Wie sieht die Einwanderungspolitik der Zukunft aus? Wird sich Deutschland wandeln? Wie sehen unser Land, unser Leben und unsere Leute in 50 Jahren aus? Die höchst brisante Politik der schwarz-roten großen Koalition hat eine, seit langem unbekannte, Unsicherheit geschaffen, die sich wie ein omnipräsentes Leichentuch über andere, ebenfalls wichtige, gesellschaftliche Problemfelder legt. Eher glücklich haben wir das Thema der Vermassung hinter uns gelassen und es ins halbgeliebte 20. Jahrhundert gedrängt.
Niemand liebt die Masse, niemand will sie anerkennen, aber es gibt sie.
„Masse? So etwas gibt es nicht! Es gibt nur uns Arbeiter“, schreien die Sozialdemokraten. „Masse? Sie meinen die verdammten Progressiven?“, antworten die Konservativen. Und munter beginnt das Abstreiten. Die Soziologen verneinen den Begriff. Für sie gilt heute das Individuum. Doch was sagen die Historiker dazu? „Masse. Ein Phänomen der Faschismen“, erschallen die greisen Rufe. Die Politiker hingegen lieben jede einzelne Stimme: „Einzig allein auf die Menschen kommt es an!“
Selbst die Naturwissenschaftler sind mittlerweile glücklich, sich in Berechnungen der Quantenphysik zu stürzen, die Entfernung zu fernen Galaxien zu ermitteln oder das Geheimnis der genetischen Verschlüsselung zu lüften. Masse. Dieser muffige Klang nach der langweiligen 5. Klasse. Der Apfel fällt auf einen klugen Kopf. Wilhelm Tell war spannender. Sogar für Physiker. Jeder hasst die Massen. Und die Masse selbst, weiß nicht, dass sie Masse ist. Niemand misst der Masse eine ernsthafte Bedeutung bei. Der Begriff schwimmt durch die Wogen der Geschichte. Im Zeitalter der Überindividualisierung hat er jedoch nichts verloren.
Aber es gibt sie noch. Die Masse. Dieses Wesen amorpher Gestalt. Weder fassbar noch greifbar, nur selten klar zu definieren mit einer weltenverändernden Wucht und einer zeitenverändernden Reichweite. Sie stürzte Reiche und Länder, köpfte Könige und Herrscher, brandete auf und versickerte wieder im neu beackerten, fruchtbaren Erdreich. José Ortega y Gasset hasste die Masse, sie veränderten seine Welt. Er verarbeitete sein Empfinden in dem großartigen Buch „La rebelión de las masas“.
Aktive Masse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Die Massen rebellierten und begehrten auf. Es gab sie schon immer, aber auf einmal durchdrangen sie das öffentliche Leben, die Gesellschaft und den Staat. Die deutsche Übersetzung des Titels ist leicht abgewandelt: Der Aufstand der Massen. Diese ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Aufstand“ trifft den Zeitgeist Ortega y Gassets zielgenau. Sie erhoben sich aus den Tiefen der Unbildung, der Armut, des Prekariats und des Proletariats. Sie standen auf und veränderten Europa und das junge 20. Jahrhundert. Niemand konnte mit ihr Schritt halten, sie kontrollieren oder zügeln. Nur dem technischen Fortschritt, kombiniert mit der arbeitsamen Schlagkraft der Masse, gelang es, einen gewaltigen Wohlstand zu generieren und damit die Zündschnur auf unbekannte Dauer zu verlängern.
Vor der Rebellion, im langen 19. Jahrhundert, lebte die Masse im Dreck, stumpf von Tag zu Tag, apolitisch und verschreckt, kauerte sie sich hinter die großen Maschinen und freute sich darüber, dass ihre Kinder nicht dem Hungertod anheimfielen. Dann entdeckte sie ihre Macht. Sie kämpfte sich nach oben, direkt durch den eigenen Willen, oder indirekt gesteuert von den alten und neuen Ideologen. Sie sprang aus dem Dunkel ihrer Fabrikhallen und machte Weltgeschichte. Wie ein Gigant hatte sie sich erhoben, hatte ihren „Aufstand“. Stehen will gelernt sein und wer allzu lange unbequem gesessen hat, den schmerzen viel zu früh die ungeübten Glieder. Die träge Masse setzte sich auf ihre neuen, bequemen Stühle und lehnte sich langsam und erschöpft zurück. Es ging der Masse gut, also stimmte sie zu und nickte ab.
Passive Masse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
In der geliebten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie wieder passiv, faul und benebelt vom süß-schläfrigen Wohlstand, politisch so wirkungslos wie vor Beginn ihres Zeitalters. So passiv, dass wir vergaßen, dass es sie gab. Die Masse versteckte sich. Sie tarnte sich als Bürger, doch vor allem tarnte sie sich als Konsument. Erneut beginnt die Zeit der großen Ideologien. Seit einigen Jahrzehnten kämpfen diese mit immer härteren Bandagen. Schon immer fochten Meinungen und Gruppen ihren intellektuell-ideologischen Kampf, doch nun weitet sich der Kampf aus, wird kälter und erbarmungsloser. Niemand versteht mehr die Worte seines Gegenübers. Auch hier liegt das Leichentuch über dem Nebel des Geschehens und schluckt Schlachtenlärm, Schreie und Erklärungen der Gegner.
Sie schreien sich gegenseitig ins Ohr, doch nur dumpfe Töne werden vernommen, gleich einem Ertrinkenden im tiefen Nass. Verschiedenste Weltanschauungen teilen gegenseitig Schläge aus, kleinste Partikularinteressen ringen miteinander: Die Neobolschewisten gegen die Montagsdemonstranten, die Putin-Jünger gegen die Freiheitsfanatiker, die Anti-Amerikaner gegen die EU-Föderalisten, die Euro-Kritiker gegen die Freihändler, die Grünen gegen die Kapitalisten, die Liberalen gegen die Konservativen. Schaut man aus der Distanz, erkennt man lediglich Chaos und Gebrüll. Betrachtet man die Szene aus der Nähe, erkennt man die wahren Gesichter der erbitterten Gegner. Man sieht Muster, Abfolgen, Bewegungen, welche sich nicht auf dem ersten Blick offenbaren. Nur wenn man die Blaupause der Geschichte über den stürmischen Kampfplatz legt, beginnt man endlich zu begreifen. Keine echte Schlacht wird bestritten. Eigentlich ist es ein Zweikampf der alten Rivalen: Bismarck gegen Marx.
Und während die bärtigen Männer sich mit Schwert und Sichel bekriegen, sitzt dort in der Mitte des tobenden Feldes die noch blinde und taube Masse. Sie ist es gewöhnt zu ruhen und ist feist und faul geworden. Sie trotzt noch dem Kampf und blinzelt lethargisch. Sie ist vollkommen glücklich mit Reichtum, Konsum und Sicherheit. Ihr Stuhl jedoch ist alt und wurmstichig geworden und der Kampf wird wilder und heftiger. Es wird keinen Sieg geben, bis der Dritte im Ring eine Partei ergreift. Es ist ein Zweikampf um die Gunst der fallenden Masse, denn nur diese kann den Krieg beenden.
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