist in doppelter Hinsicht wichtig: Einerseits markiert sie Schmitts Selbstverständnis seiner Arbeitsschwerpunkte: Schmitt spricht von verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und auch rechtsphilosophischen Aufsätzen. Andererseits zeigt sie, dass spätere Pläne zu weiteren Sammlungen, die im Nachlass belegt sind, nicht nur von den Schülern, sondern auch von Schmitt und seinem Verleger ausgingen. Wichtig ist auch, dass diese Dispositionen erheblich von den Editionen abweichen, die posthum durch Maschke realisiert wurden.
23 Schmitt an d’Ors, Brief datiert Weihnachten 1958, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 191
24 Schmitt an d’Ors, Gründonnerstag 1950, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 101
25 Dazu bes. Schmitt an d’Ors, Brief vom Gründonnerstag 1950, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 99ff („Sie, lieber Don Álvaro, haben in ihrem Land den Bürgerkrieg in sich ausgetragen.“); vgl. DC 18f („sah, dass der innereuropäische Bürgerkrieg eine europäische und schließlich planetarische Angelegenheit werden musste“); vgl. SGN 592 („Im heutigen weltweiten Kampf war Spanien die erste Nation, die aus eigener Kraft und auf eine solche Weise siegte, dass nunmehr alle nicht-kommunistischen Nationen sich, was diesen Aspekt angeht, gegenüber Spanien auszuweisen haben.“)
26 Dazu vgl. Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984.
27 So verstand es auch d’Ors, in: Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, 152
28 Carl Schmitt, Die legale Weltrevolution. Politischer Mehrwert als Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität, in: Der Staat 17 (1978), 321-339, hier: 329
29 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Vorwort von 1971 zur italienischen Ausgabe, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, 269-273, hier: 269
30 So jetzt Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005
31 Otto Kirchheimer, Bemerkungen zu Carl Schmitt ‚Legalität und Legitimität’, in: ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus, Frankfurt 1976, 113-151
32 Franz Neumann, The Governance of the Rule of Law, London 1936; ders., Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York 1942
33 Vgl. Ellen Kennedy, Carl Schmitt und die „Frankfurter Schule“. Deutsche Liberalismuskritik im 20.Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S. 380-419.
34 Jürgen Habermas, Die Schrecken der Autonomie. Carl Schmitt auf Englisch, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt 1987, S. 101-114, hier: 112; vgl. auch ders., Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt 1995, S. 112-122.
35 Dazu vgl. Alfons Söllner, Jenseits von Carl Schmitt. Wissenschaftsgeschichtliche Richtigstellungen zur politischen Theorie im Umkreis der ‚Frankfurter Schule’, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), 502-529; Ulrich K. Preuß, Carl Schmitt und die Frankfurter Schule: Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert. Anmerkungen zu dem Aufsatz von Ellen Kennedy, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), 400-418; Peter Haungs, Diesseits oder jenseits Carl Schmitt? Zu einer Kontroverse um die ‚Frankfurter Schule’ und Jürgen Habermas, in: Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis, Stuttgart 1988, 526-544; Hartmuth Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, Berlin 1994; Christian Schüle, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, Neuried 1998
36 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaaats, Frankfurt 1992
37 Jürgen Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt 1995
38 Jürgen Habermas, Inklusion - Einbeziehen oder Ausschließen?, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1996, S. 160ff.
39 Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens - aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 192-236, bes. S. 226ff.
40 Ebd., S. 233.
41 Ebd., S. 236; Habermas zitiert K. Günther.
42 Jürgen Habermas,, Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit. Lebensgeschichtliche Wurzeln von zwei Gedankenmotiven, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, 15-26, hier: 24
43 Dazu vgl. Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt 1987, bes. 101ff
44 Jürgen Habermas, Vergangenheit als Zukunft, Zürich 1990, 97ff
45 Dazu jetzt weiterführend Jürgen Habermas, Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt 2005, 324-365
46 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 233
47 Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge, Frankfurt 2001, 35
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