Ok

En poursuivant votre navigation sur ce site, vous acceptez l'utilisation de cookies. Ces derniers assurent le bon fonctionnement de nos services. En savoir plus.

mercredi, 30 mars 2016

Einwanderung macht unsolidarisch

Ex: http://www.faz.net

Am vergangenen Wochenende machte der Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel mit einer Bemerkung von sich reden, die für die Bewältigung der Flüchtlingskrise in Deutschland nicht gerade optimistisch stimmt. „In die Gesellschaft hat sich ein Satz gefressen: ,Für die Flüchtlinge macht ihr alles, für uns macht ihr nichts.‘ Der Satz ist supergefährlich“, sagte er.

Der Wirtschaftsminister gab sich damit als Anhänger einer Theorie zu erkennen, die unter Politikwissenschaftlern als „welfare chauvinism“ bekannt ist, zu Deutsch: Wohlfahrts-Chauvinismus. Dahinter steckt die Idee, dass ein hoher Grad an gesellschaftlicher Homogenität die Voraussetzung für einen funktionierenden Sozialstaat ist – und dass die Gesellschaft eines Landes umso unsolidarischer wird, je mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln dort leben. Um gesellschaftliche Unruhe zu vermeiden, muss man den Einheimischen nach dieser Logik in Zeiten hoher Einwanderung ausdrücklich zusichern, dass ihnen durch die Neuankömmlinge kein Nachteil entsteht.

Den Sozialstaat für die „Richtigen“ bewahren

Das betrifft insbesondere ärmere, weniger gut ausgebildete Menschen, die meist für Umverteilung plädieren, weil sie ihnen nützt. Sie sind nach dieser Theorie nicht bereit, armen Einwanderern das gleiche Maß an sozialstaatlicher Versorgung zuzugestehen. Können sie nicht durchsetzen, dass solche Leistungen nur den eigenen Landsleuten zugutekommen, kann es irgendwann passieren, dass sie sich gegen Umverteilung aussprechen – obwohl sie sich damit selbst schaden.

Populistische Parteien in ganz Europa haben das Spiel mit solchen Ängsten längst zum politischen Programm erhoben: Sie schimpfen auf die „Mainstream-Parteien“, die sich vermeintlich nicht ausreichend um die Sorgen des „kleinen Mannes“ kümmern, und versprechen, den Sozialstaat zu bewahren – allerdings nur für die „Richtigen“, sprich: nicht für die Ausländer. Doch auch die gerügten Parteien in der politischen Mitte machen sich den Wohlfahrts-Chauvinismus längst zu eigen. In Großbritannien will Premierminister David Cameron die Zahlung von Sozialleistungen an EU-Bürger einschränken. Und Sigmar Gabriel ließ seiner Warnung eine Forderung folgen: Wer viel Geld für Flüchtlinge ausgebe, müsse parallel auch ein Solidarpaket für Deutsche auflegen.

Es lohnt sich deshalb zu untersuchen, ob die Theorie, die solcherlei politische Manöver motiviert, überhaupt stimmt. Wollen die Menschen in multikulturellen Gesellschaften wirklich weniger Umverteilung, also einen schwächeren Sozialstaat? Und wenn ja: Stecken dahinter wirklich in erster Linie die Ängste der Armen?

Unterstützung sinkt mit steigendem Ausländeranteil

Tatsächlich gibt es eine Reihe von empirischen Belegen für die Beobachtung, dass die Unterstützung für den Sozialstaat sinkt, je weniger homogen eine Gesellschaft ist. Eine der neuesten Untersuchungen kommt von David Rueda, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oxford. Anhand von Daten der Europäischen Sozialstatistik ESS vergleicht er, inwieweit die Menschen in europäischen Staaten die Umverteilung befürworten, und kombiniert diese Ergebnisse mit Daten über den Ausländeranteil in den unterschiedlichen Ländern.

Das Ergebnis ist eindeutig. Zwar gibt es überall in Europa eine starke Vorliebe für sozialstaatliche Umverteilung. Doch zwischen der Homogenität einer Gesellschaft und der Unterstützung für Umverteilung besteht ein klarer Zusammenhang. Je geringer der Ausländeranteil in einem Land, desto höher ist die Unterstützung für Umverteilung. Die größten Fans des Sozialstaats leben in Ländern wie Portugal, die einen relativ geringen Anteil von Ausländern an der Bevölkerung haben. Am wenigsten Unterstützung für Umverteilung gibt es in sehr multikulturellen Gesellschaften, etwa in den Niederlanden und in Großbritannien. Deutschland bewegt sich im Mittelfeld.

Misst man den Zusammenhalt einer Gesellschaft also an der Unterstützung für sozialstaatliche Umverteilung, so ist ein hoher Ausländeranteil dieser Solidarität offenbar abträglich. So weit, so beunruhigend. Doch woran liegt das? Und kann eine Gesellschaft diesen Zusammenhang auflösen oder zumindest schwächen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man mehr über die Gründe für die Entsolidarisierung wissen. Die wiederum findet man, indem man untersucht, warum die Menschen den Sozialstaat überhaupt unterstützen.

Unterstützung bei den Reichen ist geringer

Betrachtet man die Motive unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, kommt man zu überraschenden Schlüssen: Es lässt sich nicht belegen, dass arme Einheimische weniger gern mit Ausländern als mit Landsleuten teilen, wie Politiker wie Gabriel offenbar befürchten. Rueda findet in seinen Berechnungen kaum Unterschiede zwischen den Umverteilungspräferenzen armer Leute in Ländern mit wenigen Ausländern und denen, die in Ländern mit vielen Ausländern leben.

Daraus schließt der Wissenschaftler, dass sich die Vorlieben der Armen überwiegend durch harte materielle Interessen erklären lassen: Ein armer Mensch profitiert immer vom Sozialstaat, egal, wie viele ausländische Nachbarn er hat. Daher wird er sich in der Regel für Umverteilung aussprechen. Es ist nicht nötig, die Ängste armer Leute mit zusätzlichen Geldgeschenken zu lindern, wie es Sigmar Gabriel vorschwebt. Einwanderung ändert an der Unterstützung der Armen für den Sozialstaat nur wenig.

Ganz anders ist es Rueda zufolge bei den Reichen. Deren Unterstützung für Umverteilung ist ohnehin geringer als die der Armen. Sie nimmt aber auch noch rapide ab, sobald mehr Ausländer im Land leben – umso schneller, je reicher jemand ist. Je heterogener eine Gesellschaft, desto weniger sind die Reichen offenbar bereit, für die Armen zu zahlen.

Effekte von Land zu Land unterschiedlich

Warum ist das so? Wiederum findet man die Erklärung, wenn man sich anschaut, aus welchen Gründen die Reichen in Europa den Sozialstaat überhaupt unterstützen. Schließlich läuft er ihren kurzfristigen materiellen Interessen eher zuwider, weil er sie zwingt, materielle Verluste zugunsten anderer in Kauf zu nehmen. Für die These, dass die Reichen für den Sozialstaat sind, weil sie Angst davor haben, selbst arm zu werden, gibt es kaum Belege.

Anstatt materieller Interessen sind es offenbar selbstlose Motive, die erklären, warum Reiche Umverteilung befürworten. Sie sind bereit, für ein höheres Maß an Gerechtigkeit im Land Einkommenseinschnitte hinzunehmen. David Rueda spricht vom „Luxusgut Altruismus“.

Allerdings, so zeigen die Analysen des Forschers, funktioniert diese Solidarität der Reichen am besten, wenn die Armen ihnen möglichst ähnlich sind. Je mehr Ausländer ins Land kommen, desto weniger solidarisch zeigen sich die Reichen, und je mehr Arme unter den Zuwanderern sind, desto schneller schreitet diese Entsolidarisierung nach Ruedas Analyse voran.

Für Deutschland ist diese Beobachtung besorgniserregend, ist doch mit den syrischen Flüchtlingen jüngst eine große Gruppe relativ armer Menschen ins Land gekommen. Hoffnung macht dagegen, dass die Größe der Effekte sich von Land zu Land stark unterscheidet. Offenbar gibt es also Wege, die Entsolidarisierung zu stoppen. Die Frage ist, welche das sind und wie schnell man sie findet.