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mardi, 11 juin 2013

Solschenizyn und die Sezession von der Lüge

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Solschenizyn und die Sezession von der Lüge

Martin Lichtmesz

Ex: http://www.sezession.de/

Vergeßt die gängigen Begriffsstempel. Es ist überaus einfach, heute als sogenannter „Rechter“ einsortiert zu werden. Es genügt, ein Realist zu sein. Es genügt, nicht sentimental zu sein.  Es genügt, seinen Augen zu trauen. Es genügt, die Wahrheit zu sagen.

Es genügt, nicht zu glauben – ein Ketzer, Atheist oder sogar bloß Agnostiker der herrschenden liberalistischen Religion zu sein (denn um nichts anderes handelt es sich). Es genügt, bestimmte Dinge zu fühlen und mehr als eine Dimension [2] im seelischen Haushalt zu besitzen. Es genügt, Geschichtskenntnisse zu haben, oder keinen Fernseher zu besitzen. Und so weiter.

Dabei sind wir verstreuten „Ego non“-Bannerträger des Westens, der heute eher Huxleys als Orwells dystopischem Modell folgt, immer noch um vieles besser dran, als etwa ein Alexander Solschenizyn, dessen Appell „Lebt nicht mit der Lüge“ (1974) ich dieser Tage wieder gelesen habe. Der enorme existenzielle Druck und die auch physische Gefährdung, der sich die sowjetischen Dissidenten ausgesetzt haben, verbieten jeden direkten Vergleich mit unserer Lage. Dennoch gibt es auch im Zeitalter des „soften“ Totalitarismus einige ins Auge stechende Parallelen.

Es ist ebenso leicht, sich für einen Solschenizyn zu begeistern, wie es schwer ist, seinem Beispiel und seinen Maßstäben zu folgen. Es ist ratsam, sich immer dieses Abstands bewußt zu bleiben, allein schon, um sich in Gegensatz zu den schambefreiten Schafherden zu setzen, die sich alljährlich in Dresden en masse weiße Rosen [3] ans Revers heften.

Solschenizyn schrieb 1974:

Es gab eine Zeit, da wagten wir es nicht, auch nur leise zu flüstern. Jetzt aber schreiben wir im Samisdat und lesen ihn, wenn wir uns im Raucherzimmer des Instituts begegnen, dann reden wir uns von der Seele: was sie nur für einen Blödsinn treiben, wohin sie uns noch zerren!

Kommen manchem derlei Szenen auch heute bekannt vor?

„Was sollten wir denn dagegen tun? Wir haben nicht die Kraft.“ Wir sind vom Menschlichen so hoffnungslos entfernt, daß wir für das tägliche kümmerliche Stückchen Brot alle Grundsätze aufgeben, unsere Seele, alles, worum sich unsere Vorfahren mühten, alle Möglichkeiten für die Nachkommen – um ja nicht unserere jämmerliche Existenz zu zerrütten.

Keine Härte, kein Stolz, kein leidenschaftlicher Wunsch ist uns geblieben. Wir fürchten nicht einmal den allgemeinen Atomtod, fürchten nicht den Dritten Weltkrieg (vielleicht verkriechen wir uns in ein Mauseloch), wir fürchten nur die Akte der Zivilcourage! Sich bloß nicht von der Herde lösen, keinen Schritt alleine tun – und plötzlich ohne Weißbrot, Warmwasserbereiter, ohne Aufenthaltsgenehmigung für Moskau dastehen.

Solschenizyn war bekanntlich einer der wenigen, die den Mut zu dieser „Zivilcourage“ (ein heute in Deutschland traurig entehrtes Wort) aufbrachten. Dabei trieb ihn vor allem der Haß auf die Lüge an, derselbe, den man auch zwischen den Zeilen des Klassikers „Moral und Hypermoral“ (1969) des so kühlen und nüchternen Arnold Gehlen spüren kann. Ein Buch, das nicht von der Sowjetunion, sondern von der Bundesrepublik Deutschland handelt, und das mit diesen vielzitierten Sätzen endet (in einem Tonfall, den sich ihr Autor selten geleistet hat):

Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. Das geht über die Demütigung der geistigen Abtrennung noch hinaus, dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet, und der Antichrist trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellis Fresco [4] in Orvieto. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.

Im folgenden nun ein paar Auszüge aus Solschenizyns Appell an jene Sowjetbürger, die es nicht wagen, offen zu opponieren, die er also zur einer Art „inneren“ Sezession und zu einem Mindestmaß an passivem Widerstand aufruft -jedoch kaum mit einem gemindert rigorosen Anspruch.

Lebt nicht mit der Lüge!
Alexander Solschenizyn, 12. Februar 1974

(…)
Doch niemals wird sich etwas von selbst von uns lösen, wenn wir es alle Tag für Tag anerkennen, preisen und ihm Halt geben, wenn wir uns nicht wenigstens von seiner spürbarsten Erscheinung losreißen. Von der LÜGE. (…)

Und hier liegt nämlich der von uns vernachlässigte, einfachste und zugängigste Schlüssel zu unserer Befreiung: SELBST NICHT MITLÜGEN! Die Lüge mag alles überzogen haben, die Lüge mag alles beherrschen, doch im kleinsten Bereich werden wir uns dagegen stemmen: OHNE MEIN MITTUN!

Und das ist der Durchschlupf im angeblichen Kreis unserer Untätigkeit! – Der leichteste für uns und der zerstörerischte für die Lüge. Denn wenn die Menschen von der Lüge Abstand nehmen – dann hört sie einfach auf zu existieren. Wie eine ansteckende Krankheit kann sie nur in den Menschen existieren.

Wir wollen nicht ausschwärmen, wollen nicht auf die Straße gehen und die Wahrheit laut verkünden, laut sagen, was wir denken – das ist nicht nötig, das ist schrecklich. Doch verzichten wir darauf, das zu sagen, was wir nicht glauben.
(…)

Unser Weg: IN NICHTS DIE LÜGE BEWUSST UNTERSTÜTZEN! Erkennen, wo die Grenze der Lüge ist (für jeden sieht sie anders aus) – und dann von dieser lebensgefährlichen Grenze zurücktreten! Nicht die toten Knöchelchen und Schuppen der Ideologie zusammenkleben, nicht den vermoderten Lappen flicken – und wir werden erstaunt sein, wie schnell und hilflos die Lüge abfällt, und was nackt und bloß dastehen soll, wird dann nackt und bloß vor der Welt dastehen.

Somit, laßt uns unsere Schüchternheit überwinden, und möge jeder wählen: ob er bewußter Diener der Lüge bleibt (natürlich nicht aus Neigung, sondern um die Familie zu ernähren, um die Kinder im Geist der Lüge zu erziehen!), oder ob die Zeit für ihn gekommen ist, sich als ehrlicher Mensch zu mausern, der die Achtung seiner Kinder und Zeitgenossen verdient. Und von diesem Tage an wird er:

- in Zukunft keinen einzigen Satz, der seiner Ansicht nach die Wahrheit entstellt, schreiben, unterschreiben oder drucken;

- einen solchen Satz weder im privaten Gespräch, noch vor einem Auditorium, weder im eigenen Namen noch nach einem vorbereiteten Text, noch in der Rolle des politischen Redners, des Lehrers und Erziehers, noch nach einem Bühnenmanuskript aussprechen;

- in Malerei, Skulptur und Fotografie mit technischen oder musikalischen Mitteln keinen einzigen falschen Gedanken, keine einzige Entstellung der Wahrheit, die er erkennt, darstellen noch begleiten, noch im Rundfunk senden.

- weder mündlich noch schriftlich ein einziges „leitendes“ Zitat anführen, um es jemandem recht zu tun, um sich zurückzuversichern, um in der Arbeit Erfolg zu haben, wenn er den zitierten Gedanken nicht vollständig teilt oder er keine klare Relevanz hat;

- sich nicht zwingen lassen, zu einer Demonstration oder einer Versammlung zu gehen, wenn sie seinem Wunsch und Willen nicht entspricht. Kein Transparent, kein Plakat in die Hand nehmen oder hochhalten, dessen Text er nicht vollständig bestimmt;

- die Hand nicht zur Abstimmung für einen Vorschlag heben, den er nicht aufrichtig unterstützt; nicht offen, nicht geheim für eine Person stimmen, die er für unwürdig oder zweifelhaft hält;

- sich zu keiner Versammlung drängen lassen, wo eine zwangsweise entstellte Diskussion zu erwarten ist;

- eine Sitzung, Versammlung, einen Vortrag, ein Schauspiel oder eine Filmvorführung sofort verlassen, wenn Lüge, ideologischer Unfug oder schamlose Propaganda zu hören sind;

- keine Zeitung oder Zeitschrift abonnieren oder im Einzelhandel kaufen, in der die Information verfälscht wird und die ursprünglichen Tatsachen vertuscht werden…

Wir haben selbstverständlich nicht alle möglichen und notwendigen Abweichungen von der Lüge aufgezählt. Doch wer sich um Reinigung bemüht,wird mit gereinigtem Blick leicht auch andere Fälle unterscheiden.

Ja, zunächst wird das nicht glattgehen. Der eine oder andere wird zeitweilig den Arbeitsplatz verlieren. Jungen Menschen, die nach der Wahrheit leben wollen, wird das anfangs ihr junges Leben sehr erschweren: denn auch der abgedroschene Unterricht ist voller Lüge. Man muß auswählen. Für niemanden aber, der ehrlich sein will, bleibt ein Versteck: für keinen von uns vergeht auch nur ein Tag, selbst nicht in den ungefährlichsten technischen Wissenschaften, ohne zumindest einen der genannten Schritte – entweder erfolgt er in Richtung auf die Wahrheit oder in Richtung auf die Lüge; in Richtung auf geistige Unabhängigkeit oder geistiges Kriechertum.

Wer aber nicht einmal zum Schutz seiner Seele genügend Mut aufbringt, der soll sich auch nicht seiner fortschrittlichen Ansichten rühmen, soll nicht tönen, er sei Akademiemitglied oder Volkskünstler, verdienter Funktionär oder General – der soll sich sagen: ich ein Herdentier und ein Feigling, ich will es nur satt und warm haben.

Sogar dieser Weg – der gemäßigste aller Wege des Widerstandes- wird für uns Eingerostete nicht leicht sein. Doch wieviel leichter ist er als Selbstverbrennung oder Hungerstreik: die Flamme ergreift deinen Körper nicht, die Augen platzen nicht vor Hitze, und Schwarzbrot mit Wasser findet sich immer für deine Familie.  (…)

Das würde kein leichter Weg? – doch der leichteste der möglichen. Keine leichte Wahl für den Körper – doch die einzige für die Seele. Kein leichter Weg – doch gibt es bei uns bereits Menschen, sogar Dutzende, die seit Jahren alle diese Punkte durchhalten, die nach der Wahrheit leben.

Somit: nicht als erste diesen Weg beschreiten, sondern SICH ANSCHLIESSEN! Je leichter und je kürzer uns dieser Weg scheint, desto enger verbunden, in desto größerer Zahl werden wir ihn einschlagen! Werden wir Tausende sein, dann wird man keinem mehr etwas tun können. Werden wir aber Zehntausende sein – dann werden wir unser Land nicht wiedererkennen!

Wenn wir aber in Feigheit zurückschrecken, dann sollten wir die Klage lassen, jemand ließe uns nicht atmen – das sind wir selbst! Werden wir uns weiter beugen und abwarten, dann werden unsere Brüder von der Biologie dafür sorgen, daß der Augenblick naht, zu dem man unsere Gedanken liest und unsere Gene umwandelt.

vlcsnap 2013 06 05 12h14m38s227 480x360 Solschenizyn und die Sezession von der Lüge (Fundstücke 17) [5]                                         „Stalker“, Andrej Tarkowskij, UdSSR 1979

In: Alexander Solschenizyn, „Offener Brief an die sowjetische Führung“, Darmstadt und Neuwied 1974.

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