jeudi, 18 janvier 2007
Hendrik De Man (1) (Deutsch)
Ein europäischer Nonkonformist auf der Suche nach dem Dritten Weg
von Robert Steuckers
Vorbemerkung: Nachstehender Aufsatz erschien erstmals im in der GRECE-Zeitschrift „Etudes et Recherches“ (Nr. 3) sowie in der Ausgabe 5-6/1985 der Schriftenreihe „Junges Forum“ und wurde uns mit freundlicher Genehmigung vom Verfasser zur Verfügung gestellt. Wir folgen größtenteils der von J.J Pesteil besorgte Übertragung ins Deutsche, behielten uns allerdings bei allzu holperigen Formulierungen Eingriffe sowie geringfügige Kürzungen vor.
Als am 20. Juni 1953 Hendrik de Man in der Schweiz tödlich verunglückte, starb eine der interessantesten Persönlichkeiten des europäischen Sozialismus, die erhebliche Entwicklungen durchgemacht hatte, vom radikalen Marxisten bis in die Nähe der „Konservativen Revolution“, die Zeit ihres Lebens gegen den Strom geschwommen war. „Gegen den Strom“ lautete denn auch der deutsche Titel seiner Autobiographie. Heute ist de Man in Deutschland nur noch wenigen bekannt, obwohl etliche seiner Schriften in Deutsch geschrieben und erschienen sind.
Geboren zu Antwerpen am 17. November 1885, ist Hendrik de Man mit 16 Jahren Sozialist geworden. Nichts prädestinierte ihn zu dieser Wahl. Sein Vater wollte aus ihm einen Offizier machen. Seine Mutter stammte aus einer ganz nonkonformistischen Familie, bürgerlich und reich, aber mit dem Hang zur Literatur. Diese Familie war das, was man in Flandern „vlaamsgezind“ nennt, sie verkehrte ohne Scham mit den flämisch sprechenden Arbeitern und Bauern und zog sie gewöhnlich den Angehörigen ihrer eigenen Klasse vor, die sich auf die französische Kultur etwas zugute hielten. Das ist das ewige Problem Belgiens, der rote Faden seiner soziopolitischen Geschichte seit 1830, als das Königreich dank des doppelten Segens der französischen und englischen Diplomatie und gegen die Vorstellung der Heiligen Allianz von 1815 unabhängig wurde. Nach belgischen politischen Maßstäben wurde de Man eine Art Avantgardist: ein bürgerlicher Sozialist mit doppelter Kultur, germanisch und romanisch, ein Mensch, der sich wohl fühlt in den Partikularismen seiner Heimat und der trotzdem Zugang hat zu den hohen Sphären des Universalismus.
Die Art der Erziehung, die er genoss, führte dazu, dass er keinen Klassendünkel kannte. De Man war ein störrischer Jüngling, rebellisch aber selbstlos, und er verfolgte mit Aufmerksamkeit die großen Konflikte des beginnenden Jahrhunderts: die Affäre Dreyfus in Frankreich, den Burenkrieg in Südafrika. Mit 17 Jahren meldete er sich auf einer Versammlung streikender Hafenarbeiter zu Wort. Er wurde Mitglied der „Socialistische Jonge Wacht“, der Jungsozialisten von Antwerpen, und zerstörte damit die Hoffnungen von Vater de Man, seinen Sohn Offizier werden zu lassen. Der belgische Patriotismus interessierte den jungen de Man überhaupt nicht: die Familie war viersprachig, las deutsche, französische, holländische und englische Zeitungen und Zeitschriften. Diese europäische Sicht geht über den engen Rahmen einer erst neuen Nation hinaus, deren Eliten die Pariser Moden nachäffen. Außerdem schwor sein Großvater mütterlicherseits – wie viele Antwerpener – nur auf die Fahne des Vereinigten Königreichs der Niederlande (1815-1830) und zögerte niemals, den belgischen Staat zu kritisieren, den er als ein „franko-klerikales“ Unternehmen ansah, ohne Interesse für diejenigen, die wir er, sich als Erben der „Geusen“ betrachteten, d.h. der flämischen, wallonischen und holländischen Adligen und Bürger, die im 16. Jahrhundert gegen den König von Spanien revoltiert hatten, jene Menschen, die Wilhelm dem Schweiger gefolgt und die der Ursprung des modernen niederländischen Staates geworden waren.
Dieser Geist stimmte nicht mit dem überein, was man von einem Offizier erwartete: Verteidiger der etablierten Ordnung zu sein, ausschließlich frankophon und frankophil zu sein, vorzugsweise katholisch und ultramontan. Die Berufung des jungen de Man ist schon vorgezeichnet: er wird ein Intellektueller und wird an der Universität von Brüssel studieren, einer Universität, deren dominierende Ideologie ein wilder Antiklerikalismus ist, an der Grenze des Fanatismus. Nichts hat sich geändert unter der Sonne: in Belgien muss man Konformist sein, d.h. liberal (oder sozialistisch) und antiklerikal oder katholisch und „rechtgläubig“. Außerhalb dieser ideologischen Systeme gibt es keine Seligkeit. De Man scheiterte in allen Examen. Der belgische Konformismus hat sein Genie nicht erkannt. 1905 dagegen, in der Welt der deutschen Universität, wird er als ein beispielhafter und besonders begabter Student angesehen. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.
Ganz sicher ist zu dieser Zeit der Sozialismus des Studenten de Man heroisch und naiv, de Man lebt asketisch, versucht Hegel und Darwin den Arbeitern nahe zu bringen, sein jugendlicher Idealismus erkennt nicht sogleich die Schurkerei der Demagogen seiner eigenen Partei. Man wird dem ein Ende machen, nachdem er gegen die Strategie des Präsidenten der Sozialistischen Partei, den Dr. Terwagne, rebelliert hat, d.h. gegen die sozial-liberale Allianz. Gegen das, was er als eine widernatürliche Allianz zwischen elenden Proletariern und gesicherten Bürgern ansah. Hinter dieser scheinbar widersprüchlichen Allianz verbarg sich ein Konflikt der Weltanschauungen: die liberalen und sozialistischen Kader gehörten zur Freimaurerei und wollten gemeinsam die klerikale Partei bekämpfen. Die Wähler hatten die Kosten dieses philosophischen Streits zu zahlen. Diese Art Situation sollte in Belgien bis zum Jahr 1958 andauern, wo das Land und seine Regionen durch einen Schulkrieg zwischen Katholiken und Freidenkern zerrissen werden sollte.
De Man führte ein bewegtes Leben als sozialistischer Aktivist. Nach einem Krawall gegen das russische Konsulat wird er 1905 von der Universität Gent verwiesen und beschließt nach Deutschland zu emigrieren. Er nimmt sogleich an einem Sozialistenkongress in Jena teil und wird Journalist bei der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, an der auch Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Leo Trotzki mitarbeiten. 1907 reist er nach London, um dort in den sozialistischen Formationen zu kämpfen und die tiefgehenden Motivationen der britischen sozialistischen Arbeiter kennen zu lernen. Regelmäßig schickt er Berichte an die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG. Diese Erfahrungen machen aus ihm später einen Ketzer: de Man entdeckte die Unterschiede zwischen den nationalen Arbeiterbewegungen. Diese, so wird er schreiben, können sich wohl mit marxistischer Dialektik erklären lassen, aber sie können nicht weggeleugnet werden. 1910 kehrt er auf Wunsch des Sozialistenführers Vandervelde nach Belgien zurück. Letzterer bringt ihn in die Gewerkschaftskommission. Sogleich organisiert de Man Reisen nach Deutschland und gewinnt den Ruf, Pangermanist – ein „Alldeutscher“ – zu sein. Dieser Ruf des Pangermanismus begründet gleichzeitig seinen Ruf als Doktrinär des Marxismus. Der belgische Sozialismus dieser Epoche hat Beziehungen zu allen Sozialismen, seien sie deutscher, russischer, französischer, englischer oder nationaler Tradition. Mit seinem wallonischen Genossen Louis de Brouckère gründet er eine marxistische Fraktion innerhalb der Partei. Das Presseorgan dieser jungen Marxisten wird DE KLASSENSTRIJD (Der Klassenkampf). Aber diese philosophische Option, das Erbe seines Aufenthaltes in Deutschland, macht ihn nicht blind: die inneren Widersprüche des belgischen Staates können sich ganz und gar nicht mit Hilfe der marxistischen Methode lösen lassen. Und das ist schon der zweite Schritt in Richtung Ketzerei.
Im Juli 1914 will die Sozialistische Internationale, getreu ihren pazifistischen Grundsätzen, den Krieg verhindern. Nach der Ermordung des französischen Sozialistenführers Jean Jaurés begeben sich de Man, der Sekretär der 2. Internationale, Kamiel Huysmans und der SPD-Vorsitzende Hermann Müller nach Paris, um einen letzten Versuch zu machen, eine Friedensoffensive der Sozialisten über alle Fronten hinweg zu organisieren und zu koordinieren. Aber vergeblich: Frankreich und Deutschland mobilisieren. De Man und Müller selbst werden von französischen Gendarmen verhaftet. Weil sie deutsch sprechen, sind sie „des espions boches“, deutsche Spione. Die Dinge nehmen ihren Lauf: de Man kehrt nach Brüssel zurück und Müller nach Deutschland. Die Internationale ist tot. Die Ereignisse verhöhnen Hendrik de Mans Idealismus. Aber bestätigen sie nicht im Grunde den Eindruck, den er auf seiner Reise nach England gewonnen hatte?
Hendrik de Man wird Soldat in der belgischen Armee. Da er lesen und schreiben kann, wird er Offizier. Er liest Bücher über Militärwissenschaft und stellt fest, dass es Möglichkeiten gibt, besser Krieg zu führen, indem man sich nicht auf die alten Dogmen zurückzieht. Die professionellen Militärs sind anderer Ansicht, ganz einfach weil sie Angst vor der Phantasie haben, weil sie unfähig sind, sich Situationen vorzustellen, die nicht in den Vorschriften vorgesehen sind, und weil sie keine neue Meinung tolerieren. Eine zusätzliche praktische Erfahrung, die dazu beiträgt, die kritische Funktionstheorie Hendrik de Mans zu formen. Sein Artilleriepeleton ist beispielhaft organisiert: seine Soldaten kämpfen nicht nur, sondern lernen das Lesen und Schreiben, unterrichten sich selbst dank einer Bibliothek, die ihr Leutnant aufgebaut hat, und spielen diverse Musikinstrumente.
Im März 1917 schickt der katholische Minister de Broqueville Vandervelde und de Man nach St. Petersburg, damit sie Bericht erstatten über die Ereignisse der russischen Revolution. Ihre Reise führt anfangs über Schweden, wo sie Trotzki treffen, der eine tiefe Verachtung für den „Sozialbourgeois“ Vandervelde zeigt. De Man beurteilt Trotzki falsch: er glaubt, er sei nichts als ein Schwätzer und Künstler, ein Literat. Er erkennt in ihm nicht den künftigen Organisator der ersten Roten Armee. Vandervelde dachte, dass Lenin ein steriler, von einer fixen Idee Besessener sei, besessen vom Egalitarismus, bereit Spaltung über Spaltung wegen seines Eigensinns herbeizuführen. De Man hat in der Folge eingestanden, sich getäuscht zu haben: Lenin dürfte nicht nach den Kriterien der westlichen parlamentarischen Demokratie beurteilt werden, sondern nur nach Kriterien Russlands, des Ostens. Die Sympathien der beiden belgischen Sozialisten gehören ohne Zweifel der Regierung Kerenski. Es ist ihre durch und durch humanistische Vergangenheit, die sie den Zynismus und den brutalen Machtwillen der Anhänger Lenins ablehnen lässt.
Nach der Russlandreise wird de Man in die Vereinigten Staaten geschickt. Die Kriegspropaganda steht dort auf dem Höhepunkt. De Man hat dort die Macht der öffentlichen Meinung kennen gelernt, die Rolle der lügnerischen Pressekampagnen, die Dummheit der Massenhysterie. De Man wird fast der Deutschfreundlichkeit angeklagt, als er, verdutzt, sehr ausweichend eine idiotische, aber typisch amerikanische Frage beantwortet: ist es wahr, dass ganze Züge mit belgischen Kindern in gewisse deutsche Städte geschickt werden, damit ihnen dort Arme und Beine abgehackt werden? Vor einer Gruppe von Akademikern spricht er objektiv über Deutschland, über seine Kultur und seine Musik. Nach dieser Konferenz wird er wegen Spionage festgenommen! Auf dem Schiff, das ihn nach Europa zurückbrachte, hört er mit Freude von der Unterzeichnung des Waffenstillstandes.
Im August 1919 schifft sich de Man nach Neufundland ein. Er wird dort einen Betrieb leiten. In einer abgelegenen Bucht trifft er einen Jesuiten, der dort als absoluter Theokrat über seine Pfarrkinder, einige Hundert Trapper, herrscht. Der Jesuit empfängt den marxistischen Philosophen mit offenen Armen: er ist der erste, mit dem er seit Jahren über thomistische Philosophie diskutieren kann. Auf dem Gebiet der Sozialpsychologie wird diese Erfahrung in Kanada äußerst wichtig für die Entwicklung von de Mans Denken. Die Trapper irischen Ursprungs sind die kulturell unterentwickeltsten Weißen, die de Man jemals gesehen hat. Die Indianer, ihre Nachbarn, sind viel kultivierter, weil ihre Gemeinschaften, obwohl konvertiert, in einer uralten Tradition verwurzelt sind. Diese Tradition gibt ihnen Halt. Die Iren sind entwurzelt und in einen wahrhaft primitiven Zustand zurückgefallen. Der Verlust der natürlichen organischen Bindungen (hier verstanden als Bindung an das Land der Vorfahren) würdigt eine Population auf einen niedrigeren Rang hinab als den der Indianer, die niemals mit den Ergebnissen einer anarchischen industriellen Revolution in Berührung gekommen sind. Das erscheint uns heute natürlich, wo die Ethnologie ungeheure Fortschritte gemacht hat, aber für de Man, aufgewachsen, im Fortschrittskult, war diese Perspektive gar nicht einleuchtend.
Einige Monate später wird de Man mit den Wobblies leben, Saisonarbeitern ohne Ausbildung in Alaska, um bei ihnen Lebensbedingungen kennen zu lernen wie sie auch der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun beschrieben hat. Die Wobblies in Alaska sind zum größten Teil Skandinavier. De Man hat jedoch nicht wie Hamsun das Grauen des Hungers gekannt. Nachdem er in den Vereinigten Staaten den Ruf eines gefährlichen Kommunisten erworben hat, kehrt er nach Belgien zurück.
Seine erste Aufgabe wird die Veröffentlichung einer Serie von 18 Artikeln über Deutschland. Er schreibt: „So wie viele Sozialisten aus allen Ländern verdanke ich Deutschland die wertvollsten Elemente meiner geistigen Ausbildung. Ich kann mir auch kein ökonomisch und intellektuell lebensfähiges Europa vorstellen mit einem Deutschland, das verurteilt sein würde, ewig arm, verachtet und erniedrigt zu bleiben.“ Doch die Leidenschaften des Krieges haben sich noch nicht gelegt. Die deutschen Besatzungsbehörden hatten die Verschickung von mehreren Hundert wallonischen Arbeitern in die Fabriken des Ruhrgebiets angeordnet. De Man wollte einen Sozialdemokraten, Johann Sassenbach, einladen, damit er über den Widerstand der SPD gegen diese Deportationspolitik berichten sollte. Patriotische Arbeiter wollten Sassenbach am Reden hindern, aber Hunderte von Metallarbeitern aus La Louvière (Hennegau) jagten sie fort und zerrissen eine belgische Trikolore. Sassenbach konnte reden, aber damit wurde eine Regierungskrise ausgelöst. Im März 1922 erklärt sich de Man in einer in Köln gehaltene Rede gegen Reparationen und gegen die drohende Ruhrbesetzung. Vandervelde gibt ihm Recht, aber will die belgischen Meinungsmacher lieber erst vorsichtig auf diese pazifistische Option vorbereiten. De Man akzeptiert und versteht den Vorwurf, den ihm Vandervelde macht, aber zieht es vor, sich von der Partei zurückzuziehen, weil – wie er sagt – die sozialistische und pazifistische Ethik nicht vor den kriegslüsternen Launen der Meinungsmacher zurückweichen darf. De Man reicht gleichzeitig sein Entlassungsgesuch als Reserveoffizier ein. Diese Geste war in der Tat eine Herausforderung an den Zeitgeist.
De Man kehrt jetzt nach Deutschland zurück und lässt sich in Elberstadt bei Darmstadt nieder. Von 1922 bis 1926 wird er Vorlesungen an der „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt am Main halten. Dort wird er sein theoretisches Werk erarbeiten. Die beeindruckende Zahl seiner Schriften führt dazu, dass viele seiner Genossen ihn für den größten sozialistischen Theoretiker seit Marx halten. Im Herbst 1929 wird er zum Professor für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt ernannt. Das Fach ist im Kommen. Es ist noch nicht Examensstoff, was de Man freie Hand lässt, seine Vorlesung so zu gestalten wie er will. De Man beobachtet aufmerksam die „Kulturbouillon“, die „Ideenwerkstatt Frankfurt“. Er wirft den Philosophen der Frankfurter Schule „ihre Unausgeglichenheit, ihre orientierungslosen Analysen“ vor. Sehr richtig schreibt er: „Sicher gab es besonders unter den Philosophen, den Wirtschaftswissenschaftlern und den Soziologen brillante Köpfe, aber alles in einem machte den Eindruck eines Pandämoniums, eines tollen Durcheinanders und eines gewaltigen Gehirnmechanismus im Leerlauf…Die Atmosphäre sagte mir nicht zu und ich fühlte mich dort am letzten Tag beinahe so fremd wie am ersten.“
Auf rein politischer Ebene hält de Man die Sozialdemokratie für unfähig, den aufkommenden Nationalsozialismus wirksam zu bekämpfen. Er regt zaghaft Maßnahmen an: er organisiert mit Erfolg ein Festspiel mit 2000 Mitwirkenden und 18.000 Zuschauern. Wie de Man schreibt, bekämpft man den Faschismus nicht mit antifaschistischen Reden, sondern durch mehr Sozialismus; diese sozialdemokratischen Festspiele sollten den nationalsozialistischen Festspielen Konkurrenz machen. Zu dieser Zeit machen sich bei de Man auch erste Einflüsse des konservativ-revolutionären „Tat“-Kreises um Hans Zehrer bemerkbar. Im April 1933 findet in seiner Wohnung in Frankfurt eines der letzten Treffen der Reichsbanner-Führer statt, einer Organisation, deren Verdienste er in seinen Schriften herausgestrichen hat. Vergeblich. Die Massen folgen nicht. Die Sozialdemokratie hat für sie keine Anziehungskraft mehr. De Man verlässt jetzt das Reich. Seine Bücher werden öffentlich verbrannt, aber im Mai 1933 wird er eingeladen, seine Vorlesungen wieder aufzunehmen! Er weigert sich und am 1. September ist er endgültig entlassen. Künftig wird er in Brüssel Vorlesungen halten, an der Universität, an der er so schlechte Noten bekommen hatte.
Der belgische Sozialismus war ebenso verbraucht wie die deutsche SPD, aber es gab keinen gefährlichen Gegner: es gab keinen belgischen Nationalsozialismus. 1932 waren wilde und spontane Streiks sorelscher bzw. luxemburgischer Prägung ausgebrochen. Die sozialistischen „Maisons du Peuple“ (Volkshäuser) wurden von Streikenden besetzt. Die „Internationale Socialistische Anti-Oorlogsliga“ (Antikriegsliga) lässt ihre Aktivisten mit „Drei-Pfeile-Armbinden“ aufmarschieren und stürmt die Büros der reaktionären Zeitungen. Unter ihnen ist der junge Rechtsanwalt Paul-Henri Spaak. Ungeachtet dieses jugendlichen Aufbruchs unterstützen die alten Kader der Partei die extremistischen Forderungen nicht und begreifen nicht, dass die deutsche Sozialdemokratie zerfallen ist, weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Die belgische sozialistische Partei geht ebenfalls an ihren inneren Widersprüchen zugrunde: In den Spalten ihrer offiziellen Zeitung LE PEUPLE (heute wegen Lesermangels verschwunden) predigt ein gewisser Jexas, von zweifelhafter griechischer Herkunft, den „heiligen Krieg“ gegen die „deutschen und italienischen Faschismen“, während die Partei, getreu ihrer pazifistischen Tradition, weiterhin die Kredite für die Armee ablehnt.
Um diesen Wirrwarr zu entwirren, beauftragt Vandervelde de Man mit der Bildung einer Studiengruppe. Dort wird der berühmte „Plan der Arbeit“ oder „de Man-Plan“ ausgearbeitet. Dieser Plan findet international Widerhall. Er wird der Eckstein dessen, was man die planistische Ideologie genannt hat. Aber was ist der „Plan“? Für de Man und seine Freunde ist er eine Strategie, um mit allen gesunden Kräften der Nation die wirtschaftliche Krise und die schrecklichen Folgen, die sie von 1929-1934 in Belgien hervorgerufen hat, zu bekämpfen. In Wirklichkeit wollte de Man eine neue Partei schaffen, die die Rettung der Nation zum Ziel haben sollte, ungeachtet der traditionellen verkalkten politischen Gruppen und gegen die Interessen der parlamentarischen Parteien. De Man war indessen genügend intelligent und realistisch, um er erkennen, dass die Gründung einer „Partei des Staatswohls“ in Belgien technisch undenkbar war. Da nun einmal die Belgische Arbeiter-Partei POB/BWP existierte, konnte sie ihm ebenso gut als Sprungbrett dienen. Zumal de Man sein Leben der sozialistischen Sache verschrieben hatte. Die Funktionäre folgten ihm nur mürrisch, die harten und reinen Marxisten wie sein alter Kampfgenosse Louis de Brouckère wenden sich endgültig von ihm ab. De Man will die Arbeiter, die Mittelklassen (einschließlich der kleinen Unternehmer) und die Bauern, die besonders von der Krise betroffen sind, in einer vereinigten Front gegen das „vagabundierende und kosmopolitische Kapital“ wirksam zusammenfassen. Dieses Ziel gefällt den jungen Führern der sozialistischen Gewerkschaften. Es ist die Begeisterung der jungen Kader der Partei, welche die Gegner des Plans zuletzt das Projekt de Mans akzeptieren lässt. Im flämischen Teil des Landes wird Hermann Vos, ein antiklerikaler flämischer Nationalist, nachdem Bedenken wegen seiner politischen Herkunft ausgeräumt sind, de Man helfen, sich des nationalen Faktors bewusst zu werden. Das verleiht dem Plan zusätzlich Dynamik. De Man wird von den Massen verehrt werden: „Du bist unser Retter“, schreien die Frauen der Arbeiter und strecken ihm ihre Kinder entgegen. Das wird selbstverständlich den tiefen Neid der hochmütigen Advokaten und der herzlosen Parteifunktionäre hervorrufen, die die Partei bis dahin leiteten.
Der Plan ist auch die Synthese aller philosophischen und politischen Ideen de Mans. Nachdem wir das belegte Leben des Chefs der belgischen Sozialisten skizziert haben, wenden wir uns im zweiten Teil des Artikels der Bedeutung seiner Theorien für das Verständnis der politisch-intellektuellen Entwicklung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu. In einem weiteren Abschnitt werden wir die internationalen Auswirkungen der Ideen de Mans besprechen.
In seiner Arbeit „Ni gauche ni droite. L`idéologie fasciste en France“ (1983) macht der französisch-israelische Schriftsteller Zeev Sternhell de Man zum Hauptförderer einer Faschisierung der Gesellschaft und der sozialistischen Bewegungen. Wir lehnen uns gegen dieses Unterfangen auf, das darauf abzielt, den nicht einzuordnenden de Man in die Zweiteilung Faschismus-Antifaschismus einzuordnen. Sicher, ein Gutteil der von Sternhell ausgeführten Fakten ist oft richtig, aber sie sind auch losgelöst von ihrem Zusammenhang, zusammengestellt in suggestiver Art und Weise und solcher Art verquickt, dass sich dem Leser die Vision eines in der europäischen Gesellschaft allgegenwärtigen Faschismus darbietet. Um diese Kritik zu stützen, genügt es ganz einfach festzustellen, dass Sternhell keine einzige niederländisch abgefasste Quelle anführt. Die Entwicklung de Mans entgeht ihm, weil sich im Jahre 1940 Teile der sozialistischen Partei in die Kollaboration mit den deutschen Nationalsozialisten stürzten und sich teilweise auf die Ideen ihres ehemaligen Chefs beriefen. De Man selbst hielt Abstand, nachdem er diese Orientierung unterstützt hat. Diejenigen, die in der Kollaboration bleiben, trennen sich von ihm, ohne Krach, ohne Exkommunikation und indem sie es in verschiedenen in Niederländisch abgefassten Artikeln und Büchern erklären. Sternhell hat sie ganz einfach nicht gelesen; er ist folglich nicht imstande, die flämische Wirklichkeit zu begreifen und läuft Gefahr, de Man als einen „französischen“ Denker wie die anderen zu begreifen, einfach weil er einen Teil seines Werkes in Französisch abgefasst hat. Im Übrigen kriminalisiert Sternhell (glücklicherweise ohne messianisches Vokabular) mehr oder weniger jede Überlegung, die sich außerhalb zweier oder dreier fest eingegrenzter Zonen stellt: eines entpolitisierenden Positivismus (dem Kautskyismus eigen), eines Liberalismus, der seinen nebulösen Idealismus nicht verliert, und eines unbestimmt reformistischen Marxismus, gefangen in seiner überholten Orthodoxie. Für Sternhell führt de Man zur Rechtfertigung des Hitlerismus. Nichts ist falscher. Wir werden versuchen, das zu beweisen.
De Man wollte über den Positivismus des Marxismus und der Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie hinausgehen. Auf dem Wege über die Sozialpsychologie wird de Man den Sozialismus neu erklären. Er wird nicht von der Analyse der äußeren Umstände des Menschen ausgehen, sondern von einer „Doktrin der Mobilen“, d.h. vom Problem der Motivation. Die Erfahrung des Aktivisten, des Artillerieleutnants, des Gefährten der Wobblies und der irisch-kanadischen Trapper wird bei dieser Umorientierung die entscheidende Rolle spielen. Um ein Schlagwort zu gebrauchen, sagen wir, dass der theoretischen Graumalerei die Frische des Lebens entgegensteht. Aber diese Frische ist schwer theoretisch zu umreißen: wenn man die elementaren Tatsachen des Lebens in fassliche Sprache übersetzt, gebraucht man oft (und unglücklicherweise) eine sehr komplizierte Sprache. Es genügt das Beispiel Heidegger. Die Schriften von de Man haben bisweilen die unerträgliche kompilatorische Art des Professors. Für de Man ist es nicht notwendig, den „verstorbenen Marx“ zu beurteilen, sondern den „lebenden Sozialismus“. Der Sozialismus muss der Versteinerung entgehen durch eine Osmose mit den neuesten Ideen, namentlich mit dem Dynamismus der sozialistischen Revolutionäre: Sorel, Labriola, Lagardelle, Roberto Michels („Das eherne Gesetz der Eliten“). Einen großen Einfluss auf das Werk de Mans hatten die Arbeiten der modernen Sozialpsychologie (Wundt, Freud). Keyserling, Bergson und Alain haben gleichfalls seine kritische Haltung gegenüber dem Marxismus beeinflusst.
Die Kritik de Mans lässt sich in zwei wesentlichen Punkten kurz zusammenfassen: zunächst die Kritik des marxistischen Determinismus und dann die Entdeckung der Werte, individuelle Reaktionen entstehen lassend. Diese Werte sind von der Psychologie entdeckt worden. Seit 1921, in seinen Schulungskursen für belgische sozialistische Aktivisten, macht de Man auf den Bankrott der Systeme – sowohl der liberalen wie der marxistischen – aufmerksam, die die Existenz eines „rationalen“ Individuums erfordern, das die wirtschaftliche Planung, die wohlbedachte Wohlstandsforschung, die Profitmaximierung lenken. Für de Man ist der Tatmensch eher „irrational“ motiviert. Die Klassen sind Schicksalsgemeinschaften und nicht notwendigerweise Naturgemeinschaften. Demselben Milieu anzugehören bedeutet nicht, automatisch die gleiche Psychologie, das gleiche Verhalten, die gleichen Verwandtschaften zu haben. De Man unterscheidet also ganz klar – und das ist für seine Zeit etwas Neues – die Psychologie von der Soziologie. Diese Ideen de Mans werden sich niederschlagen in seinem in Deutsch abgefassten Werk „Zur Psychologie des Sozialismus“ (1926). Dieses Werk beginnt mit dem Vorstellen der „Theorie der Mobilen“ als dem Hauptproblem des Sozialismus. Für de Man trachtet die Arbeiterklasse wesentlich danach, sich eine Würde zugestanden zu sehen. Im Gegensatz zu Kautsky bejaht de Man, dass der Wunsch, sich eine Würde zugestanden zu sehen, der Bewusstwerdung der wirtschaftlichen Gründe der Proletarisierung vorhergeht. Kautsky sagt das genaue Gegenteil. Für de Man ist gerade der rationalistische Aberglaube das Hauptmotiv für den Zusammenbruch des sozialdemokratischen Marxismus. Dieser Aberglaube ist besonders wahrnehmbar bei den Generalstäben der Parteien, zusammengesetzt aus Intellektuellen und Juristen. De Man schließt daraus, dass die Macht der Parteiorganisation oft das Haupthindernis für die Verwirklichung seines Ziels wird. „Zur Psychologie des Sozialismus“ ist folglich eine Abrechnung mit der bürokratischen Abweichung, mit dem Vulgärmarxismus, mit dem marxistischen Rationalismus und Hedonismus. De Man schreibt, immer in „Zur Psychologie des Sozialismus“, dass aller Marxismus, im Jahre 1926, ein Vulgärmarxismus war, mit Ausnahme desjenigen, der sich beschränkte auf biographische Studien und auf Textkritik. Das ist immer noch aktuell und de Man fügte hinzu, dass diese akademischen Aufgaben ohne Einfluss auf die Geschicke wären. Den Vulgärmarxismus mit Hilfe von Zitaten zu widerlegen, ist ein unnützes Unternehmen: Der Marx, der im Glauben der Massen lebt, wird nicht besiegt werden können durch den Marx, der nur in den Regalen der Bibliotheken steht. De Man meint von nun an, dass es notwendig ist, den Marxismus zu liquidieren: sowohl den vulgären (weil er falsch ist) als auch den „reinen“ (weil er kein Leben mehr hat). In seiner Argumentation findet man die Namen Spengler, Sombart, Proudhon.
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