Hans-Dietrich Sander (geb. 1928) ist den jüngeren oft nur noch als Kolumnist der Zeitschrift Neue Ordnung bekannt. Seine letzte Buchpublikation, Die Auflösung aller Dinge: Zur geschichtlichen Lage des Judentums in den Metamorphosen der Moderne, liegt achtundzwanzig Jahre zurück. Sanders Karriere gehörte zu denjenigen, die mit dem fortschreitenden Anziehen der Daumenschrauben in der Bundesrepublik der 80er beendet wurden.
Sander ließ sich damals nicht unterkriegen und machte mit seinen Staatsbriefen weiter, die er bis 2001 herausgab. Sanders Spätwerk, insbesondere seine Überlegungen zur ghibellinischen Reichsidee, liegen daher nicht als Monographie, sondern in Form einer Reihe von in über einem Jahrzehnt entstandener Artikel vor. Es ist sehr begrüßenswert, das eine Sammlung der bedeutendsten dieser Schriften jetzt unter dem Titel Der Ghibellinische Kuss im Arnshaugk-Verlag erschienen ist.
Sander und sein Herausgeber sind nicht immer klar zu trennen
Neben der Tatsache, dass eine Reihe von Einzelaufsätzen nicht die beste Darstellungsweise des Themas ist, leidet dieses Buch jedoch noch unter einem anderen Strukturfehler. Im Wunsch, manche Texte dem Fortgang der Zeit anzupassen, griff der Herausgeber Heiko Luge zum Mittel der fortgeltenden Historisierung. Dass heißt, die alten Texte wurden an manchen Stellen der heutigen Lage angepasst. Vermutlich aus Altersgründen geschah dies jedoch nicht durch Sander selbst, sondern „nach Rücksprache mit dem Autor“ durch Luge.
An manchen Stellen sind daher Sander und sein Herausgeber schwer zu unterscheiden, zumal „nach Rücksprache mit dem Autor“ eine interpretationsoffene Formulierung ist. Bei einem Werk tieferen Inhalts handelt es sich aber nicht um einen Werbetext oder eine Gebrauchsanweisung, deren Autorschaft unerheblich ist. Das Lesen solcher Texte stellt eine Form der Verständigung zwischen Autor und Leser dar. Kurz, wenn Sander, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage war, sie selbst durchzuführen, hätte man die fortschreitende Historisierung besser unterlassen.
Das Reich als europäische Ordnungsmacht
Dass der Ghibellinische Kuss trotzdem ein bedeutendes Buch ist, liegt sowohl an der Problemstellung, wie am Lösungsvorschlag. Die erste ist, je nach Perspektive, die deutsche Frage in der Mitte Europas, oder die europäische Frage um Deutschland herum. Die erste gilt vielen als mit der Wiedervereinigung beantwortet. Was die Frage der europäischen Selbstbehauptung betrifft, so ist über kein Thema mehr Tinte ergebnislos verspritzt worden.
Auf der einen Seite stehen hier die Eurokraten und ihre Claqueure, die selbst dort, wo sie die Fehler ihre Baus erkennen, keine Korrektur im Blick haben, auf der anderen Seite die Europakritiker, die entweder zu achtundzwanzig einzelnen Nationalstaaten zurückwollen – immer noch die realistischste Nicht-Lösung; oder aber sich in die Charles de Gaulle zugeschriebene Formulierung eines „Europas der Vaterländer“ flüchten, von dem keiner weiß, wie es aussehen, noch weniger was es zusammenhalten soll.
Sander hat all dem den Reichsgedanken voraus. Von diesem Fundament lassen sich Konturen einer um Deutschland als Hegemonialmacht gestalteten europäischen Ordnung entwickeln. Diese Ordnung, die die europäischen Völker um den Kern eines deutschen Nationalstaats gruppiert, ihnen Schutz gewährt und sie in ihrer Eigenart bewahrt, ist nach Sander Inhalt der ghibellinischen Reichsidee. Mit seinem auf Thomas Hobbes zurückgreifenden Herrschaftsbegriff, der Gegenseitigkeit von Schutz und Gehorsam, vermag er zudem die strukturelle Grundbedingung eines handlungsfähigen europäischen Raumes anzugeben.
Mit der Herrschaft des Reiches setzt sich Sander über die schwammigen Vorstellungen einer „europäischen Einigung“ hinweg, die bestenfalls weder Schutz gewährt, noch Gehorsam verlangt, schlimmstenfalls diesen einfordert, ohne jenen überhaupt geben zu können.
Die drei Verbote
Wer aber in der ghibellinischen Idee Rezepte für das Hier und Heute sucht, wird bei Sander enttäuscht werden. Er weiß zu gut, dass das heutige Deutschland nicht über die nötigen Mittel verfügt, nicht materiell, aber erst recht nicht geistig, dass es nicht „reichfähig“ ist. Aus dieser Einsicht schreibt er auch mehr für die Zukunft als für die Gegenwart, um die Idee des Reiches, der einzigen Ordnung, deren Europa aus eigener Kraft ohne einen äußeren Hegemon fähig ist, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Dass zudem erst der ganz aktuelle Saustall ausgemistet werden muss, bevor es an langfristige Planungen geht, sollte jedem offensichtlich sein.
Wenn aber ein unabhängiges Europa möglich sein soll, so muss es zu einem eigenständigen Großraum werden. Nach den Erfahrungen der Globalisierung ergänzt Sander das „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ Carl Schmitts um ein „Immigrationsverbot raumfremder Stämme und Völkerschaften“, sowie um ein „Investitionsverbot raumfremden Kapitals“. Ob es möglich ist, die Globalisierung, die One World der Technik und des Verkehrs durch raumordnungspolitische Dekrete zu bannen, darf aber bezweifelt werden. Die Alternative dürfte jedoch ein immer weiter ausuferndes Chaos sein, dass aufgrund seiner schieren Ausmaße von keiner Ordnungsmacht mehr zu bändigen wäre, wie das Reich auf europäischem Boden eine darstellen könnte.
Leider keine kulturmorphologische Grundlage
Es bleibt die Frage der „Reichfähigkeit“ der Deutschen. Dass wir in der Lage sind über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und ganz Europa im Blick zu haben, dies haben wir in unserer Geschichte mehrfach bewiesen, zuletzt ironischerweise unter Angela Merkel in der Eurokrise, während der es den Deutschen als einzigen nicht nur um kurzfristige Eigeninteressen ging. Zusammen mit unserer Mittellage und unserer relativen Macht betrachtet, ist Sander daher uneingeschränkt beizupflichten, dass eine europäische Ordnung nur von Deutschland ausgehen und um Deutschland herum gestaltet werden kann.
Sanders Ausführungen zu den Deutschen sind allerdings allzu oft reine Behauptungen. Um die Reichstauglichkeit der deutschen Volksseele genauer auszumessen, fehlt Sander leider die kulturmorphologische Grundlage. So verliert sich der promovierte Geistesgeschichtler bisweilen im Strom seiner Eindrücke, insbesondere, wenn es um die Bedeutung des Christentums, des römischen Erbes und beider Beziehung zum Germanentum geht, einem Thema, das unzählige Denker zu wüstesten Assoziationen verleitet hat.
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