Verwackelte Aufnahmen von einer Anhöhe zeigen etwas, dass einem Katastrophenfilm entnommen sein könnte. Mächtige, schwarzbraune Fluten wälzen sich durch eine Stadt, schieben ganze Häuser vor sich her, nehmen Autos und Trümmer mit sich, von denen jedes einzelne Teil ein tödliches Geschoß darstellt. Die Gewalten preschen gegen Hochhäuser, zertrümmern alles, was sich die Menschen hier aufgebaut haben. Inmitten dieser Aufnahmen, aus dem Hintergrund, dringen einzelne Schreie. Die Laute sind von Verzweiflung belegt, von Fassungslosigkeit durchdrungen – und doch nicht panisch.
Es sind die ersten Minuten von Vorfällen, deren Folgen die halbe Welt seit über einer Woche in Atem halten. Und die uns alle verändern werden.
Die Ereigniskette: Erst Naturkatastrophe, dann drohender GAU
Am elften März erschütterte ein Unterwassererdbeben vor der Hafenstadt Sendai halb Japan. In der Multimillionenstadt Tokio bleiben die Schäden und Verletzten weitgehend überschaubar, doch die Region um Sendai hat es schwerer getroffen. Städte und Dörfer sind zerstört, die Menschen noch vor Schreck benommen, da prescht ein, vom Erdbeben ausgelöster, 23 Meter hoher Tsunami auf das dicht besiedelte Gebiet zu. Das Wasser zerstört das, was das Erdbeben übriggelassen hat. Man hielt es nicht für möglich, doch als seien diese Probleme nicht schwerwiegend genug, befürchtet das Land nun auch noch einen atomaren Super-GAU, weil das Atomkraftwerk Fukushima in Mitleidenschaft gezogen wurde. Keiner von uns konnte sich im Laufe der letzten Tage den Bildern entziehen.
Die neue Dimension des Leids weltweit vor Augen
Wir alle sahen schon Berichte aus Kriegsländern oder Krisengebieten – sei es in Afrika oder im asiatischen Raum. Erst vor wenigen Wochen bewegten uns die Bilder von der afrikanischen Flüchtlingswelle auf die italienische Insel Lampedusa: Tausende, verzweifelte Menschen, die Hilfe suchten, keine fanden, resignierten oder panisch wurden. Erwachsene Männer, die Hilfsgüter wegschleppten, die sie auch Frauen und hungrigen Kindern aus den Händen gerissen hatten. Ein Ellenbogenverhalten, das ganz Darwins Theorien entspricht – nur die Stärksten überleben, die „Bestangepassten“. Gutmenschen hielten dieses Leid für kaum zu übertreffen. Doch das Leid hat seit dem elften März 2011 eine neue Dimension erhalten.
Lächerlich erscheinen die 300 Toten, die knapp nach dem Unglück am Freitag gemeldet wurden. Momentan schätzt man, dass es am Ende mehr als 17000 Todesopfer zu beklagen geben wird – und das nur falls es nicht zu einem Atom-Super-GAU kommt. Es ist unmöglich alle Toten zu finden. Tausende wurden unter meterhohen Trümmern begraben, unzählige von den Fluten wieder ins Meer gespült. Kaum ein Mensch in Sendai und in der Umgebung hat niemanden verloren. Vor allem die Alten und Kinder, von denen nun viele Waisen sind, haben es schwer. Es werden auch von den Überlebenden noch viele sterben, seien es durch die Kälte, die mangelnde medizinische Versorgung oder durch Krankheiten, die sich zwangsläufig innerhalb der nächsten Tage und Wochen in den Flüchtlingslagern einstellen werden.
Irritierende Ruhe: Von einem uns seltsam fremden Anstand
Doch weswegen gerät niemand in Panik? Warum sieht man keine Menschen, die Versorgungswagen stürmen oder die Auffanglager überrennen? Trinkwasser wird knapp, in dem eigentlich hochtechnisierten Land ist die Infrastruktur um Sendai fast vollkommen zerstört, kaum einer kommt rein, niemand raus. Es herrschen chaotische Zustände. Doch vielen von uns fällt bei den Bildern, die aus den Auffanglagern dringen etwas auf. Es gibt keine Tränen, keine Schreie, nur die Wenigsten sind von der Lethargie eines Schocks gelähmt.
Keine Menschen rotten sich zusammen, um anderen irgendetwas wegzunehmen und sei es auch nur die tägliche Überlebensration. Im Gegenteil, es wird geholfen, geteilt, Nachbarn und Verwandte, die sich im Heer der Vermissten wiedergefunden haben, umarmen sich und schwören, einander beizustehen. Eine Frau wird interviewt, die sich fremder Kinder angenommen hat. Eine andere lächelt zuversichtlich in die Kamera, meint, sie würde auf die Hilfe der Regierung vertrauen. Von Politikverdrossenheit, ja sogar Hass auf die Landesoberhäupter, die scheinbar viel zu lange in der Atompolitik schluderten und nun sogar den ausländischen Hilfsorganisationen von der Einreise abraten, weil es zu schwierig sei in das Katastrophengebiet zu kommen, ist keine Spur. Noch herrscht größtenteils Vertrauen und Zuversicht.
Verhaltensstrategien: Gewöhnung an Katastrophen kann tödlich sein
Doch warum ist diese Mentalität so schwer für uns zu begreifen? Ein Grund für die Ruhe der Japaner mag ihre Erfahrung sein. Natürlich sind sie Menschen wie wir, haben dieselben Gefühle, die gleichen Ängste. Doch die Gewöhnung spielt eine gewaltige Rolle. In kaum einem Land der Welt ist man so erfahren darin mit Naturkatastrophen umzugehen wie dort. Immerhin liegt Japan direkt an zwei gewaltigen Kontinentalplatten, der pazifischen und der eurasischen Platte. Erdbebengebiet. Auch mit Vulkanausbrüchen und Tsunamis kennt man sich aus. Zweimal im Monat gibt es deutlich spürbare Erdbeben, Katastrophenübungen werden immer wieder abgehalten.
Selbst auf den Stühlen der kleinsten Schulkinder liegen Sitzkissen, die man sich über den Kopf ziehen kann, und die wenigstens einen kleinen Schutz vor herabfallenden Brocken bieten. Der Japaner ist an Katastrophen gewöhnt – und das wurde dem Volk zum Verhängnis. Als die Erdbebenwarnung kam, verließ kaum jemand sein Haus, kaum einer flüchtete oder schützte sich besonders. Zuviel Routine kann tödlich sein. Und nie zuvor war ein Erdbeben so stark oder ein Tsunami in der Region so gewaltig.
Kinder, die nicht weinen
Eine andere Ursache für die Verhaltensweisen der Bevölkerung ist die Erziehung. Japan wollte immer Stärke demonstrieren, selbst jetzt noch werden immer nur tröpfchenweise Informationen von der Regierung über das Ausmaß der Ereignisse weitergegeben. Drill, Disziplin und Ruhe sind die obersten Prinzipien mit allen Situationen umzugehen. Wer zu viele Gefühle zeigt, wird angreifbar, wird verletzlicher. In gewisser Weise ist gerade diese Ruhe der größte Schutzmechanismus der Japaner. Selbst die Kleinsten sind darauf eingeschworen. Beinahe unheimlich erscheinen uns die Kinder in den Hallen der Flüchtlingslager, die kaum weinen oder schreien.
Überlebensfähig in einer Katastrophensituation ist nur der, dem es gelingt, die größten Schrecken vorübergehend auszublenden. Nur deswegen ist es wohl vielen Menschen möglich inmitten der Trümmer zu stehen oder sich in einer langen Schlange ruhig vor den Essensausgaben anzustellen. Nur deswegen hört man überall, dass es weitergehen muss und wird. Verleugnung der Situation könnte man behaupten. Doch wenn den Menschen nichts mehr bleibt, außer dem, was sie am Leib tragen, wenn der schlimmste Fall eintritt, dann kann die Hoffnung das letzte sein, was eine ganze Region vor dem Irrsinn bewahrt. Auch nach den Ereignissen spulen die Japaner ihr Programm ab, wissen, was zu tun ist. Die Japaner sind Stehaufmännchen, keine Frage. Sie bleiben befremdlich ruhig, tun, was ihnen gesagt wird. Denn Panik würde die Lage nicht verbessern.
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