jeudi, 26 juillet 2007
Hans J. Freyer
Hans Johannes FREYER (cf. http://www.uener.com/freyer.html )
(Lexikon Artikel im "Lexikon des Konservatismus", Leopold-Stocker-Verlag, Graz/Stuttgart 1996)
geb. 31.7.1887 Leipzig; gest. 18.1.1969 Ebersteinburg/Baden-Baden.
Deutscher Philosoph und Soziologe; Schwerpunkte historische politische Soziologie und Kulturtheorie der Industriegesellschaft.
Der Sohn eines sächsischen Postdirektors erhielt seine Gymnasialausbildung am königlichen Elitegymnasium zu Dresden-Neustadt, studierte von 1907 bis 1911 in Leipzig Philosophie, Psychologie, Nationalökonomie und Geschichte, u.a. bei Wilhelm Wundt und Karl Lamprecht, in deren universalhistorischer Tradition er seine ersten Arbeiten zur Geschichtsauffassung der Aufklärung (Diss. 1911) und zur Bewertung der Wirtschaft in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts (Habilitation 1921) verfaßte. Nach zusätzlichen Studien in Berlin mit engen Kontakten zu Georg Simmel und Lehrtätigkeit an der Reformschule der Freien Schulgemeinde Wickersdorf kämpfte F. mit dem Militär-St.-Heinrichs-Orden ausgezeichnet im Ersten Weltkrieg. Als Mitglied des von Eugen Diederichs initiierten Serakreises der Jugendbewegungverfaßte F. an die Aufbruchsgeneration gerichtete philosophischen Schriften: Antäus (1918), Prometheus (1923), Pallas Athene (1935). Von 1922 bis 1925 lehrte er als Ordinarius hauptsächlich Kulturphilosophie an der Universität Kiel, erhielt 1925 den ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie ohne Beiordnung eines anderen Faches in Leipzig und widmete sich von nun an der logischen und historisch-philosophischen Grundlegung dieser neuen Disziplin. In Auseinandersetzung mit dem Positivismus seiner Lehrer und mit der Philosophie Hegels sollten typische gesellschaftliche Grundstrukturen herausgearbeitet und ihre historischen Entwicklungsgesetze gefunden werden. Darüber hinaus ist für F. die Soziologie als konkrete historische Erscheinung, erst durch die abendländische Aufklärung möglich geworden, Äußerung einer vorher nie dagewesenen gesellschaftlichen Emanzipation zur wissenschaftlichen Selbstreflexion, drückt deshalb als "Wirklichkeitswissenschaft" in der Erfassung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels auch den kollektiven Willen aus, ist also als Wissenschaft zugleich politische Ethik, die die Richtung des gesellschaftlichen Wandels zu bestimmen hat.
F. war ab 1933 Direktor des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte an der Leipziger Universität. Als neu gewählter Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie legte er diese 1933 still, um eine politische "Gleichschaltung" zu verhindern. Den damaligen europäischen politischen Umbrüchen brachte F. als Theoretiker des Wandels zunächst offenes Interesse entgegen, fühlte sich der theoretischen Erfassung dieser Entwicklungen verpflichtet und war deshalb nie aktives Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung; er wurde später der "konservativen Revolution" der zwanziger Jahre als "jungkonservativer Einzelgänger" (Mohler) zugeordnet. Die vor 1933 noch idealistisch formulierte Konzeption des Staates als höchste Form der Kultur (1925) hat F. im Lauf der bedrohlichen politischen Entwicklung revidiert in seinen Studien über Machiavelli (1936) und Friedrich den Großen (Preußentum und Aufklärung 1944) durch einen realistischen Staatsbegriff, der ausschließlich durch Gemeinwohl, langfristige gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven und durch prozessuale Kriterien der Legitimität gerechtfertigt ist: durch den Dienst am Staat, der aber den Menschen keinesfalls total vereinnahmen darf, sowie die Prägekraft des Staates, der dem Kollektiv ein gemeinsames Ziel gibt, aber dennoch die Freiheit und Menschenwürde seiner Bürger bewahrt. Insbesondere gelang F. in der Darstellung der Legitimität als generellem Gesetz jeder Politik eine dialektische Verknüpfung des naturrechtlichen Herrschaftsgedankens mit der klassischen bürgerlich-humanitären Aufklärung: Nur die Herrschaft ist legitim, die dem Sinn ihres Ursprungs entspricht - es muß das erfüllt werden, was das Volk mit der Einsetzung der Herrschaft gewollt hat.
Als Gastprofessor für deutsche Kulturgeschichte und -philosophie an der Universität Budapest (1938-45) verfaßte F. sein größtes historisches Werk, die "Weltgeschichte Europas", eine Epochengeschichte der abendländischen Kultur. Von den politischen Bestimmungen der Amtsenthebung nicht betroffen lehrte F. ab 1946 wieder in Leipzig, wurde 1947 nach einer durch G. Lukács ausgelösten ideologischen Debatte entlassen, war danach Redakteur des Neuen Brockhaus in Wiesbaden, lehrte 1955 bis 1963 Soziologie an der Universität Münster und nahm mehrere Gastprofessuren in Ankara und Argentinien wahr. 1958 leitete er als Präsident den Weltkongreß des Institut International de Sociologie in Nürnberg und wurde mit dem Ehrendoktor der Wirtschaftswissenschaften in Münster (1957) und der Ingenieurswissenschaften an der Technischen Hochschule in München (1961) ausgezeichnet.
Zentraler Gesichtspunkt seiner Nachkriegsschriften war die gegenwärtige Epochenschwelle, der Übergang der modernen Industriegesellschaft zur weltweit ausgreifenden wissenschaftlich-technischen Rationalität, deren "sekundäre Systeme" alle naturhaft gewachsenen Lebensformen erfassen. F. weist nach, wie diese Fortschrittsordnung zum tragenden Kulturfaktor wird in allen Teilentwicklungen: der Technik, Siedlungsformen, Arbeit und Wertungen. Seine frühere integrative Perspektive einer Kultursynthese wird ersetzt durch den Konflikt von eigengesetzlichen, künstlichen Sachwelten einerseits und den "haltenden Mächte" des sozialen Lebens andererseits, die im "Katarakt des Fortschritts" auf wenige, die private Lebenswelt beherrschende Gemeinschaftsformen beschränkt sind. Jedoch bleibt die Synthese von "Leben" und "Form", von Menschlichkeit und technischer Zivilisation für F. weiterhin unerläßlich für den Fortbestand jeder Kultur, im krisenhaften Übergang noch nicht erreicht, aber durchaus denkbar jenseits der Schwelle, wenn sich die neue geschichtliche Epoche der weltumspannenden Industriekultur konsolidieren wird. F.s Theorie der Industriekultur, kurz vor seinem Tode begonnen, ist unvollendet geblieben. Sein strukturhistorisches Konzept der Epochenschwelle hat in der deutschen Nachkriegssoziologie weniger Aufnahme gefunden, während es in der deutschen Geschichtswissenschaft wesentlich zur Überwindung einer evolutionären Entwicklungsgeschichte beigetragen hat und eine sozialwissenschaftlich orientierte Strukturgeschichtsschreibung einleitete, wofür F.s Konzept der Eigendynamik der sekundären Systeme ebenso ausschlaggebend war.
F. hielt andererseits an einem gegen die Sachgesetzlichkeiten gerichteten Begriff der Geschichte als souveräne geistige Verfügung über Vergangenheit fest. Die Annahme einer selbstläufigen Entwicklung ist nach F. dem Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet, ein modernes historisches Bewußtsein hat solchen Chiliasmus abgetan. Geschichte als Reservoir von Möglichkeiten für konkrete Zielformulierungen kann Wege öffnen zur Bewältigung der Entfremdung durch sekundäre Systeme. Zugleich weist F. auf die Paradoxie eines rein konservativen Handelns hin: Ein Erbe nur zu hüten ist gefährlich, denn es wird dadurch zu nutzbarem Besitz, zum Kulturbetrieb entwertet; ebenso wird die Utopie, durchaus förderlich als idealtypische oder experimentelle Modellkonstruktion, als konkrete Zukunftsplanung zum Terror einer unmenschlichen wissenschaftlichen Rationalität. Diese Paradoxien beweisen für F. die Wirklichkeitsmacht der Geschichte, die weder bewahrt, geformt noch geplant, sondern nur spontan gelebt werden kann. F.s bleibender Beitrag besteht in der dialektischen Verschränkung und Nichtreduzierbarkeit der Dimensionen von politischer Herrschaft, wissenschaftlicher Rationalität und der sozialen Willens- und Entscheidungsgemeinschaft und in der Charakterisierung dieses dialektischen Verhältnisses als die eigentliche Dimension des "Politischen", die auch im gegenwärtigen "technisch-wissenschaftlichen Zeitalter" nicht an Bedeutung verloren hat.
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Literaturverzeichnis Hans Freyer bis etwa 1994
Bibliographie:
E. Üner: H. F.-Bibliographie, in: H. F.: Herrschaft, Planung und Technik. Hg. E. Üner, Weinheim 1987, S. 175-197.
Schriften:
Die Geschichte der Geschichte der Philosophie im achtzehnten Jahrhundert (Phil. Diss.), Leipzig 1911; Antäus. Grunlegung einer Ethik des bewußten Lebens, Jena 1918; Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts (Habil.), Leipzig 1921; Theorie des objektiven Geistes, Leipzig-Berlin 1923; Prometheus. Ideen zur Philosophie der Kultur, Jena 1923; Der Staat, Leipzig 1925; Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig-Berlin 1930; Revolution von rechts, Jena 1931; Pallas Athene. Ethik des politischen Volkes, Jena 1935; Das geschichtliche Selbstbewußtsein des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1937; Machiavelli, Leipzig 1938; Weltgeschichte Europas, Wiesbaden 1948; Die weltgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts, Kiel 1951; Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955; Schwelle der Zeiten, Stuttgart 1965.
Editionen:
Gedanken zur Industriegesellschaft, Hg. A. Gehlen, Mainz 1970; Preußentum und Aufklärung und andere Studien zu Ethik und Politik, Hg. E. Üner, Weinheim 1986; Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, Hg. E. Üner, Weinheim 1987.
Literatur:
J. Pieper: Wirklichkeitswissenschaftliche Soziologie, in: Arch. f. Soz.wiss. u. Soz.pol. 66 (1931), S. 394-407; H. Marcuse: Zur Auseinandersetzung mit H. F.s Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, in: Philos. Hefte 3 (1931/32), S. 83-91; E. Manheim: The Sociological Theories of H. F.: Sociology as a Nationalistic Paradigm of Social Action, in: H. E. Barnes, ed., An Introduction to the History of Sociology, Chicago 1948, S. 362-373; L. Stern: Die bürgerliche Soziologie und das Problem der Freiheit, in: Zs. f. Geschichtswiss. 5 (1957), S. 677-712; H. Lübbe: Die resignierte konservative Revolution, in: Zs. f. die ges. Staatswissensch. 115 (1959), S. 131-138; G. Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied-Berlin 1962; H. Lübbe: Herrschaft und Planung. Die veränderte Rolle der Zukunft in der Gegenwart, in: Evang. Forum H. 6, Modelle der Gesellschaft von morgen, Göttingen 1966; W. Giere: Das politische Denken H. F.s in den Jahren der Zwischenkriegszeit, Freiburg i. B. 1967; F. Ronneberger: Technischer Optimismus und sozialer Pessimismus, Münster/Westf. 1969; E. Pankoke: Technischer Fortschritt und kulturelles Erbe, in: Geschichte i. Wiss. u. Unterr. 21 (1970), S. 143-151; E. M. Lange: Rezeption und Revision von Themen Hegelschen Denkens im frühen Werk H. F.s, Berlin 1971; P. Demo: Herrschaft und Geschichte. Zur politischen Gesellschaftstheorie H. F.s und Marcuses, Meisenheim a. Glan 1973; W. Trautmann: Utopie und Technik, Berlin 1974; R. König: Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie, München 1975; W. Trautmann: Gegenwart und Zukunft der Industriegesellschaft: Ein Vergleich der soziologischen Theorien H. F.s und H. Marcuses. Bochum 1976; H. Linde: Soziologie in Leipzig 1925-1945, in: M. R. Lepsius, Hg., Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945, Kölner Zs. f. Soziol. u. Sozialpsychol., Sonderh. 23, 1981, S. 102-130; E. Üner: Jugendbewegung und Soziologie. H. F.s Werk und Wissenschaftsgemeinschaft, ebd. S. 131-159; M. Greven: Konservative Kultur- und Zivilisationskritik in "Dialektik der Aufklärung" und "Schwelle der Zeiten", in: E. Hennig, R. Saage, Hg., Konservatismus - eine Gefahr für die Freiheit?, München 1983, S. 144-159;E. Üner: Die Entzauberung der Soziologie, in: H. Baier, Hg., H. Schelsky - ein Soziologe in der Bundesrepublik, Stuttgart 1986, S. 5-19; J. Z. Muller: The Other God That Failed. H. F. and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton, N. J. 1987; E. Üner: H. F.s Konzeption der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, in: Annali die Sociologia 5, Bd. II, 1989, S. 331-369; K. Barheier: "Haltende Mächte" und "sekundäre Systeme", in: E. Pankoke, Hg., Institution und technische Zivilisation, Berlin 1990, S. 215-230; E. Nolte: Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert, Berlin-Frankfurt/M. 1991, S. 459-470; E. Üner, Soziologie als "geistige Bewegung", Weinheim 1992; H. Remmers: H. F.: Heros und Industriegesellschaft, Opladen 1994; E. Üner: H. F und A. Gehlen: Zwei Wege auf der Suche nach Wirklichkeit, in: H. Klages, H. Quaritsch, Hg., Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung A. Gehlens, Berlin 1994, S. 123-162.
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