Die Erregungskurven politischer Debatten zeigen immer extremere Ausschläge nach oben. Jedem Politiker ist heute klar, daß mit Gefühl geherrscht werden muß und nicht vorrangig mit dem Verstand. Dies beweisen insbesondere der Umgang mit Thilo Sarrazin, die anhaltende Diskussion um Stuttgart 21, die Causa Guttenberg sowie die Kehrtwende der schwarz-gelben Koalition in der Atomkraftfrage nach der Naturkatastrophe in Japan. Der Nutznießer der Empörungsrepublik sind bisher die Grünen, doch Journalisten und Wissenschaftler befürchten, daß auch eines Tages Rechtspopulisten von den Stimmungsschwankungen profitieren könnten. Weit entfernt vom Parteiengezänk entsteht jedoch in den letzten Jahren die politische Freund-Feind-Konstellation an einer ganz anderen Konfliktstelle: Immer stärker rebellieren die Bürger gegen „die da oben“. Das muß Konsequenzen haben.
In der Financial Times Deutschland (FTD) vom 8. April 2011 geht es auf Seite elf um zwei Themen: Zum einen kommentieren Thomas Steinmann und Friederike von Tiesenhausen „Die Konsensrepublik“ und prangern den Drang aller etablierter Parteien zur Mitte an. Zum zweiten stellt Ariane Kleijwegt diesem deutschen Einerlei das „Schreckensbild Niederlande“ mit dem Aufstieg des Rechtspopulisten Geert Wilders gegenüber.
Die Gefahr des Rechtspopulismus nehme nach Ansicht der Autoren auch in Deutschland zu, da gerade die letzten Polarisierer aus der deutschen Politik ausgeschieden werden. Mit dem scheidenden FDP-Chef Guido Westerwelle trete der letzte große Provokateur ab und die FDP verabschiede sich nun nach der Union auch von ihren bürgerlichen Wurzeln und gebe sich einen sozial-ökologischen Anstrich wie alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien.
Unterschiede der Parteien verschwimmen zunehmend
Die ideologischen Unterschiede zwischen links und rechts würden so „in einer Konsenssoße“ untergehen. Politische Gegensätze verschieben sich weg von den Parteien und hin zur Auseinandersetzung zwischen Volk und der etablierten Politik. Wem es gelänge, dieses Konfliktpotential erfolgreich zu nutzen, der könnte den Parlamentarismus in Deutschland gehörig erschüttern. Doch bisher gibt es niemanden, der über den dazu notwendigen Willen und eine gehörige Portion öffentlichen Ansehens verfügt.
Die Niederlande sind da, wie in vielen anderen Dingen, schon einige Schritte weiter. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel Rotterdam. Die Überfremdung ist hier fortgeschrittener und alle Integrationsbemühungen, auch der vermeintlich rechten Parteien, gescheitert. 2002 hat das kleine Land an der Nordsee sein politisches Erdbeben erlebt, als der Rotterdamer Professor Pim Fortuyn durch seinen Erfolg die Hinterzimmerpolitik der Etablierten beendete.
Seitdem, so klärt die FTD auf, müßten sich die Parteien wieder der parlamentarischen Auseinandersetzung stellen. Die Entpolitisierung habe zu dem Aufstieg der Rechten geführt, die den Konsens in dem einst auf seine Toleranz so stolzen Staat gebrochen haben und somit die Probleme der einheimischen Bürger wieder in den Mittelpunkt gerückt haben.
In Deutschland stehen solcherlei Umwälzungen im besten Fall erst noch bevor. Im schlechtesten bleiben sie aus. Die Lage schreit dennoch nach Veränderungen: Wir leben in einer entpolitisierten, entideologisierten Konsensdemokratie, die sich von den Ursprüngen des Parlamentarismus entfernt hat und kontroverse Debatten nicht mehr kennt. Doch diese Konsensdemokratie kennt einen Modus, mit Hilfe dessen sich alle Parteien auf ein neues Ziel einschießen können. Dies ist der Skandal, der einen permanenten Ausnahmezustand konstituiert und sofortige politische Kehrtwenden erzwingt, die sich notfalls auch über geltendes Recht hinwegsetzen.
Wir leben in einer Konsensdemokratie, die kontroverse Debatten nicht mehr kennt
Nicht zuletzt das Umfallen der Bürgerlichen in der Atomkraftfrage beweist diese These. Wenn sich die Stimmungslage in Deutschland auch nur durch ein externes Ereignis abrupt verändert, fallen ausnahmslos alle politischen Akteure um und suchen im kurzfristigen Einvernehmen mit der Mehrheit nach einem neuen gemeinschaftlichen Konsens, der jedoch langfristig neue Probleme beschert. Im Fall der Wende in der Energiepolitik ist dies auch schon vorgezeichnet und es bleibt abzuwarten, wie die bürgerlichen Parteien argumentieren, wenn die Strompreise sprunghaft ansteigen und vielleicht sogar schon Grün-Rot oder Rot-Grün an der Macht ist.
Gerade aufgrund der Furcht vor Rechtspopulismus kommt die Hauptkritik an der Leblosigkeit der gegenwärtigen Demokratie von linken Journalisten und Wissenschaftlern. Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe kritisiert in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (1-2/2011, S. 3-5), „dass moderne Demokratien hinter einer Fassade formeller demokratischer Prinzipien zunehmend von privilegierten Eliten kontrolliert werden.“ Sie spricht damit das „eherne Gesetz der Oligarchisierung“ des Soziologen Robert Michels an.
Entscheidend ist jedoch, wen die Belgierin dafür verantwortlich macht. Die Sozialdemokratie habe eine „postpolitische Perspektive“ eröffnet, indem sie sich immer mehr der politischen Mitte angenähert habe. Das deutlichste Zeichen des Verlustes linker Konzepte in der Sozialdemokratie ist in Deutschland die sozialpolitische „Agenda 2010“ – durchgesetzt von Rot-Grün unter Gerhard Schröder (SPD).
Die Profillosigkeit zieht sich allerdings durch alle Parteien. Mouffe erkennt diese Konsenssucht und sieht in Volksabstimmungen eines der letzten Mittel, um der Entscheidungsunfähigkeit und dem Herumwursteln mit halben Kompromissen zu entkommen. Es bräuchte in der innenpolitischen Auseinandersetzung „freundschaftliche Feinde“, ergänzt sie in Anlehnung an den Staatsrechtler Carl Schmitt.
Der heutige Parlamentarismus kennt keine unterschiedlichen Konzepte mehr
Sie würden einen „gemeinsamen symbolischen Raum teilen“ (Anmerk. FM: Gehen wir mal ganz traditionell von einem gemeinsamen Bewußtsein als Volk und Nation aus), seien aber trotzdem „Feinde“, „weil sie diesen gemeinsamen symbolischen Raum auf unterschiedliche Art organisieren wollen“. Diese unterschiedlichen Konzepte werden der Einfachheit halber als „links“ und „rechts“ definiert und gehören zum Wesen des Politischen, durch das Entscheidungen erst möglich werden.
Der Parlamentarismus hat sich von diesem und damit auch seinem ursprünglichen Grundverständnis meilenweit entfernt. Aufgrund des Mangels an unterschiedlichen politischen Überzeugungen, der Debatte darüber sowie letztendlich der Entscheidung für eine Lösung werden Probleme aufgeschoben und die eigene Souveränität und Kompetenzen an supranationale Organisationen wie die EU oder UNO aber auch an Medien und Gerichte weitergereicht.
Zur Vernebelung der Gefahren dieser Entwicklung spricht der Historiker Paul Nolte von einer „multiplen Demokratie“, in der Entscheidungen nicht mehr grundsätzlich im Parlament getroffen würden, sondern wo Nicht-Regierungsorganisationen genauso ein Wörtchen mitzureden hätten wie es eben ein „komplexes Gefüge verschiedener Handlungsformen und institutioneller Arrangements“ gebe.
Die Frage bleibt dabei ungeklärt, ob diese nett ausgedrückte „Multiplität“ auch tatsächlich einen Mehrwert hat oder ob sie erstens den Diskurs nicht gleichermaßen eng begrenzt und zweitens Richtungsentscheidungen verhindert. Der Jurist Josef Schüßlburner hat dabei in seinem Büchlein Konsensdemokratie richtig erkannt, daß bei aller Multiplität Feinde weiterhin bestehen und ausgeschlossen werden.
Freund ist nur, wer den Konsens teilt
Nur derjenige könne Freund sein, der den Konsens teilt: „Die verhängnisvollste Folge der Konsensdemokratie besteht dann darin, daß ihr Reich der Mitte hauptsächlich im eigenen Volk Feinde sucht und findet, während man sich außenpolitisch von lauter Freunden umzingelt sieht, mit denen man vor allem deren Staatsschulden teilt.“
Das Grundproblem hat Carl Schmitt bereits 1923 in Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus beschrieben: „Am wenigsten wird es noch den Glauben geben, daß aus Zeitungsartikeln, Versammlungsreden und Parlamentsdebatten die wahre und richtige Gesetzgebung und Politik entstehe. Das ist aber der Glaube an das Parlament selbst. Sind Öffentlichkeit und Diskussion in der tatsächlichen Wirklichkeit des parlamentarischen Betriebes zu einer leeren und nichtigen Formalität geworden, so hat auch das Parlament, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren.“
Auch heute noch besitzt diese Aussage eine bestechende Aktualität. Der öffentliche Betrieb beschäftigt sich mit Scheindebatten, um die wahren Probleme in weite Ferne zu rücken. Statt über den demographischen Niedergang zu sprechen, diskutiert man in Berlin, wann man eine Frauenquote für Aufsichtsräte und Vorstände einführt. Statt über das überfremdete Deutschland zu sprechen, beleuchtet man nur den Teilaspekt der Integration und verschweigt dabei, daß diese nur bei einem Bruchteil der Ausländer, nämlich der bereits Vorgebildeten und Motivierten, funktionieren kann.
Statt über die Globalisierung und Entwurzelung zu sprechen, beschäftigt sich die politische Klasse im besten Fall mit neuen Steuern und sinniert über eine Finanztransaktionssteuer. Dabei vergißt sie, erst einmal grundsätzlich zu klären, welche fatalen Auswirkungen ethisch indifferente Superstrukturen (Arnold Gehlen) anrichten können.
Volksentscheide erzwingen!
Diese Probleme schiebt das politische Personal entscheidungsunfähig vor sich her. Da die Parteien nicht in der Lage sein werden, von sich aus Konturen zurückzugewinnen und im Parlament auf Entscheidungen zielende Debatten zu führen, muß ein Impuls von außen kommen. Realistisch betrachtet kann dieser nur vom Volk ausgehen. Der gesunde Menschenverstand der Bürger ist das letzte noch nicht historisch verbrauchte Mittel, der sich gegen die Apparate mit ihren gleichförmigen Entscheidungen durchsetzen muß. Was heißt das politisch? Wir müssen Volksentscheide erzwingen, denn auch wenn die Massen nicht in der Lage sind, die Komplexität der politischen Lage zu erkennen, so sind sie dennoch fähiger, vernünftige Entscheidungen zu treffen als die politische Klasse.
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