Dass eine Weltanschauung „wissenschaftlich“ sein könnte, wie das seinerzeit der Sozialismus von sich behauptete, glaubt heute niemand mehr. In unserem „nachideologischen Zeitalter“ verhalten sich Wissenschaft und Weltanschauung zueinander wie Wasser und Öl. Anders steht es natürlich mit der wissenschaftlichen Untermauerung von Weltanschauungen. Hier, in diesem besonderen Fall, bedeutet „Wissenschaft“ nämlich etwas ganz anderes als „Forschung betreiben um seiner selbst willen“.
Wissenschaft als Ideologie
Anstatt sich von der Tatsachenwelt und ihren Wissensinhalten leiten zu lassen, wie es die nüchterne Wissenschaft eben aus Gründen der Wissenschaftlichkeit fordert, ist die mit der Weltanschauung verbundene Wissenschaft bestrebt, es genau anders herum zu tun: Die durch die Wissensinhalte des Erfahrungsstoffs gesicherte Welterkenntnis soll dazu dienen, in die Tatsachenwelt einzugreifen, sie zu beeinflussen, zu leiten, zu verändern oder umzubauen. Der von Nietzsche aller Wissenschaft unterstellte „Wille zur Macht“ ist bei der nüchternen Wissenschaft bloß der Aufgabensteller bzw. Auftraggeber in Form einer außerwissenschaftlichen Motivation. Bei der weltanschaulich eingefärbten Wissenschaft – der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ – ist der „Wille zur Macht“ ein Grundtrieb und überhaupt das Forschungsmotiv schlechthin.
Der „Positivismus“ Auguste Comtes (1798−1857) zeigt, dass die „wissenschaftliche Weltanschauung“, also Wissenschaft als Ideologie, längst Realität ist. Wissenschaftsgeschichtlich, noch mehr aber ideologiegeschichtlich, ist dabei wichtig zu wissen, dass die „wissenschaftliche Weltanschauung“ Comtes von vornherein in einem inzestuösen Verhältnis zum „wissenschaftlichen“ Sozialismus stand: sie ist sowohl sein älterer Bruder als auch dessen Mitvater: Seit den Tagen des gemeinsamen Stammvaters, Claude-Henri Graf von Saint-Simon, bedingen und durchdringen sich Positivismus und Sozialismus nämlich gegenseitig. Diese Wechselbeziehung ist nachweisbar bei so unterschiedlich gearteten Denkern wie Karl Marx, den französischen Soziologen, namentlich Emil Durkheim und seinen Schülern, dem amerikanischen Ökonomen Thorstein B. Veblen – dessen Ideen die „technokratische Bewegung“ in den USA inspirierte –, Lenin sowie den „Ingenieur“ der europäischen Integration, Jean Monnet.
„Positive Politik“ als Gesellschaftsregelung
Der Positivismus Comtes vereinigte ganz bewusst von Anfang an Gegensätzliches: Tradition und Revolution sollten sich in einer entwicklungsfähigen Synthese die Waage halten und gegenseitig vervollständigen. Zu diesem Zweck mussten beide soziale Sprengstoffe entschärft werden. Aus „Tradition“ machte Comte kurzerhand „Ordnung“, d.h. „Struktur“, „Statik“, die „Revolution“ wurde von ihm zu „Fortschritt“, zur gesellschaftlichen Dynamik umfunktioniert.
Innerhalb einer die Französische Revolution fortsetzenden Epoche, die von Comte als eine „kritische“ empfunden wurde, erschien ihm sein „Positivismus“ die einzig gangbare Möglichkeit, die Gesellschaft aus revolutionärem Chaos und intellektueller Anarchie zu befreien und neu zu organisieren. Es ging ihm vornehmlich darum, eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen, die mit dem von Wirtschaft und Wissenschaft bewirkten gesellschaftlichen Fortschritt vereinbar war. Zu diesem Behuf erfand er die „Soziologie“, deren Selbstverständnis von nun an das einer „Krisenwissenschaft“ sein sollte: Geboren aus der Krise sollte sie wissenschaftlich eine definitive Antwort auf diese geben. Die „alte“ Politik hatte bei dieser Aufgabe versagt, die wissenschaftlich begründete „positive Politik“ sollte sie ablösen. „Wissenschaftlich begründet“ heißt im Sinne von Comte, „voir por prévoir“ – sehen [was ist] um vorauszuschauen [was kommen wird]. Die „positive Politik“ bestand folglich in der wissenschaftlichen Erfassung und Beherrschung der gesellschaftlichen Tatsachen, also in Gesellschaftsregelung.
Objektivität und Vernunft anstatt Affektgeladenheit
Zur Zeit seiner geistigen Reife überwogen bei Comte die Ordnungsvorstellungen der französischen Traditionalisten Louis de Bonald und Joseph de Maistre. Comte selbst bewerkstelligte die Umwandlung des traditionalistischen Ordnungsdenkens in „Positivismus“. Diese Umwandlung, die in Deutschland ihre Parallele findet in der Umwandlung der Hegelschen Ideal-Dialektik in eine Real-Dialektik durch Marx, trägt einer Sachlogik Rechnung, die den Konservatismus immer dort überfällt, wo Geist, Metaphysik, Idealismus, Gottglaube, Leidenschaft, Phantasie und Liebe chirurgisch aus ihm entfernt wurden. Sobald man den Konservatismus nämlich seiner ureigensten Werte und Affektverbundenheiten entkleidet, zerfällt er zu „Positivismus“– in Schicksal, dass sich seit Comte unzählige Male im konservativen Lager wiederholt hat.
Der Linken galten Comtismus und Positivismus als eine Abart des Konservatismus, der „Szientismus“ war für sie „reaktionär“. Konservative witterten in ihm ein sozialrevolutionäres Ferment. Dieses Janusgesicht, mal konservativ bzw. reaktionär, mal sozialrevolutionär zu sein, ist ganz charakteristisch für den Positivismus. Das hat aber nichts mit der Dialektik des Konservatismus zu tun, der in fortlaufender Auseinandersetzung mit der „fortschrittlichen“ Gegenwart dahin tendiert, revolutionär zu werden. Selbst innerhalb zeitbedingter äußerer Wandlungen behält der Konservatismus sein ihm eigenes Pathos. Und gerade diesem Pathos stellt der Positivismus sein Ethos entgegen: Der Positivismus ist grundsätzlich „sachlich“ und „tatsachenorientiert“, im Gegensatz zu jeglicher Affektgeladenheit ist er objektiv. Überhaupt sind den Positivisten Objektivität und Vernunft einerlei, Vernunft besteht für sie darin, mit der Zeit zu gehen, und nicht etwa zurück – oder nach oben, gen Himmel –, nicht ins eigene Herz, sondern nur vorwärts zu schauen.
Gegen Sentimentalismus und Ideologie?
Der Einbruch des Positivismus in den Konservatismus droht überall da, wo Fragen der „Organisation“ und der technisch-technologischen Regelung in den Vordergrund treten. Der Positivismus, der sich anschickt, sich aus dem Konservatismus herauszuschälen, verlangt immer eine ihm sehr gelegene Entscheidung zwischen „Ideologie“ und „Vernunft“, d.h. der Vernunft des Positivismus. Für den Organisator und den allein den Erfolg anvisierenden Sachverständigen haben Ideologie „immer nur die Andren“, und selbst der Konservatismus, für den er doch zu kämpfen meint, ist für ihn, wenn nicht selbst schon „Ideologie“, so doch durch Ideologeme sowie alle Art von „Sentimentalismen“ stark verunreinigt.
Er hingegen bemüht sich in perfekter positivistischer Reinlichkeit und Leidenschaftslosigkeit um die Lösung praktischer Problem, woraus sich schnell bei ihm die Überzeugung ergibt, diese seien wichtiger als Grundsatzfragen. Ganz charakteristisch werden diese mal als „Romantik“, mal als „Reaktion“ abgetan. Immer handelt es sich bei ihnen für den Positivisten um unnütze Energie– und Zeitvergeudung. Ironischerweise leistet aber gerade diese durch den Willen zur Macht bezeichnete Sichtweise einer Gesinnung der Anpassung und Fügsamkeit Vorschub. Eine solche ist aber mit dem Konservatismus, der alles andre als ein ideologischer Anstrich und auch keine bloße Weltanschauung, sondern eine geistige Lebensform ist, nicht zu vereinbaren.
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