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dimanche, 28 juin 2009

Philosophie der Übung und der Charme der Disziplinlosigkeit

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Philosophie der Übung und der Charme der Disziplinlosigkeit

Geschrieben von Felix Menzel - http://www.blauenarzisse.de/   

Viel Disziplin ist nötig, um dem Artisten Peter Sloterdijk bei dem Entwurf seiner Philosophie der Übung auf über 700 Seiten zu folgen. Wahrscheinlich werden deshalb nur Sezessionisten, die sich bereits in höhere Zonen abgesetzt haben, sein neues Werk „Du mußt dein Leben ändern“ wirklich vollständig lesen. Die Gewöhnlichen, die eine Trainingseinheit mit Sloterdijk dringend bräuchten, dürften hingegen gefahrlos an dem absoluten Imperativ vorbeikommen und werden sich lieber an den Tipps zum professionellen Rumgammeln von Kathrin Passig und Sascha Lobo orientieren.

Und während sich bei Sloterdijk automatisch ein distanziertes Leseverhalten einstellt, kann man bei Lobo und Passig gerade als Student natürlich mitfühlen, denn jeder angehende Akademiker dürfte schon einmal Aufgaben vor sich hergeschoben und ein paar Tage im universitären Trott rumgegammelt haben. Die beiden Blogger und Werbetexter sind Profis auf diesem Feld und nennen dieses Verhalten in ihrem mal eben geschriebenen Buch über die Dinge, die ohne Selbstdisziplin irgendwie auch funktionieren, hochwissenschaftlich „Prokrastination“. Dahinter verbirgt sich aber nicht viel mehr als professionelles Rumlümmeln, währenddessen sich die Arbeit auf mysteriöse Art und Weise selbst machen muß.

Faul sein und dabei Arbeit erledigen

Die Theorie dahinter: Wenn man Dinge vor sich herschiebt, muß man in dieser Zeit andere Dinge tun. Dadurch erledigt man durch das Verdrängen von Aufgaben gewisse andere Aufgaben und macht sich so nützlich und kommt über die Runden. Toll, was?

Bereits in
„Wir nennen es Arbeit“ hatte Studienabbrecher Lobo mit seinem Kumpel Holm Friebe verkündet, Arbeit sei auch jenseits der Festanstellung und des zermürbenden Acht-Stunden-Arbeitstages möglich. Als freier Schriftsteller mag das funktionieren. Wie aber sieht es beim normalen Mechaniker, Zahnarzt oder Ingenieur aus? Und wie bitte schön soll eine einfache Verkäuferin bei ALDI mit zwei Kindern ohne Selbstdisziplin zurechtkommen?

Hier kommt der ernste Peter Sloterdijk ins Spiel, der in „Du mußt dein Leben ändern“ das unpopuläre Projekt angeht, wenig angesagte Begriffe wie Übung, Disziplin, Tugend und Leistung mit Leben zu füllen. Sloterdijks Ziel ist es, „den Menschen als das Lebewesen zu enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht“. Gerade durch ihren geregelten Tagesablauf schaffe es also die ALDI-Verkäuferin, alle ihre Aufgaben ordentlich zu erledigen. Durch Disziplin und Übung entsteht ein Immunsystem, was gegen die Verführungen des Alltags, den Schlendrian und Müßiggang, schützt, läßt uns der Karlsruher Philosoph wissen.

Der Mensch, das übende Wesen

Sloterdijk begeht jedoch nicht den Fehler, in Übung und Disziplin ein Allheilmittel zu sehen, denn auch Gewöhnlichkeit sei antrainiert. Der Mensch könne sich also durch Übung sowohl nach oben – zum Besseren – als auch durch Negativtraining zum Schlechteren entwickeln. Der Mensch ist damit anders als bei einigen Strukturalisten nicht von sämtlicher Verantwortung für sich selbst freigesprochen.

Übung – richtig eingesetzt – mache vielmehr den Meister. Wie diese „Aufschwünge ins Übergewöhnliche“ gelingen können, zeigt Sloterdijk an verschiedenen Künstlern, Intellektuellen und außergewöhnlichen Menschen. Er nennt sie Sezessionisten, die sich selbst neue, schwierigere Übungsformen gestellt haben. Der ohne Arme geborene Carl Herman Unthan (1848-1929) z.B. schaffte es mit einem unbändigen Übungswillen und viel Virtuosität mit den Füßen Geige zu spielen. Selbst körperlich Benachteiligte können also ihre Schwächen vielleicht sogar in phänomenale Stärken umwandeln.

Wer wagt die Sezession?

Anspruchslose Pseudo-Intellektuelle des Fabrikats Kathrin Passig, die immerhin schon mal den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat, und Sascha Lobo hingegen zeigen, daß die Sezessionisten heute rar gesät sind. Auch Sloterdijk erkennt dies. Es gebe in unserer modernen, demokratischen Gesellschaft kein Recht mehr auf Absonderung, so der Philosoph.

Wenn dieses Recht nicht mehr besteht, müssen es sich die wahrhaft klugen Köpfe eben einfach ohne Rücksicht auf ihr soziales Renommee nehmen. Eitelkeiten sind derzeit nicht gefragt, denn es geht um viel zu viel. Für die Normalsterblichen gilt derweil: Schwierige Zeiten kurbeln die Konjunktur der Selbstdisziplin an und jeder ist in der Krise für seine geistige und körperliche Fitneß selbst verantwortlich. Bald wird daran niemand mehr zweifeln.

00:10 Publié dans Philosophie | Lien permanent | Commentaires (0) | Tags : philosophie, allemagne | |  del.icio.us | | Digg! Digg |  Facebook

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