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lundi, 13 mars 2017

Von Mediokristan ins Land Extremistan

Von Mediokristan ins Land Extremistan

 

Hans-Peter Schwarz analysiert die dramatischen Fehler der Bundesregierung zur hausgemachten Einwanderungskrise, aus Unfähigkeit und Gefallsucht einer infantilisierten Gesellschaft. Schwarz erklärt, wie die Migrationspolitik neu justiert werden könnte.

Die Urheber der heutigen Europäischen Verträge „sitzen in einer selbst gestellten Falle und wissen nicht, wie sie sich daraus befreien sollen.“ Sagt Hans-Peter Schwarz. Mit seiner Habilitationsschrift „Vom Reich zur Bundesrepublik“, einem Standardwerk zur Nachkriegsgeschichte, seinen Biographien von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Axel Springer und vielen anderen Werken hat er in wahrstem Sinne Geschichte geschrieben. Seinem neuen Buch ist zu wünschen, dass es gehört wird.

Die Bundesmarine als Helfer der Schleuser

Er geht damit streng mit Politik und Medien sowie der politischen Öffentlichkeit um, „frivoler Optimismus und fürbürgerliche Gefahrenblindheit endeten wie gewöhnlich im Katzenjammer“. In Politik wie Öffentlichkeit sei ein vernünftiges Gefahrenbewusstsein verlorengegangen, auch und gerade des „zeitweilig zum Propagandaapparat verschlampten Willkommensrundfunks“. Mit dieser Sichtweise ausgestattet zerfetzt er das Taktieren und Finassieren der Regierung Merkel, aber auch der ihr ergebenen Medien. Immer wieder weist er auf absurde Fehler hin und benennt sie: Etwa Operation „Triton“, jene zwei Fregatten der Bundesmarine. „Sie brachten künftig die gewissenlosen Schleuserkapitänen ausgesetzten oder in Schlauchbooten zusammengepferchten Flüchtlinge an die Küste Italiens, von wo sie sich auf den Weg nach Deutschland machen konnten. Eine größere Absurdität lässt sich kaum vorstellen, auch kein besseres Beispiel dafür, wie sich humanitäre Erpressung bezahlt macht. Die Seestreitkräfte Europas wurden von sentimentalen Regierungen zu einem ganz unentbehrlichen Zwischenglied in der Schleuserkette umfunktioniert“.

Das Land Mediokristan

Über das Buch von 2007 Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse des aus alter libanesischer Familie stammende Nassim Nicholas Taleb sagt Schwarz in seiner Einleitung:

„In Mediokristan werkeln tüchtige, häufig aber phantasielose Politiker, Manager, Beamte, Wissenschaftler, Theologen, Lobbyisten, auch Journalisten und Professoren innerhalb überkommener Institutionen und im festen Glauben an eine überkommene politische Kultur, an die bewährte Unternehmensstrategie oder an vorherrschende philosophische Wertesysteme routiniert vor sich hin, als könne nie ein schwarzer Schwan auftauchen. Solange das tatsächlich nicht geschieht, bewirkt diese Elite manches Nützliche, treibt ihre Machtspielchen, macht die üblichen kleinen oder größeren Dummheiten, erspart aber sich und uns die ganz großen, katastrophalen Fehler. Das mag gutgehen, solange keine schwarzen Schwäne einfliegen.

In Wirklichkeit aber sind diese mediokren, gefahrenblinden Eliten unterwegs nach Extremistan. Denn wenn wider alle Erfahrung ein schwarzer Schwan auftaucht, also ein weitreichendes, unvorhergesehenes Ereignis, fällt ihnen nichts ein, als stoisch und zum Schaden aller an den Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Strategien festzuhalten, die sie sich in Mediokristan angeeignet haben. Doch nun drohen sich ihre kleineren und größeren Dummheiten zu Katastrophen für ihre Länder, Unternehmen oder ganze Zivilisationen auszuwachsen.“

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Schon dieser Bezug auf Taleb liest sich 1:1 wie die Einwanderungskrise, die ganz Europa, vor allem aber seine Wohlfahrtsstaaten erfasst hat, auch wenn das die politische und mediale Klasse nur in Ausnahmefällen bisher begriffen hat oder wahrhaben will.

Schwarz erinnert an Ludger Kühnhardt, der 1984 die Monographie Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem. Massenzwangswanderungen in Geschichte und Gegenwart veröffentlichte: „Rund 250 Millionen Menschen, so Kühnhardts Befund, begaben sich in den ersten acht Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf die Flucht.“ Und: „Kühnhardt hat in seiner Untersuchung überdies darauf aufmerksam gemacht, daß eine akzeptable Bewältigung des Flüchtlingsproblems nicht nur von den Aufnahmestaaten abhängt, sondern auch von den Flüchtlingen selbst. Jeder von ihnen hat eine ganz individuelle Geschichte, jeder bringt seine Hoffnungen, Überzeugungen, auch seine Vorurteile, seine Enttäuschungen und seinen Haß ins Gastland. Die meisten zeigen Bereitschaft, sich einzugliedern und sich ein neues Leben aufzubauen. Aber es gibt auch jene Engagierten, die in den Gastländern ihre politischen, ethnischen oder religiösen Auseinandersetzungen untereinander fortführen und weiterhin versuchen, auf die Entwicklungen in ihren Heimatländern Einfluß zu nehmen.“

Lassen wir den Autor selbst sagen, was uns in seinem brandneuen Buch Die neue Völkerwanderung nach Europa – Über den Verlust Politischer Kontrolle und moralischer Gewissheit erwartet:

Kapitel 1 (Der Schwarze Schwan) ist eine Art Ouvertüre. Seit dem fatalen Sommer 2015 sieht sich das alte Europa in eine unbekannte, zusehends bedrohliche Geschichtslandschaft gestoßen. Auch Deutschland hat sich – unvorbereitet, doch in naivem Selbstvertrauen – auf eine Reise begeben, die, mit Nicholas Taleb zu spre- chen, aus dem Land Mediokristan ins Land Extremistan führt. Ich selbst habe mir in der folgenden essayistischen Studie vorgenommen, den Reisebegleiter zu spielen, der die auffälligsten Beobachtungen notiert und sie kritisch kommentiert.

Kapitel 2 (Eine Völkerwanderung neuen Typs) beschäftigt sich mit den Fragen: Wie hat sich die neue Völkerwanderung angekündigt? Gab es Vorzeichen und Vorahnungen? Was sind ihre Merkmale? Von wann an hat sich die Metapher Völkerwanderung zur Kennzeichnung der neuen Lage aufgedrängt? Und warum ist schon das Wort so umstritten? Flüchtlingsströme dieser Wucht und Größenordnung sind einerseits eine humanitäre Herausforderung, andererseits ein Sicherheitsproblem. Wie soll sich Europa verhalten? Das Dilemma ist schwer auflösbar.

schw1.jpgKapitel 3 (Wie kam es zum Kontrollverlust?) analysiert in historischer Perspektive die institutionellen Pull-Faktoren, die in der Europäischen Union entstanden sind: die offenen Landesgrenzen, die fehlende Sicherung der Außengrenzen und das großzügige Flüchtlingsrecht. Statt den Schutz der Außengrenzen umsichtig zu organisieren, hat die Europäische Union buchstäblich einem jeden der mehr als sechs Milliarden Menschen außerhalb Europas das gerichtlich zu überprüfende Individualrecht zugesichert, ein aufwendiges Asylverfahren zu beantragen. Daß alle Verantwortlichen, die Bescheid wissen, diesen Fehler tief unter der Decke halten, ist verständlich, wenngleich unentschuldbar. So ist eine Lage entstanden, die Henry Kissinger mit den Worten charakterisiert hat: »Wir beobachten heute ein sehr seltenes historisches Ereignis. Eine Region verteidigt ihre Außengrenzen nicht, sondern öffnet sie stattdessen. Das hat es seit einigen tausend Jahren nicht gegeben.« Beim Blick auf die Faktoren, die seitens der EU zum Kontrollverlust beigetragen haben, muß auch der nicht ganz unerhebliche deutsche Anteil skizziert und bewertet werden.

Kapitel 4 (Improvisierte Strategien) diskutiert die Krisenstrategien, mit deren Hilfe die EU mit Deutschland als Vorreiter beim Ansturm der Flüchtlingswelle das teilweise selbstverschuldete Chaos in den kritischen Monaten September 2015 bis März 2016 zu bewältigen suchten. Führt man sich die Vielzahl von Maßnahmen vor Augen, mit denen die Europäische Union und ganz besonders die Bundesregierung experimentiert haben und immer noch experimentieren, kommt das bissige Aperçu des Ökonomen Joseph A. Schumpeter in Erinnerung: »Politiker sind wie schlechte Reiter, die so stark damit beschäftigt sind, sich im Sattel zu halten, daß sie sich nicht mehr darum kümmern können, in welche Richtung sie reiten.« Der Ritt hat bekanntlich an den Hof des Sultans Erdogan geführt und ist vorerst im März 2016 mit einem ziemlich fragwürdigen Deal zu Ende gegangen. Immerhin erlaubt die in jenem Monat vorerst eingetretene Ruhepause eine erste kritische Prüfung der verfügbaren Defensivstrategien. Wie stets bei derart schwierigen Herausforderungen ist ein Maßnahmenmix erforderlich. Schon in dieser Phase hat sich gezeigt, daß es bei diesem alarmierenden Kontrollverlust letzten Endes die Staaten waren, die – vorerst provisorisch – den voreilig an die EU übertragenen Schutz ihrer Landesgrenzen wieder zu übernehmen hatten. Dabei mußten leider auch die altbekannten Zwangsmittel wie strikte Grenzkontrollen und Grenzzäune wieder zum Einsatz kommen, damit ein Kollaps verhindert wurde.

Kapitel 5 (Worauf wir uns einstellen sollten) ist ein Versuch, aus den bisherigen Beobachtungen eine Anzahl langfristiger Trends herauszulesen. Der Befund ist besorgniserregend: Die Europäische Union ist mit langfristigen Gefahren konfrontiert, deren Wucht gar nicht überschätzt werden kann. Das gilt nicht zuletzt für Deutschland, dessen Regierung sich viel zu weit herausgelehnt hat. Was Wolfgang Schäuble Mitte November 2015 mit fröhlichem Zynismus in ein Bild gefaßt hat, wird hier detaillierter erörtert: »Lawinen kann man auslösen, wenn ein etwas unvorsichtiger Skifahrer aus dem Hang geht und ein bißchen Schnee bewegt. Ob wir schon in dem Stadium sind, wo die Lawine im Tal angekommen ist, oder ob wir im Stadium am oberen Ende des Hanges sind, weiß ich nicht.« Inzwischen wissen wir Bescheid: Eine erste Lawine hat sich bereits in Bewegung gesetzt – und die Europäische Union ist in ihren Sog geraten. Weitere werden wahrscheinlich folgen.

In Kapitel 6 (Umsteuern, aber wie?) sind einige Leitlinien skizziert, wie die Europäische Union das Schengen-System und ihre Flüchtlingspolitik neu justieren könnte, wenn der gewaltige Migrationsdruck, wie zu erwarten, weiterhin anhält. Noch wagt keine Regierung, an den Kern der Schwierigkeiten zu rühren. Eine kritische Diskussion tiefgreifender Reformmaßnahmen hat noch nicht begonnen: »Überfällig, aber immer noch tabuisiert …« Der hier angedeutete Umbau der Institutionen wäre eine politisch heikle und moralisch unerfreuliche Operation. Auf Reformen wird sich die EU wohl erst einlassen, wenn ihr das Wasser bis zum Hals steht. Wahrscheinlich ist bis auf weiteres ein Kurs unentschiedenen Durchwurstelns. Sicher ist nur eines: In ihrer derzeitigen institutionellen Verfassung wird die Europäische Union auf lange Sicht mit der neuen Völkerwanderung nicht fertig werden.“

Kein Staat in der Welt hat auf die Sicherung seiner Grenzen de facto so verzichtet wie die Mitgliedsländer das der EU erlaubt haben. Niemand sonst hat sich das Recht aus der Hand nehmen lassen, selbst zu bestimmen, wer einwandern darf und wer nicht. Am Ende wird die EU zu dieser Normalität zurückkehren, nachdem es einzelne EU-Länder für sich getan haben, weil die EU nicht handelt. Bis dahin kann aber der Import von fremden Problemen weiter fortgesetzt werden. Auch wenn das völlig unverantwortlich ist.

Das Werk von Schwarz ist ungewöhnlich faktenreich und sauber recherchiert. Es ist verständlich geschrieben, mit einem umfangreichen Anhang versehen und voller Bonmots und scharfsinniger Beobachtungen. Zur Bekämpfung von Risiken und Nebenwirkungen, die nach der Lektüre entstehen und den Leser in tiefe Verzweiflung angesichts der offenbarten Unfähigkeit der Regierenden stürzen, dazu werden keine Rezepte mitgeliefert.