von Siegfried Bublies
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Es gibt gute Gründe, in Zeiten der permanenten terroristischen Bedrohung auch unseres Staates durch islamistische Gewalttäter, Zurückhaltung in der Bewertung der US-amerikanischen Intervention und der daraus entstandenen aktuellen Krise im Nahen Osten zu üben. Man könnte Loyalität gegenüber der westlichen Führungsmacht USA anführen, man könnte auch – etwas weiter ausholend – ganz allgemein die Solidarität der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft beschwören. Aber auch Konservative mit einem heiß pochenden transatlantischen Herzen werden sich in letzter Konsequenz nicht vor der Beantwortung der Frage drücken können, ob die Politik der USA im Vorderen Orient im Einklang mit den Normen des Völkerrechts steht und – wichtiger noch – ob der Einsatz der US-Streitkräfte dort auch deutschen und europäischen Interessen dient. Soweit ich es überblicken kann, bleiben sowohl konservative Politiker (etwa der AfD) als auch die konservativ-patriotische Publizistik die Beantwortung dieser Fragen schuldig. Lediglich Bruno Bandulet findet in der Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT (Nr.3/2020), daß die Bilanz der US-Politik im Nahen Osten insgesamt verheerend sei und nennt die Tötung Soleimanis Mord. Immerhin! Eine politische Orientierungshilfe leistet er damit aber nicht.
Der Tötungsbefehl des US-Präsidenten und die Lage im Nahen Osten
Die verwirrende Gemengelage aus geo- und machtpolitischen Motiven, die zu der Entscheidung des US-Präsidenten und der daraufhin entstandenen hochexplosiven Lage im Nahen Osten geführt hat, erfordert eine besonnene Analyse, die dem Faktischen Raum gibt und alles rein Spekulative unterläßt.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Geschehnisse: Durch den persönlichen Befehl Trumps wurden in der Nähe des Flughafens von Bagdad Quassem Soleimani, der Kommandant der iranischen Al-Kuds-Brigaden, und Abu Mahdi al Muhandis,der meist aus Schiiten bestehenden irakischen „Volksmobilisierungskräfte“, durch Lenkraketen getötet. Die Al-Kuds-Brigaden sind die Auslandsabteilung der iranischen „Revolutionswächter“. Sie verfügen über ca. 15.000 Mann unter Waffen. Ihr Kommandant Soleimani galt auch als der wichtigste Stratege im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien. Er war aber auch mit zuständig für den Export und die Pflege des schiitischen Glaubens, insbesondere im unmittelbaren Umfeld Irans, also dem Irak, Syrien, dem Libanon, Bahrein und Aserbeidschan. Und Soleimanis besonderes Augenmerk galt Saudi-Arabien, dem geopolitischen und religiösen Konkurrenten in der Region. Umstritten ist, ob seine Truppen in Terrorakte im und gegen den Westen verwickelt waren. Völlig getrennt davon ist festzuhalten, daß seit Jahrzehnten für etliche Mordanschläge im Ausland (gegen Kurden, gegen Juden wie in Argentinien usw.) die islamistische Diktatur des Iran verantwortlich ist und daß jeder freiheitsliebende Mensch deren Sturz durch einen Volksaufstand begrüßen würde.
Der drohnengesteuerte Angriff auf Soleimani geschah auf irakischem Territorium, ganz offensichtlich ohne Einverständnis der irakischen Regierung. Der Irak wertet diesen Akt als „ungeheuerlichen Verstoß“ gegen die bestehende Sicherheitsvereinbarung mit den USA. Das irakische Parlament votierte daraufhin für den Abzug der ausländischen Streitkräfte aus ihrem Land. Das beträfe nicht nur die US-Streitkräfte, sondern auch die im Irak tätigen Ausbilder der Bundeswehr.
Irans Antwort auf die Tötung des Generals blieb zaghaft, sogar besonnen: Raketenangriffe auf zwei US-Stützpunkte ohne Personenschäden, wahrscheinlich sogar mit erfolgter Vorwarnung.
Bruch des Völkerrechts durch den Tötungsbefehl des amerikanischen Präsidenten
Wenden wir uns der Frage zu, ob die Tötung des iranischen Generals vom Völkerrecht gedeckt war. Es herrscht unter Völkerrechtlern ganz überwiegend, fast einhellig die Meinung, daß die Tötung Soleimanis nach den Standards des jus ad bellum (Recht zum Krieg) völkerrechtswidrig geschah. Die Vereinigten Staaten scheinen sich allerdings auf ein präventives Selbstverteidigungsrecht zu berufen, das aber in der Juristenzunft als äußerst umstritten gilt und allenfalls dann zur Anwendung käme, wenn ein besonderes Maß an Dringlichkeit vorläge, also wenn etwa ein von Soleimani koordinierter Terroranschlag unmittelbar vor einer Ausführung gestanden hätte. Selbst in der Stellungnahme des US-Verteidigungsministeriums ist von einer solchen Dringlichkeit nicht die Rede. Nach Art. 2 (4) UN-Charta gibt es ein allgemein gültiges Gewaltverbot in zwischenstaatlichen Beziehungen, das nur durch ein Selbstverteidigungsrecht oder eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates außer Kraft gesetzt werden kann. Da beides hier nicht vorlag, war die Tötung Soleimanis eindeutig völkerrechtswidrig.
Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts allgemein und die Rolle der Vereinigten Staaten im Besonderen scheint zu sein, daß bereits im Jahre 2002, also im Jahr nach dem Terroranschlag in New York vom 11. September 2001, sich die US-Administration in ihrer Stellungnahme zur alljährlichen National Security Strategy zu einer umfassenden Präventivdoktrin bekannt hat. Auch wenn die ganz überwiegende Meinung in der Völkerrechtslehre die Legitimität dieser einseitigen und jederzeit willkürlich einsetzbaren Doktrin ablehnt, zeichnet sich als Trend ab, daß Staaten mit hegemonialem Potential völkerrechtliche Normen vollkommen unbeachtet lassen und den Gewalteinsatz nach eigenem Gutdünken und weltweit praktizieren können. Auch Trumps Vorgänger haben diese Entwicklung mitgetragen, gefördert und mit zahllosen Drohneneinsätzen zur gezielten Tötungen genutzt. Bundesregierung und konservative Publizistik schweigen zu diesem Thema beharrlich.
Interessant auch, daß sich die Apologeten einer „westlichen Wertegemeinschaft“ leichtfüßig über die Drohung Trumps, im Falle einer kriegerischen Gegenaktion des Iran auch bedeutende iranische Kulturstätten vernichten zu wollen, hinwegsetzen bzw. sie ignorieren. Daß es sich hierbei um die Ankündigung eines Kriegsverbrechens durch den mächtigsten Mann der vermeintlichen Wertegemeinschaft handelt, wird wohl als Petitesse angesehen.
Deutsche und europäische Interessen und die US-amerikanische Eskalationsstrategie
Inwieweit sind nun deutsche und europäische Interessen von Trumps völkerrechtswidrigem Tötungsakt betroffen? Die Lage im Nahen Osten bleibt hochexplosiv. Sollte es doch noch einen iranischen Angriff auf US-Stützpunkte oder diplomatische Vertretungen der USA mit amerikanischen Toten geben, käme es wohl zwangsläufig zur Anwendung des NATO-Bündnisfalles. Dann müßte zwar immer noch der Bundestag über den Einsatz deutscher Soldaten entscheiden. Die gegenwärtige Zusammensetzung des Bundestages mit Parteien, die aus machtpolitischem Kalkül die Treue zur NATO als Voraussetzung jeder Regierungsbeteiligung begreifen, werden einem geforderten Kriegseinsatz allerdings nicht widerstehen können. Deutschland würde also mit großer Wahrscheinlichkeit Soldaten in einen Krieg mit dem Iran an der Seite der US-Truppen schicken.
Das im Jahre 2015 ausgehandelte Atomabkommen mit dem Iran wurde von Trump 2018 einseitig gekündigt. Seitdem lasten US-amerikanische Wirtschaftssanktionen auf dem Land, die nun noch einmal verstärkt wurden. Das langwierig ausgehandelte Abkommen sollte sicherstellen, daß der Iran die Nuklearenergie ausschließlich für zivile Zwecke nutzt. Der Iran hat damit erstmals einer institutionellen internationalen Überwachung seiner Atomanlagen zugestimmt, um im Gegenzug vor allem seitens der europäischen Unterzeichnerstaaten wirtschaftliche Erleichterungen durch Aufhebung der Embargo-Politik zu bekommen. Die Gefahren einer Nuklearmacht Iran sind für die Europäer von existentieller Bedeutung. Die einseitige Kündigung des Abkommens durch Trump im Jahr 2018, unterstützt durch weitgehende Boykott-Maßnahmen der US-Regierung, fügt sich ein in eine US-amerikanische Eskalationsstrategie. Europäische Unternehmen werden, ähnlich wie beim Nordstream-II-Projekt, durch die US-Administration erheblich unter Druck gesetzt, um an Geschäften mit dem Iran gehindert zu werden.
Die interventionistische Politik der USA in den vergangenen 20 Jahren – eine Spur der Verwüstung
Die interventionistische Politik der USA in den zurückliegenden 20 Jahren – von Nordafrika über den Nahen Osten bis nach Afghanistan – hat eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Libyen, noch unter Gaddafi ein stabiler Staat und eine für Europa vorteilhafte Barriere gegen afrikanische Armutsflüchtlinge, befindet sich im permanenten Bürgerkrieg; der Irak kommt seit der amerikanischen Intervention im Jahre 2003 gegen Saddam Hussein durch die verfeindeten sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsanteile nicht zur Ruhe; die unrühmlichen Versuche, Syriens Machthaber Assad zu stürzen, führten zur Erstarkung des IS, zu Krieg und unvorstellbaren Grausamkeiten mit der Folge, daß Millionen Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machten. In Afghanistan befinden sich die – unter Mißachtung der UN-Charta – seit 2001 dort im Einsatz befindlichen US-geführten NATO-Truppen heute wieder auf dem Rückzug und müssen mit den verfeindeten Taliban Verhandlungen über einen friedlichen Abzug führen. Ein Desaster!
Die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, leiden unter dem Ansturm der aus all diesen Ländern Flüchtenden. Die ethnischen und kulturellen Konflikte werden in Europa zunehmen, die hohen sozialen Standards, der Wohlstand der Europäer zwangsläufig abnehmen. Und unsere Demokratie wird in der Folge weiterhin und in immer größerem Tempo erodieren. Die Bilanz der amerikanischen Interventionspolitik ist für die Europäer – und auch für die betroffenen Länder – verheerend.
Renaissance der Geopolitik – europäische Selbstbehauptungspolitik statt Inferiorität
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Neuvereinigung Deutschlands änderten sich innerhalb weniger Jahre die politischen Koordinaten. Der bis dahin feindliche Systemgegensatz von Kapitalismus und Kommunismus verlor rasch an Bedeutung, und Raumfaktoren gewannen wieder an Gewicht. Deutschlands Mittellage bot mit einem Mal politische Chancen, vor allem mit Blick auf unsere östlichen Nachbarn. Daß diese Chancen bisher nicht genutzt wurden, gehört zu den großen deutschen politischen Versäumnissen nach der Wende und kann an dieser Stelle nicht erörtert werden.
Vor dem Hintergrund der für Europa desaströsen Nahost-Politik der USA, die jedenfalls aktuell von keinerlei Rücksichten gegenüber europäischen Interessen geprägt ist, stellen sich für Deutschland und die anderen europäischen Staaten drängende Fragen nach einer geopolitischen Neuorientierung, die die Sicherheits- und Versorgungsinteressen unseres Kontinentes in den Vordergrund stellt. Rußland und seine enormen Ressourcen, Afrika, gesegnet mit Bodenschätzen und zugleich belastet mit schier unlösbaren demographischen Problemen, der arabische Raum und sein Reichtum an Öl liegen vor unserer Haustür und erwarten, daß Europa aus dem politischen Dämmerschlaf erwacht und die großen politischen Herausforderungen bewältigt.
Nichts deutet zur Zeit darauf hin, daß dies unter den Bedingungen des bestehenden NATO-Vertrages mit einer absoluten politischen und militärischen Dominanz der USA möglich ist. Vieles spricht hingegen dafür, diese Bindungen an die westliche Supermacht behutsam zu lockern, vielleicht auch langfristig zu lösen. Eine eigenständige europäische Politik läßt sich allerdings nicht aus der Position einer tief verinnerlichten Inferiorität erreichen.
Siegfried Bublies
Siegfried Bublies, Verleger, geboren 1956, Gründer der Zeitschrift wir selbst im Jahre 1979, Inhaber des Bublies Verlages und des Lindenbaum Verlages. Die Printausgabe der wir selbst (Zeitschrift für nationale Identität) wurde 2002 eingestellt und 2019 als Internet-Zeitschrift wiederbelebt.
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