Der Untertitel dieses Buches, Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung, ist dagegen irreführend. Das ist gut so. Zu diesem Thema gäbe es schließlich wirklich nichts mehr zu sagen. Wer bis jetzt nicht begriffen hat, daß ein Solidarsystem nur aufgrund der Exklusivität seiner Leistungen funktionieren kann, daß auf gut Deutsch „wir nicht das Sozialamt der Welt sein können“, ohne unsere Sozialsysteme durch Überbeanspruchung in den Zusammenbruch zu treiben, der wird es nie verstehen.
Zum Glück hat Rolf Peter Sieferle (1949-2016) weit mehr zu bieten als diese Trivialität. In Das Migrationsproblem versucht er das Phänomen der Masseneinwanderung innerhalb des funktionalen Rahmens der heutigen westlichen Demokratie zu erklären und geschichtlich einzuordnen. Das alles geschieht auf knappen 124 Seiten. Sieferles Problem besteht daher nicht, wie der Titel befürchten ließ, in der ewigen Wiederholung des bereits Gesagten. Im Gegenteil: Bei diesem Großessay – das Wort „Studie“ taugt hier wirklich nicht – muß er sich den Vorwurf gefallen lassen, die Masse gebündelt präsentierter Einsichten kaum zusammenhalten zu können.
Ebenso lesbar wie umfassend
Trotz des Mangels an innerer Struktur bleibt das Buch jedoch ebenso lesbar, wie es umfassend ist. Es gelingt Sieferle vom Kern seiner Erörterung, der destruktiven Wechselwirkung zwischen Sozialstaat und Einwanderung, in welcher der Sozialstaat die Einwanderer anzieht und diese den Sozialstaat überdehnen, Verbindungen in fast alle Richtungen aufzubauen.
Er beginnt mit den Ursachen der Migration und macht deutlich, daß es angesichts der Bevölkerungsexplosion der Dritten Welt keinen relevanten Unterschied zwischen Wirtschaftsmigranten und Bürgerkriegsflüchtlingen gibt. Vom welthistorisch unvermeidlichen Rückgang der „Bürgerschaftsrente“ in den alten Industrieländern geht er über zur Entlarvung der verschiedenen Narrative, mit denen die Politik der Masseneinwanderung ihr Handeln bemäntelt.
Einwanderer stoßen nicht in „leere Räume“
Insbesondere eine einfache Erkenntnis verdient es gerade auch von den Gegnern des multikulturellen Experiments zur Kenntnis genommen zu werden: Die derzeitige Masseneinwanderung hat nichts mit der rückläufigen Demographie der entwickelten Länder zu tun. Diese ist vielmehr eine gesunde Entwicklung in einer Zeit, in der das Massensterben durch Infektionskrankheiten glücklicherweise der Vergangenheit angehört.
Die „Invasoren“ (org. Sieferle) stoßen nicht in leere Räume vor. Im Gegenteil, sie ziehen normalerweise aus dünner besiedelten in dichter besiedelte Gebiete. Sieferle leugnet nicht den von Gunnar Heinsohn postulierten demographischen Druck des Jugendüberschusses, aber die komplementäre Idee eines demographischen Soges aus dem kinderarmen Europa, der ja immer ein „selber schuld“ impliziert, verweist er ins Reich der Legenden. Dasselbe gilt für die sich selbst so bezeichnende antiimperiale Ideologie, die die Armut der Dritten Welt durch angeblich ausbeuterischen Handel mit der Ersten erklärt. Als ob diese Länder nicht schon lange vor der Kolonialzeit arm gewesen wären und das Handelsvolumen der Industrieländer untereinander nicht ihren Warenaustausch mit den Entwicklungsländern um ein Mehrfaches überstiege.
Die ochlokratische Degeneration
Dabei spricht Sieferle den Europäern keineswegs die Verantwortung für ihr derzeitiges Dilemma ab. Im Gegenteil, er betrachtet ihre gegenwärtigen politischen Systeme als unreformierbar korrumpiert. Manchmal beschleicht einen dabei der Verdacht, der unspektakuläre Titel des Buches diene der Verschleierung, um zumindest das Geschrei der Sorte bundesrepublikanischer Kritikaster abzuhalten, die solch ein Buch sowieso nicht lesen, aber bei einer treffenderen Inhaltsbeschreibung schon wegen des Titels in das übliche Gekreische verfallen wären.
Sieferle sieht unsere Demokratie jedenfalls in vollem ochlokratischen Verfall, der sich an der steigenden Staatsverschuldung, die ja nichts anderes als Konsum auf Pump ist, geradezu messen lasse. Kurz erörtert er die Probleme der verschiedenen Formen staatlicher Degeneration um schließlich die Frage zu stellen, ob das chinesische System nicht besser geeignet wäre die Nachhaltigkeitsprobleme des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.
Universalistische Ethik und tribalistische Moral
In dieser Ochlokratie wirke nun die universalistische Ethik der Gleichheitsideologie katastrophal. Das infantilisierte Volk wähle auch in der Ethik den Weg des geringsten Widerstandes und finde nichts dabei, sich durch die Aufnahme unintegrierbarer „Barbaren“ (org. Sieferle) jenes gute Gewissen zu kaufen, daß in den Wohlfahrtszonen zum Lebensstandard gehöre.
Hier liegt jedoch auch die größte Schwäche des Buches. Sieferle, der sonst weit mehr Erscheinungen erörtert, als hier behandelt werden können, schweigt sich über die Entstehung und Verbreitung der multikulturellen Ideologie aus. Sie scheint ihm vom Himmel gefallen, ein unabwendbares Schicksal der abendländischen Zivilisation. Lediglich den Nationalsozialismus macht er als Ursache aus. Hier verfällt Sieferle jenem ganz speziellen konservativen Auschwitzkult, der Hitler die Schuld am eigenen Versagen zuschiebt. Angesichts eines solchen Verhängnisses kommt es ihm gar nicht mehr in den Sinn sich zu fragen, ob die gegenwärtige metapolitische Misere nicht vielmehr das Ergebnis harter propagandistischer Arbeit der Linken war, die mit ebensolchen Anstrengungen auch in die Mülltonne der Geschichte getreten werden kann. Stattdessen nimmt das Buch entschieden defätistische Züge an.
Wieder einmal die Deutschen
Mit dem Holocaust als Ursache des Multikulturalismus stößt Sieferle auch auf eine merkwürdige Version der These vom deutschen Sonderweg, die sich durch das ganze Buch zieht. Gerade Deutschland erscheint ihm als das unangefochtene Zentrum und der Ausgangspunkt des multikulturellen Wahnsinns. Damit verglichen sei der restliche Westen noch relativ normal. In seinem anderen Nachlaßwerk, Finis Germania, wird dies noch deutlicher, gepaart mit einer für solche Ansichten nicht untypischen Anglophilie, die das gegenwärtigen England und Amerika, aber auch Frankreich als „bürgerlich-aristokratische Welt“ bezeichnet.
Angesichts des jahrzehntelang von keiner Polizei behinderten Handels pakistanischer Banden mit englischen Mädchen, den regelmäßig brennenden französischen Vorstädten und der absurden Exzesse amerikanischer social justice warriors, dürften jedoch alle auf deutsche Besonderheiten verweisenden Erklärungen der multikulturellen Ideologie schwer haltbar sein. Damit ist es freilich auch nicht möglich, sich durch den Verweis auf ein angebliches geschichtliches Verhängnis von der eigenen Handlungsverantwortung loszusprechen.
Die eigentlichen Probleme
Sehr sinnvoll ist hingegen Sieferles Einordnung des Migrationsproblems in die geschichtlichen Horizonte unserer Zeit. Angesichts seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema ist es nicht verwunderlich, daß er hier vor allem an die unbewältigten energiewirtschaftlichen Fragen unserer industriellen Zivilisation denkt. Die gegenwärtige Wirtschaftsweise zerstöre rasch die eigenen Grundlagen und eine neue Nachhaltigkeit sei nur durch massive technologische Durchbrüche – und keineswegs durch Nullwachstum – möglich.
Ob ein islamisiertes oder afrikanisiertes Europa zu dieser tatsächlichen Menschheitsaufgabe seinen Beitrag wird leisten können, sei doch mehr als fraglich. Mit dieser Einordnung zeigt Sieferle das Migrationsproblem als das auf, was es letztlich ist: Ein neuer Barbarensturm, den wir angesichts drängendster anderer Probleme derzeit brauchen können wie einen Kopfschuß.
Rolf Peter Sieferle: Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung. Die Werkreihe von TUMULT#01. Hg. von Frank Böckelmann. 136 Seiten.
Bildhintergrund: Regina Sieferle (privat), CC-BY-SA 4.0
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