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mercredi, 07 décembre 2011

„Rußland braucht eine andere Entwicklung“

„Rußland braucht eine andere Entwicklung“

Johannes Hübner im ZZ-Gespräch über das „System Putin“, die Probleme Rußlands und Moskaus geopolitische Ambitionen

Ex: http://www.zurzeit.at/

1249876823.jpgAm Sonntag haben die Delegierten der Partei „Geeintes Rußland“ einstimmig Wladimir Putin als Kandidaten für die Präsidentenwahl im März 2012 vorgeschlagen. Kommt es zur Perpetuierung des „Systems Putin“, sofern es ein solches überhaupt gibt?

Johannes Hübner: Ein System Putin gibt es zweifellos, und eine „Perpetuierung“ dieses Systems wird es auch geben. Allerdings wird es auch Änderungen im System geben, weil Putin sicherlich die Fehler im wirtschaftlichen System verstanden hat. Denn in Rußland ist wieder eine Art Ära der Stagnation eingekehrt, und nach dem Ende des Immobilien- und Ölbooms 2008/2009 ist die russische Wirtschaft nicht mehr wirklich in Schwung gekommen. Die vorhandenen Probleme, vor allem der riesige technologische Rückstand, das Fehlen einer starken industriellen Basis, die erneuten Schwächen in der Finanzwirtschaft, all das macht sich jetzt in der weltweiten Weltwirtschaftsabflachung bemerkbar.

Westliche Kritiker werfen dem Kreml vor, eine gelenkte Demokratie zu betreiben. Braucht Rußland aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrungen – 70 Jahre Kommunismus – vielleicht einen Sonderweg und eine andere Entwicklung?

Hübner: Es braucht jedenfalls eine andere Entwicklung als Westeuropa. Hier wurden über 70 Jahre alle politischen Strukturen nicht zur zerstört, sondern regelrecht vernichtet. Abweichende Meinungen wurden ja nicht nur mit dem Ausschalten aus dem politischen Leben, sondern mit der Liquidierung oder in der Endphase mit der Psychiatrisierung bestraft. Aber Rußland hat einen Weg genommen, der im Kern doch ein demokratischer ist, hat aber diejenigen, die die Demokratie mißbraucht und zur Ausplünderung des russischen Volkes verwendet haben...

... also die neoliberalen Reformer der Jelzin-Ära?

Hübner: Ja, diese wurden im „System Putin“ – wenn man diesen Begriff verwenden will – zurückgedrängt bis ausgeschaltet, wodurch für uns der Eindruck ensteht, als ob Rußland keine mit uns vergleichbare Demokratie wäre.

Vor 20 Jahren ist die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden. Wie groß sind denn im heutigen Rußland die postimperialen Phantomschmerzen?

Hübner: Die sind sicher vorhanden. Wenn man mit Russen spricht, merkt man immer wieder die Sehnsucht nach vergangener Größe. Schließlich ist es in der russischen Seele über Jahrhunderte verankert gewesen, daß man Teil eines großen Imperiums ist. Zwar ist Rußland immer noch der größte Flächenstaat der Welt, hat aber durch die Amputationen 1991 ungefähr ein Drittel seiner Wirtschaftskraft und seiner Bevölkerung verloren und es hat vor allem in den Jahren unmittelbar vor und nach dem Ende der Sowjetunion einen Großteil seine militärischen Bedeutung eingebüßt, weil durch den wirtschaftlichen und technologischen Niedergang eine mit den USA und heute auch mit China gleichwertige Rüstung nicht mehr finanzierbar war.

Im Oktober kündigte Präsident Medwedew die Gründung einer Eurasischen Union an, der neben Rußland die zentralasiatischen Staaten angehören sollen. Sehen Sie darin den Versuch der Restauration vergangener Größe oder wendet sich Rußland von der EU ab und dem Osten zu?

Hübner: Beides. Die Staaten, die für diese Union vorgesehen sind, sind ehemalige Sowjetstaaten, die stark von der russischen Kultur geprägt sind und deren Verlust bis heute schmerzt. Auf der anderen Seite müssen die Russen realistischerweise sehen, daß sie in der EU, vor allem in der veröffentlichten Meinung, wo der Staat als Diktatur und Neoimperium dargestellt wird, nicht willkommen sind. Deshalb gibt es die Hinwendung nach Osten, die aber nicht neu ist: In der Schanghai-Gruppe reicht die Zusammenarbeit mit China und den asiatischen Ex-Sowjetrepubliken ja schon zehn Jahre zurück. Auch sind sich viele Kreise in Rußland darüber im Klaren, daß die Brücke nach Europa schwer zu schlagen ist, weil es nicht nur die Atlantiker gibt, die Rußland prinzipiell als Feinde der amerikanischen Vormacht ablehnen, sondern auch die ehemaligen Satellitenstaaten, wo es aufgrund der furchtbaren geschichtlichen Erfahrungen sehr starke antirussische Reflexe gibt. Hier sind es vor allem die Polen und die Balten, die sehr stark auf der Bremse stehen.

Kann Moskau aufgrund des rasanten Aufstieg Chinas und wegen des eigenen Bevölkerungsschwunds überhaupt eine gleichwertige Partnerschaft mit Peking bilden?

Hübner: Eine ganz gleichberechtigte nicht mehr, aber eine weitgehend gleichberechtigte, weil China nicht allzuviel Wahl hat. Ein chinesisch-amerikanisches Bündnis ist aufgrund des amerikanischen Selbstverständnisses nicht vorstellbar, und die anderen potentiellen Partner in Südostasien sind entweder zu klein oder aufgrund historischer Ressentiments oder Ängste nur bedingt paktfähig wie etwa Südkorea oder Japan.

Daher kommt nur Rußland als größtmöglicher Partner in Betracht, das alleine aufgrund seiner Weltraumtechnologie und seines Nukleararsenals immer noch eine Macht ist. Zudem hat Rußland Militärtechnologie, die die Chinesen zwar zu entwickeln versuchen, aber wo sie noch sehr weit hinten sind. Das betrifft die Raketentechnologie, aber auch die Flugzeugtechnologie. Hier sind die Chinesen in ihrem Aufholprozeß erstaunlich langsam.

Bei verschiedenen Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union und Rußland werden in blumigen Worten Absichtserklärungen beschlossen, während in der Politik keine konkreten Taten folgen. Besteht seitens der Europäischen Union überhaupt der politische Wille, die Beziehungen zu Moskau zu verändern, bzw. wird die EU, obwohl dieser Wille besteht, von den USA daran gehindert?

Hübner: Die EU ist sehr gespalten: Es gibt Staaten wie Deutschland, wo sich Teile der Politik sehr bemühen, das Verhältnis zu Rußland dauerhaft zu entspannen bzw. zu einer wirtschaftlichen Allianz zu kommen, während Länder wie Großbritannien, die sehr stark im amerikanischen Fahrwasser segeln, das nicht wollen. Frankreich schwankt zwischen starker Annäherung wie unter Chirac und neuer Vorsicht der transatlantisch orientierten Regierung Sarkozy. Auch die Italiener sind schwankend, wobei in der Ära Berlusconi viel Rücksicht auf amerikanische und israelische Wünsche genommen wurde und diese Wünsche gehen nicht in Richtung einer Annäherung an das Putin-Rußland.

Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz.

 

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