mercredi, 12 juin 2013
Prophetisches bei Ernst von Lasaulx
Prophetisches bei Ernst von Lasaulx
von Michael Rieger
Ex: http://www.sezession.de
Ernst von Lasaulx (1805 bis 1861) gehört nicht eben zu den Autoren, die einem ständig unterkommen. Nur zwei Seiten und zwei kurze Erwähnungen finden sich zu „Spenglers Vorgänger“ in Othmar Spanns Geschichtsphilosophie von 1932. Doch diese kurzen Passagen haben es in sich – sie regen an zur genaueren Lektüre, erscheinen sie doch heute als geradezu prophetisch.
In seinem 1856 veröffentlichten Neuen Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte [2] entwirft Lasaulx ein Modell des Verfalls von Völkern. Im Rückgang der Zeugungskraft (dem nisus formativus, dem Bildungs- und Reproduktionstrieb) wird der Verfall sichtbar: „Es stocken die Säfte, die Zeugungskraft beginnt zu erlöschen, das Leben sinkt, und seine Formen zerfallen, sichtbar von außen nach innen, weil unsichtbar im Innern die Triebkraft aufgehört hat.“
Nehmen wir es ganz wörtlich: Es ist kein Geheimnis, dass die Fruchtbarkeitsrate in Deutschland seit etwa 1965 gesunken ist. 1965 lag sie noch bei 2,5 Kindern pro Frau, seit etwa 40 Jahren liegt sie jetzt relativ stabil bei 1,3 Kindern pro Frau. Sie hat sich also nahezu halbiert. Mögen auch in anderen Ländern „die Säfte stocken“, Deutschland ist mit 8,2 Geburten auf 1000 Einwohner das Schlusslicht in der Europäischen Union.
Lasaulx führt aus, dass der Verfall den Verlust der „sprachbildenden Kraft“ einschließt. Sprache sei „nicht bloss das Organ des Denkens“, sondern „sie ist mit dem Denken selbst zusammengewachsen, die Vollendung des Denkens“. Verlöscht die sprachbildende Kraft, ist es ums Denken schlecht bestellt. So banal es klingt – die beständig und wirkungslos kritisierten Anglizismen belegen den aktuellen Rückgang der sprachbildenden Kraft. Anstatt eine eigene Sprache zu bilden, zu „er-zeugen“ und eventuell sogar zu pflegen, werden Worte aus einer anderen Sprache übernommen. Das ist weitaus bequemer, man muss sich keine eigenen Gedanken mehr machen, Kreativität wird nicht abgefordert, sondern abgetötet.
So sind wir Eyecatchern, Sales Managern, Facility Managern, Mobbing und Gamern bis zum Erbrechen ausgesetzt. Was im Alltag bereits eine Katastrophe ist, wird nicht besser, wenn wir nach der „poetischen Kraft im Leben der Künste“ fragen. Wie es um die poetische Dimension der Sprache bestellt ist, kann nicht so einfach beantwortet werden, wie der uns medial überflutende sprachliche Verfall nur noch zu diagnostizieren bleibt. Dennoch: ein spezifisches Kennzeichen der Literatur seit den 1960er Jahren ist in der Öffnung für das Profane zu sehen. Zeitweise wurde das eigentlich Poetische ersetzt durch bloß reproduktiven Dokumentarismus. Es gibt sie noch die Sprachartisten, aber unbestreitbar hat sich das platt Parteipolitische, Plebejische und Primitive mit und in der Folge von Günter Grass, Hubert Fichte und Rainald Goetz sein literarisches Terrain erobert (Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Die Palette, Irre).
Lasaulx Vorstellung des Völkerverfalls bezieht natürlich auch den Verlust „der religiösen Glaubenskraft“ mit ein. Der Rückgang der traditionellen Bekenntnisse lässt sich leicht an einer Stadt wie Hamburg ablesen. Wer Hamburg noch als „typisch protestantisch“ abgespeichert hat, hängt Erinnerungen an. Waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts beinahe 95% der Hamburger Protestanten, so sind es heute noch nur noch etwa 28%. Nimmt man nun die 10% Katholiken hinzu, dann lautet das Ergebnis: 60% aller in Hamburg lebenden Menschen bekennen sich nicht zum Christentum. Das sieht im Bundesdurchschnitt anders aus. Im Moment bekennen sich noch 60% der Bevölkerung zur römisch-katholischen oder zur evangelischen Kirche. Die Entwicklungstendenz ist jedoch eindeutig vorgezeichnet.
Wo die Zeugungskraft abnimmt, die Sprache sorglos auf den Hund gekommen ist, der Literaturbegriff längst für Werbetexte und Klosprüche geöffnet wurde, die Religion allgemein im Schwinden begriffen ist – wie steht es da um die „politische Lebensenergie“? Sie steht Angela Merkel so sehr ins Gesicht geschrieben wie den Herren Gabriel oder Steinbrück. Dazu sehr passend Ernst von Lasaulx: „Wie das Kränkeln Hinwelken Verdorren der Blätter und Äste eines Baumes ein Zeichen ist, dass die Wurzel krank sei: so müssen auch bei sinkenden und zerfallenden Völkern die äusseren Erscheinungen als die Folgen einer inneren Erschlaffung betrachtet werden.“
Angesichts dieser politischen Klasse mag man gar nicht fragen nach dem Stand der „nationalen Sittlichkeit“, dem „Product der religiösen und der politischen Ideale“. Wer wollte heute überhaupt noch sprechen von etwas so Reaktionärem wie Sittlichkeit oder den Romantizismen politischer Ideale? Und was könnte darunter zu verstehen sein? Meinungsfreiheit? Fragen wir Norbert Geis. Oder ein plurales Europa der Regionen? Dafür sorgt unbeirrbar Martin Schulz. Und wo werden diese Ideale wahrgemacht? In Kirchweyhe? Womit wir wieder bei der Sittlichkeit wären.
Was Lasaulx an den oben ausgeführten Punkten festgemacht hat, setzt sich fort „bis der ganze Organismus, nur auf die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse reducirt, seelenlos auseinanderfällt“.
Lasaulx Neuen Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte kann man hier zum Selbststudium erwerben [2].
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