Ok

En poursuivant votre navigation sur ce site, vous acceptez l'utilisation de cookies. Ces derniers assurent le bon fonctionnement de nos services. En savoir plus.

vendredi, 08 mai 2009

8. Mai 1945 : Niedeschlagendenken

Baal Müller - http://www.sezession.de

8. Mai 1945: Niederlagendenken

besiegt

Wieder einmal 8. Mai – der Tag, an dem in den Feuilletons gerne Nachschläge zu den alten Schlachten serviert werden, insbesondere wenn sich das Kriegsende zu einem runden Male jährt. Die Rollenverteilung ist klar: Die von Richard Weizsäcker in seiner berühmten Rede von 1985  vorgelegte Deutung der deutschen Niederlage als Befreiung (von der nationalsozialistischen Herrschaft) ist mittlerweile längst zum allgemeingültigen Dogma erklärt.

Dagegen regt sich zwar Widerstand, jedoch wird dieser als Ausdruck ewiggestrigen Ressentiments abgetan oder gar mit dem Schlagwort „Revisionismus“ niedergebügelt.

Natürlich hat dieser Protest gegen eine der zentralen, quasihoheitlichen Deutungsvorgaben der Geschichtspolitik die besseren historischen Argumente auf seiner Seite: Da ist der erklärte Wille der Alliierten, nicht nur die Nazis niederzukämpfen, sondern Deutschland als Feindstaat zu besiegen, da sind die unmittelbaren Erfahrungen der Erlebnisgeneration: Doch letztere stirbt allmählich aus, und ersterer wird vielleicht nicht nur verdrängt, weil er nicht ins gewünschte Geschichtsbild paßt, sondern weil er längst durch jüngere Erinnerungen überlagert ist. Die Luftbrücke und der Kalte Krieg, Elvis und James Dean, Pop und Prüderie, Fitneßkult und Todesstrafe, Woodstock und Vietnam, Hollywood und Guantanamo, die Unterteilung der Präsidenten in gute (Kennedy, Clinton, Obama) und böse (Nixon, Reagan, Bush jun.) prägen heute das Amerikabild der Deutschen in seiner eigentümlichen Haßliebe, aber kaum noch der Zweite Weltkrieg. Neue Feinde und Allianzen ersetzen alte, und gerade wer politikfähig sein will, darf nicht „aus Prinzip“ alten Schemata verhaftet bleiben, auch wenn sich die Zähigkeit traditioneller Konstellationen, wenn ihnen geopolitische Verhältnisse zugrundeliegen, immer wieder mit erstaunlicher Kraft bemerkbar macht.

Da also kein runder Jahrestag ansteht und mithin der Protest gegen das einseitige Befreiungsdogma nicht fast schon zur patriotischen Pflicht wird, kann man die Dinge etwas gelassener betrachten. Die meisten Deutschen fühlten sich 1945 nicht befreit (sondern besiegt, unterjocht und vergewaltigt), aber um einen Teil dessen, was unterging (nämlich das Nazireich), ist es nun wirklich nicht schade, sondern nur um den anderen Teil: das alte Deutschland, das unwiederbringlich in den Trümmern versank – und die eigentliche Crux aus der Sicht der Nachgeborenen besteht darin, daß es zunächst Hitler und seinen Gegnern, später allen Bewältigern und nachholenden Widerständlern gelang, Deutschland und das Dritte Reich zu einem derart kompakten, simplifizierten, homogenisierten, scheinbar „unvermischten“ Klumpen zu verballen.

Die Sieger (und die Mit-Sieger, die im nachhinein immer auf der „richtigen“, „guten“ Seite stehen wollen) bestimmen anscheinend nicht nur über die Geschichte, sondern auch über die Geschichtsschreibung, die „großen Erzählungen“; und die Verlierer mit ihren „kleinen Identitäten“ und „alternativen Narrationen“ haben sich in den Siegerdiskurs mit den ihnen zugewiesenen Rollen einzuschreiben. „Der Sieger nimmt alles“? Ja, wenn er auch die Köpfe bekommt. Nein, wenn zumindest ein paar Köpfe übrigbleiben, die sich nicht gänzlich vereinnahmen lassen (und längerfristig allerdings auch zu Einfluß gelangen müssen).

Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch hat in seinem hier nachdrücklich empfohlenen Werk über Die Kultur der Niederlage darauf hingewiesen, daß gerade aus der Verliererposition erstaunliche kulturelle, politisch-administrative, technische und ökonomische Innovationen erwachsen können, da der Besiegte – anders als der lorbeerumkränzte Sieger – zu einer schmerzhaften, dafür um so grundlegenderen, Reflexion seiner Positionen und Identität(en) genötigt ist. Niederlagen können ungeahnte „Energien“ freisetzen, positive oder negative Mythen schaffen, Erkenntnisse konstituieren und notwendige Reformen befördern.

Am homerischen Beginn der abendländischen Identitätsbildung steht der Verlierer Aeneas, den Vergil später zum Ahnherrn des Römischen Reiches erheben wird, und nicht Achilles, Agamemnon, Ajax oder Odysseus, die Frühverstorbenen, Ermordeten oder in die Irre Geschickten. Der Stifter der christlichen Religion mußte seinen Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfahren als verlassener Prophet oder verstoßener Sohn seines Gottes erscheinen, und es war einiges an Deutungsarbeit erforderlich, um seinen Kreuzestod – entgegen allem Anschein – zum heilsgeschichtlichen Ur-Ereignis zu erklären. An die Thermopylen, Etzels Halle und das Amselfeld knüpfen sich große Identitätserzählungen auf Verliererseite, nicht aber – und hier liegt ein zentraler, wiewohl banaler Punkt – an die Punischen Kriege, den Fall Konstantinopels oder an Stalingrad: Ein gewisser physischer oder kultureller Restbestand muß auf Seiten der Besiegten noch übrig bleiben, um zu einem Kern künftiger Identitätsbildung werden zu können:

Es gibt verschiedene Grade des Unterliegens und des Am-Ende-Seins. Solange sie über ein intaktes Selbstbewußtsein verfügen, sind Verlierernationen nicht bereit, der Forderung nach moralisch-spiritueller Kapitulation (Reue, Bekehrung, Re-Education) zu entsprechen. Das ändert sich erst, wenn neben der physischen auch die spirituell-moralische Grundlage des Landes zerstört ist. Soweit waren die Verlierer von 1865, 1871 und 1918 noch nicht. (Schivelbusch)

Der amerikanische Bürgerkrieg, der deutsch-französische Krieg und der Erste Weltkrieg hinterließen beschädigte, aber regenerierbare und regenerationswille Identitäten, wobei auch hier im Detail viele Unterschiede (zumal im Vergleich etwa mit den deutschen Befreiungskriegen) erkenntbar sind. Beschränkt sich die Niederlage weitgehend auf den militärischen Bereich, wird die Erneuerung eher möglich sein und aufgrund von politisch-militärischen Reformen (die immer auch Anleihen beim siegreichen Gegner sind) erfolgen. Handelt es sich dagegen um eine „totale Niederlage“, so kann sie, wenn überhaupt, nur durch eine „totale“ geistige Erneuerung, d.h. durch mythische Sinnstiftung, erneuert werden – ob diese gelingt, ob allenfalls Pseudo-Mythen und ideologische Zerrbilder („Dolchstoßlegende“) entstehen oder ob auf den Zusammenbruch der völlige Untergang und Austritt aus der Geschichte erfolgt, hängt vom Grad der Traumatisierung bzw. der Stärke der Rest-Identität ab.

Es ist daher nicht verwunderlich, daß Schivelbusch der deutschen Niederlage von 1945 kein Kapitel gewidmet hat; diese war eben so total und erstreckte sich auf alle (militärischen, politischen, moralischen, psychischen, sozio-kulturellen, angesichts der Zerstörung der deutschen Städet auch ästhetischen) Bereiche, daß den Verlierern nur noch die völlige Unterwerfung unter die Botmäßigkeit der Sieger, die Hoffnung auf deren Gnade oder Mäßigung, später die Beschränkung auf eine geduldete, beschirmte „kleine Politik“, auf „Wirtschaftswunder“ und privates Wohlergehen im Windschatten der Weltgeschichte blieben. Bekanntlich hat sich daran auch 1989/90 nichts Wesentliches geändert (eher noch zum Schlechten, da die früher z.T. noch vorhandenen mentalitätsbedingten Reserven aufgezehrt sind); die „spirituell-moralische Grundlage“ für eine Neuformulierung deutscher Politik war nicht mehr gegeben.

Anstatt sich nun aber damit zu begnügen, aus Nieschenpositionen immer wieder folgenlos die Wiedererringung von nationaler Souveränität (die doch immerhin eine wesentliche Voraussetzung der Demokratie ist!), zu fordern oder deren weitere Delegation (insbesondere an Brüssel) zu beklagen, empfiehlt es sich – gerade im kulturellen, vor- und metapolitischen Bereich – nach den konstitutiven Restbeständen bzw. den Voraussetzungen einer zu erneuernden (und wenn dies je möglich sein sollte: gesunden, d.h. nicht verleugneten, aber auch nicht wahnhaft übersteigerten) deutschen Identität zu suchen. Der Verfall Deutschlands, der in kultureller Hinsicht vielleicht schon mit der Reichsgründung beginnt und sich politisch entlang der Jahreszahlen 1918, 1933, 1945, 1968 nachzeichnen läßt (1989 harrt noch der genaueren Deutung aus weiterem Abstand), hat wenig übrig gelassen, an das sich bruchlos und selbstverständlich anknüpfen ließe, und es gibt kaum historische Vorbilder für ein produktives Niederlagendenken im Fall der äußersten Katastrophe – etwa das antike Judentum, dessen Propheten aus der Zerstörung Israels durch die Babylonier nicht den, im religiösen Kontext der Antike naheliegenden, Schluß zogen, daß sich die Götter der Feinde als dem eigenen Gott überlegen gezeigt hätten, sondern daß Niederlage und Exil Folgen des Abfalls von Jahwe gewesen seien, der durch besonderen Gehorsam wieder begütigt werden müsse. Durch diese Denkfigur konnte immerhin die religiöse Identität als Voraussetzung einer künftigen politischen Wiederaufrichtung bewahrt und sogar gestärkt werden.

Für die Deutschen sieht es nach 1945 düster aus, und diese Düsternis hat sich nun, da die geistigen Vermögenswerte und womöglich auch bald die materiellen, auf deren kontinuierlicher Steigerung und Umverteilung der relative Erfolg der Bonner Republik beruhte, verschleudert sind, zu einem bedrückenden Zustand gesteigert. Wer heute durch eine deutsche Großstadt geht, eine Zeitung der Mainstream-Presse aufschlägt oder den Fernseher anschaltet (sofern man so etwas noch in seinem Hause duldet), fühlt sich besiegter denn je.Und doch könnte es auch heute noch geistige Sonderwege geben, die von kleinen „Traditionskompanien“ (Erich Bräunlich) beschritten werden: Ich denke hier vor allem an die poetische Idee eines „Geheimen Deutschland“, die nicht zufällig während des Ersten Weltkriegs formuliert wurde, als das damals offizielle Deutschland unterging (und von ihren Verfechtern wie Stefan George, Karl Wolfskehl und Norbert von Hellingrath auf Hölderlin als Ahnherrn bezogen wurde, der Deutschland um 1800, ebenfalls in einer Zeit tiefer nationaler Erniedrigung, geistig neu gründete).

Stellt die Niederlagenverarbeitung der jüdischen Propheten so etwas wie einen „moralischen Sonderweg“ dar (der womöglich bis zum Holocaust fortwirkt, welcher ebenfalls eine Katastrophe ist, die – für das heutige Judentum und über dieses hinaus für die moderne „Zivilgesellschaft“ – eine enorme identitätsstiftende Wirkung besitzt), so kann man das „Geheime Deutschland“ in gewisser Weise als „ästhetischen Sonderweg“ ansehen. Dies soll freilich nicht heißen, daß Deutschland aus dem Geiste des George-Kreises zu erneuern wäre, sondern daß zur deutschen Tradition, die durch das Jahr 1945 wie durch eine Mauer getrennt ist, heute vielleicht vor allem noch ästhetische Wege führen, solche der unmittelbaren Anschauung und des unvermittelten, ungefilterten Erlebens. Solange uns die überlieferten Zeugnisse deutscher Kultur noch zu Erlebnissen werden können, solange einigen von uns etwa bei der Lektüre eines Gedichts, dem Betrachten eines Denkmals oder dem Begehen eines historischen Ortes nicht nur „warm ums Herz“ wird, sondern wir auch ein „Wir-Gefühl“ verspüren, solange sind wir doch nicht völlig besiegt. In solchem Erleben und dem durch die Reflexion von Erlebnis und Tabu, Erkenntnis und Dogma gesteigerten „Niederlagendenken“ besteht „der Vorsprung der Besiegten“.

Lektüre: Der Vorsprung der Besiegten von Baal Müller

Les commentaires sont fermés.