Der Geist stand links. Viele Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert lang. Wo steht der Geist heute? Jedenfalls nicht mehr links und er steht unter heftigem Beschuß. Das war auch das Thema der Dankesrede des französischen Autors Michel Houellebecq anläßlich der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises in Berlin. Bis hin zu blankem Haß reichen die Schmähungen, denen er sich seitens der französischen „Progressiven“ ausgesetzt sieht.
Was ist geschehen? Sind die originellsten Köpfe, in Deutschland etwa Botho Strauß und Peter Sloterdijk, plötzlich konservative Bourgeois geworden? Mitnichten. Sie folgen nur den Themen, deren Diskussion not tut, nicht dem immer gestrigeren offiziösen Zeitgeist. Und warum sollten sie auch links sein? Die bürgerliche Gesellschaft ist überwunden, die Massendemokratie etabliert.
Qualitative Unterschiede gibt es nicht mehr
Es gibt keine qualitativen Unterschiede mehr, nur noch quantitative nach Kontostand und Bildungsferne. Der linke Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Daß er schon gegangen ist, sieht man am intellektuellen Absturz von Antonio Gramsci zum Links-Trash der Spiegel-Kolumnistin Sibylle Berg. Oder zur Weltanschauung der Berufsprogressiven in den Medien: Friede-Freude-Eierkuchen-Pazifismus verknüpft mit der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Grundsicherung.
Houellebecqs Auseinandersetzung mit dem Pariser Mainstream begann spätestens 2002. In jenem Jahr fand er sich zusammen mit Philippe Muray und Maurice Dantec, zwei inzwischen verstorbenen und hierzulande unbekannten Autoren, als „nouveaux réactionnaires“, als Neue Reaktionäre im Fadenkreuz des Pariser Publizisten Daniel Lindenberg wieder.
Frontlinie seit 2002
Der hatte in seinem Essay „Aufruf zur Ordnung“ die Rückkehr der „archaischsten Leidenschaften“ ebenso hellsichtig vorhergesagt wie die neue Verachtung der Massenkultur und die Vorbehalte gegen den Islam, den Widerstand gegen die demokratische Gleichmacherei und den Widerstand gegen die Auflösung, aus Sicht der Verächter, des „souveränen Staats im Morast der individuellen Rechte“, der „Nation in der großen euro-globalisierten Suppe“, des Volkes in der Zivilgesellschaft und der Kultur in multiethnischer „Jugendhaftigkeit“.
Damit war die Frontlinie schon 2002 scharf gezogen. Lindenberg bescherte sein Essay vor allem Kritik. Die linken Konsum-, Kapitalismus- und Globalisierungsgegner hatten sogleich erkannt, daß der von ihm geprägte Begriff „Neue Reaktionäre“ nicht nur die üblichen Verdächtigen auf der Rechten subsumierte. Quasi über Nacht entstand das Bewußtsein einer intellektuellen Querfront, die vielen der neuen Bettgenossen alles andere als angenehm war.
„Progressivismus“ am Werk
Am Grund der Lindenbergschen Thesen sieht Houellebecq einen „Progressivismus“ am Werk, der jede Innovation unterschiedslos als positiv begrüßt – allein deshalb, weil sie Neues bringt. Es ist ein Glaube, der vorbehaltlos voraussetzt, daß „wir in der besten aller Epochen leben und daß jede wie auch immer geartete Innovation diese, allen voraufgegangenen Epochen überlegene Epoche noch weiter verbessern wird“.
Wer sich dem entgegenstellt, wer für den Erhalt der je besonderen Kultur, der Sprache und überhaupt des Andersseins von Gruppen oder Gesellschaften eintritt, ist per definitionem ein Neuer Reaktionär. Was sind nun die drohenden „Innovationen“, denen aus europäischer Sicht Widerstand gebührt?
Erinnerung an 1933 stand Pate
Folgt man Houellebecq, sind das zum einen der Transhumanismus, die technologische Weiterentwicklung des Homo sapiens, zum anderen die schleichende Ausbreitung des Islam. Der Scharia-Glaube ist auch das Thema seines Buches „Unterwerfung“ (2015) – im Zentrum steht die Machtergreifung einer islamistischen Partei in einem zukünftigen Frankreich, die von linken und liberalen Kräften unterstützt wird.
Die Erinnerung an 1933 dürfte Pate gestanden haben; damals waren es die Bürgerlichen, die den Nationalsozialisten in den Sattel halfen. Houellebecq erwartet von Linken und Liberalen nichts anderes. Einer spirituellen Macht wie dem Islam könne sich nur eine andere spirituelle Macht entgegenstemmen, etwa das Judentum oder das Christentum. In der Vergangenheit habe auch die republikanische Gesinnung über vergleichbare Macht verfügt.
Wettstreit um die Geburtenzahlen verloren
Und heute? Houellebecq zitiert seinen toten Dichterfreund Philipp Muray: „Liebe Dschihadisten! Fürchtet den Zorn des Mannes in Bermudashorts! Fürchtet die Wut des Konsumenten, des Reisenden, des Touristen, des Urlaubers, der aus seinem Wohnwagen steigt!“
Den Wettstreit um die Geburtenzahlen hat Europa bei einer Reproduktionsrate von deutlich unter zwei Kindern je Frau jedenfalls verloren. Da sowohl das Paar aus Mann und Frau, als auch die Familie im Pantheon der Lebensformen keine Bedeutung mehr haben, hält Houellebecq auch sämtliche intellektuellen Debatten für hinfällig, ob über die Trennung von Kirche und Staat, über den Islam oder worüber auch immer.
Nur Schriftsteller stoßen Diskurse an
Überwältigt vom europäischen Schicksal verliert der Begriff des Intellektuellen an sich seinen Sinn. Einer Gesellschaft, die sich dem generationellen Selbstmord und der abzusehenden Unterwerfung unter eine spirituell stärkere Macht verschrieben hat, hilft kein Nachdenken über sich selbst.
Nur die Schriftsteller, also „Leute, die sich für das wirkliche Leben von Menschen interessieren“, hätten in den letzten 20 Jahren noch einen interessanten und bedeutsamen Diskurs über den Zustand der Gesellschaft zustande gebracht. Mit Friedrich Hölderlin: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“
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