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dimanche, 27 août 2017

»Verblendete Realitätsverweigerer« - Vom SPD-Parteisoldaten zum AfDler

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»Verblendete Realitätsverweigerer«

Vom SPD-Parteisoldaten zum AfDler

Guido Reil rechnet im PAZ-Interview mit der Sozialdemokratie ab

Ex: http://www.preussische-allgemeine.de

Guido Reil (47) kann auf eine klassische SPD-Karriere zurück-blicken. Er war 26 Jahre Parteimitglied im Ruhrgebiet, der sogenannten Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie. Geradezu typisch auch sein beruflicher Werdegang: Er absolvierte eine Ausbildung im Bergbau, war dort Steiger und fungiert als Gewerkschafter. In der Kommunalpolitik war er als Bezirksvertreter tätig. Außerdem ist er Ratsherr in seiner Heimatstadt Essen. 2016 verließ Reil demonstrativ die SPD und wurde wenige Monate später Mitglied der Alternative für Deutschland (AfD), die er auf dem Weg zur Volkspartei sieht. Über Motive und Hintergünde seines politischen Weges sprach Bernd Kallina in Essen mit Guido Reil.

PAZ: „Mehr SPD ging nicht“, sagen Sie im Rückblick auf Ihre jahrzehntelange Mitgliedschaft in der ältesten deutschen Partei. Trotzdem haben Sie die Sozialdemokratie vergangenes Jahr plötzlich verlassen. Das muss schwerwiegende Gründe gehabt haben. Welche?
Guido Reil: Es gab mehrere Gründe. In erster Linie hing das mit einer anhaltenden Realitätsverweigerung des heutigen Establishments der SPD zusammen. Das Hauptproblem bei diesen Berufspolitikern besteht darin, dass sie mit dem wahren Leben der kleinen und lohnabhängigen Menschen, mit den Arbeitern und Angestellten, also mit denjenigen, deren Interessen sie eigentlich vertreten sollten, nichts mehr zu tun haben.

PAZ: Wie erklären Sie sich diese Distanz?
Reil: Sie kennen das ganze Leben der Menschen an der Basis zu wenig, wenn überhaupt! Diese Realitätsverweigerer, wie ich sie bezeichne, sind hier in erster Linie Akademiker, die über mehrere Semester – meist im sozialwissenschaftlichen Bereich – Theoriearbeit geleistet haben. Nichts gegen Theoriearbeit. Nur hat sie bei vielen zu einer unglaublichen Distanz zum wirklichen Leben der einfachen Leute geführt, oftmals gepaart mit linksideologischer Utopiegläubigkeit, die nicht weiterführt, sondern konkrete Problemlösungen erschwert! In aller Regel ist dieser Personenkreis schon sehr jung in die Parteiarbeit eingestiegen, hat sich hochgedient und gleichzeitig Kadavergehorsam gelernt. Denn wer querschießt, auch mit besten Argumenten, kann seine Parteikarriere frühzeitig begraben. Die SPD steht mit diesem Missstand allerdings nicht alleine, unsere alten Parteien sind allesamt streng und straff durchorganisiert. Wer da aufmuckt, muss eine Hausmacht haben, und die hatte ich, weil ich wusste, die Leute stehen hinter mir.

PAZ: Wann kam es dann zum eigentlichen Bruch? War es die Asylkrise?
Reil: Zunächst war es die Tatsache, dass ich seit 2005 den grundsätzlichen Kurs der SPD nicht mehr verstanden habe. Meine Parteifreunde hatten eigentlich nur noch Interesse am Verbleib in der Regierungskoalition. Dann hatten wir einen massiven Zuzug von Migranten aus Rumänien und Bulgarien seit 2010 und ein paar Jahre später die alles übertreffende Flüchtlingskrise seit September 2015. Sie erwies sich gewissermaßen als Speerspitze einer strategischen Fehlentwicklung, die im Land und in den Kommunen massiv ankam und das Fass zum Überlaufen brachte. Ich sage ganz klar: Der überwiegende Teil dieser Menschen war keine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Ich meine nicht nur Kriminelle, sondern auch Zuwanderer, die sich durch Schwarzarbeit ernähren und dabei gnadenlos ausgebeutet werden. Hinzu kommt eine Vielzahl von Migranten, die sich überhaupt nicht integrieren wollen und ganz bewusst zur Entstehung von konfliktträchtigen Parallelgesellschaften in unserem Land beitragen. Offenkundig ist auch, dass große Bereiche von schwerster Kriminalität Migranten aus dem Balkan zuzurechnen sind. Da wird zum Beispiel Kindergeld von Kindern aus dem Ausland bezogen, die es gar nicht gibt, und viele andere Gesetzwidrigkeiten, die von unseren Parteivertretern, allen voran der SPD, in den Parlamenten schlicht und einfach hingenommen werden. Das macht den eigentlichen Skandal aus.

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PAZ: An welche anderen Gesetzwidrigkeiten denken Sie dabei?
Reil: Ich denke an Menschen aus dem Libanon, die ohne Pässe schon vor Jahrzehnten zu uns kamen und noch heute enorme Schwierigkeiten bereiten. Wir haben es dabei auch mit organisierter Kriminalität schwerster Art zu tun, vor allem in Berlin, Hamburg und Essen. Ich habe dies als ehrenamtlicher Richter in Essen hautnah miterlebt. Da gibt es zum Beispiel Libanesen, die gleich viermal nach arabischem Recht verheiratet sind und für vier Familien Sozialhilfe auf unsere Steuerkosten kassieren. All das passiert ohne wirksame Gegenmaßnahmen!

PAZ: Aber das müssten Ihre damaligen sozialdemokratischen Parteifreunde doch auch registriert haben?
Reil: Eben nicht! Ich hatte nie das Gefühl, dass sie die himmelschreiende Problematik ernsthaft interessiert hätte. Es war vielmehr so, dass ich, der die unhaltbaren Zustände immer wieder aufgriff, dafür massiv beschimpft wurde, auch vom Integrationsrat der Stadt Essen. Ich wurde als Rassist und angeblicher Fremdenfeind gebrandmarkt und als „Nazi-Sozi“ an den Pranger gestellt. Oder, das war dann die andere Flucht-Variante vor Verantwortung, mir wurde beschwichtigend entgegengehalten, dass es sich doch nur um marginale Einzelfälle handle, die man nicht überbewerten dürfte.

PAZ: Wie erklären Sie sich diese Ablenkungs- und Verdrängungssymptome?
Reil: Das heutige SPD-Parteiestablishment will die ganze Misere aus ideologischen Gründen nicht wahrhaben. Multi-Kulti muss aus dessen Sicht immer eine Bereicherung sein. Abweichungen vom Idealbild werden nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Dabei handelt es sich aber um eine ideologisch bedingte Wahrnehmungsstörung mit staatspolitisch gemeingefährlichen Auswirkungen für unser Land.

PAZ: Welche Lösung schlagen Sie vor?
Reil: Die Lage ist durch jahrelange Fehlentwicklung leider sehr verfahren, und eine Ideallösung habe ich auch nicht parat, aber es gibt eine ganze Menge Lösungsansätze. Fangen wir bei der Flüchtlingsproblematik an, dem entscheidenden Punkt, bei dem bei mir das Fass zum SPD-Austritt endgültig übergelaufen ist. Wichtig ist: Man muss die Probleme offen ansprechen, das ist der aller-erste Schritt. Ich habe die Bilder vor den Bahnhöfen doch gesehen, mit den Tausenden von jungen Männern – und nachdem ich weiß, wo diese Menschen landen, nämlich bei uns, wo die ungelösten Probleme schon übergroß sind und durch weiteren Zuzug noch verschärft werden. Dem Ruhrgebiet und insbesondere dem Essener Norden geben diese nicht zu bewältigenden Menschenmassen endgültig den Rest! Das musste ich doch massiv thematisieren, auch gegen Widerstände. Deswegen hatte ich ja im Herbst 2015 zu Demonstrationen vor Ort aufgerufen, die dann von oben, das heißt von der damaligen NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft SPD-intern verboten wurden.

PAZ: Nicht nur Frau Kraft, vor allem die Jungsozialisten hatten Sie schon frühzeitig auf dem Kieker und deckten Sie mit Nazi-Vorwürfen ein. Herr Reil, meinten sie das wirklich ernst oder waren das nur Totschlag-Argumente gegen einen parteiinternen Gegner?
Reil: Ich habe mir diese Frage zu Beginn der jahrelangen Auseinandersetzungen auch oft gestellt und muss heute leider sagen: Ja, eine deutliche Mehrheit dieser Jusos sind tatsächlich so verblendet. Die glauben das wirklich! Die sehen in jedem, der für Zuzugsbegrenzungen von Migranten eintritt, einen Nazi! Deswegen sind sie auch so aggressiv. Man kann mit denen gar nicht vernünftig reden. Ich habe mehrfach versucht, mit ihnen zu einem fairen Dialog zu kommen. Das ging nicht. Die bekommen sofort Schaum vor dem Mund und fangen an zu schreien. Ein rationaler Dialog mündiger Bürger, immerhin das Erziehungsziel der Bundesrepublik Deutschland in Abgrenzung zur NS- und SED-Diktatur, ist mit diesen Leuten, so wie ich sie kennenlernte, nicht möglich. Aber ich muss noch ergänzen: Mit der Faschismuskeule fuchtelten nicht nur die jungen, unerfahrenen Jusos wild herum, auch einige etablierte Sozialdemokraten schlossen sich dieser Totschlagsgebärde an.

PAZ: Nun gab es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine ganze Reihe von anerkannten, ja berühmten Sozialdemokraten, die vor grenzenloser Zuwanderung nach Deutschland und Europa warnten. Otto Schily hielt schon 1998 die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung für überschritten. Nicht zuletzt Helmut Schmidt sprach im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ angesichts massiver Migration von der ernsten Gefahr einer, so wörtlich, „Entartung der Gesellschaft“. Warum sind diese klaren Worte staatsmännischer Verantwortungsethik in der heutigen SPD keine handlungsleitenden Vorbilder mehr?
Reil: Weil die, die jetzt und in den vergangenen Jahren in der Verantwortung standen, in keiner Weise mehr in der traditionellen Sozialdemokratie verwurzelt sind. Ich habe die Sozialdemokratie sozusagen noch mit der Muttermilch aufgenommen und habe SPD-Genossen und Gewerkschaftssekretäre von altem Schrot und Korn kennengelernt, die waren ganz nah am Volk. Auch Herbert Wehner hat schon in den 80er Jahren eindringlich vor einer übertriebenen Multikulturalisierung gewarnt. Helmut Schmidt, Sie erwähnten ihn, ist und bleibt für mich der größte Sozialdemokrat der Bundesrepublik, nicht nur wegen seiner realistischen Einschätzung in der Zuwanderungsfrage. Doch das will man heute in der SPD nicht mehr wahrhaben und erleidet dadurch Schiffbruch.

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PAZ: Nach Ihrem SPD-Austritt und vor allem durch Ihren Wechsel zur Alternative für Deutschland, AfD, mussten Sie viele Ausgrenzungen und Schikanen hinnehmen. Welche waren besonders belastend?
Reil: Ja, die Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern, vor allem im ausufernden „Kampf gegen Rechts“, haben an Härte und Brutalität enorm zugenommen. Konkret: Mein Haus wurde beschmiert, das Auto meiner Frau völlig zerstört. Rein materiell ein Gesamtschaden in Höhe von 14000 Euro.

PAZ: Das sind ja ähnliche Vorkommnisse wie in Rheinland-Pfalz beim dortigen AfD-Landesvorsitzenden Uwe Junge, oder?
Reil: Bei meinem Parteifreund Junge war die Gewaltanwendung noch schlimmer. Bei ihm drangen Extremisten ins Haus ein und verwüsteten es. Außerdem haben sie ihn auch tätlich angegriffen. Das ist schon eine Nummer krasser als bei mir – vorläufig. Aber: Hätte ich nicht Personenschutz in letzter Zeit gehabt und wären bei meinen Auftritten nicht ständig Polizisten dabei, ich befürchte, dass ich manche Konfrontation nicht heil überstanden hätte, so zum Beispiel bei der traditionellen Maikundgebung in diesem Jahr. Eine Hundertschaft Polizei musste einschreiten, sonst hätten mich fanatisierte Gegendemonstranten sicherlich gelyncht. Das ist jetzt keine Übertreibung, Video-Aufzeichnungen belegen die erschreckenden Szenen eindeutig! Und ich muss gestehen: Als ich hautnah in die Augen dieser aufgeputschten und hasserfüllten Menschen gesehen habe, stieg in mir Angst auf, obwohl ich bestimmt kein Weichei bin! Es ist mir unheimlich, was sich da zum schlechten Stil der politischen Auseinandersetzung leider entwickelt hat.

PAZ: „Was mir auf der Seele brennt!“ heißt der Untertitel Ihres im April erschienen Buches „Wahrheit statt Ideologie“. Was liegt Ihnen beim Blick in die Zukunft besonders auf der Seele?
Reil: Mein Hauptziel ist die Ent-Dämonisierung der AfD. Der einzige Grund, warum die AfD noch nicht die Stimmenanteile hat, die sie eigentlich haben müss­te, ist eine geschlossene, sogenannte Volksfront gegen sie. Fast alle gesellschaftlich relevanten Gruppen agitieren gegen diese junge und aufstrebende Partei: Kirchen, Parteien, mit Steuergeldern finanzierte Anti-Rechts-Gruppen und ein Großteil unserer Leitmedien. Uns wird dabei immer unterstellt, wir hätten Vorurteile. Aber ich frage Sie: Warum wählen die Leute genau dort, wo sie den Migranten besonders ortsnah verbunden sind, in den sogenannten Mulitikulti-Zonen, warum wählen diese Bürgerinnen und Bürger verstärkt die AfD? Da frage ich mich doch, wer hat denn hier nachvollziehbare Vorurteile? Die hat doch der, der von etwas spricht, wovon er keine Ahnung hat.

Die Entzauberung der Welt

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Die Entzauberung der Welt

Stefan Martin

Ex: http://aka-blaetter.de

Immer deutlicher treten die Fehlentwicklungen der Moderne zu Tage. Werner Kunze beschäftigt sich mit der Frage, ob die Moderne noch zukunftstauglich ist. Herausgekommen ist eine brillante Analyse des herrschenden Zeitgeistes.

Das Unbehagen an der Moderne wächst. Es mehren sich die Stimmen derer, die eine kritische Bestandsaufnahme fordern. „Die herrschende Kultur des Westens ist ganz ersichtlich an immanente Grenzen gestoßen, sie ist erschöpft, wie nach einer durchtanzten Nacht, ihr Make-up rissig“ konstatiert der Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in seinem 2005 erschienen Buch „Die Kultur der Freiheit“.

Die Epoche der Moderne beginnt mit der Französischen Revolution und ihrer populären Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant gibt den Leitspruch der Aufklärung „Sapere aude. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ aus. Fortan soll der Mensch ein selbstbestimmtes, von allen gesellschaftlichen und religiösen Zwängen befreites Leben führen. Ratio und Vernunft stehen im Zentrum der Bewegung. Die Aufklärer glauben zutiefst an die Veränderbarkeit der politisch-sozialen Verhältnisse. Nicht wenige, wie der Franzose Auguste Comte (1798–1867) sehen in dem aufkeimenden Zeitalter der Moderne das finale, unübertreffliche Stadium der Geschichte.

Und heute, so fragt Werner Kunze: Haben sich die weitreichenden Hoffnungen und Erwartungen der Gesellschaftsingenieure von 1789 erfüllt? Zweifellos hat der wissenschaftlich-technische Fortschritt eine bewundernswerte Verbesserung unserer materiellen Lebensverhältnisse bewirkt. Wir leben gesünder, behaglicher und komfortabler als jemals zuvor. Aber sind wir auch glücklicher? Augenscheinlich ist dem nicht so. Die rapide Abnahme der Geburtenzahl in Deutschland, das Auseinanderbrechen der Familienbande – von der Politik oft verharmlosend als Patchwork-Glück dargestellt – und die drastische Zunahme psychischer Erkrankungen wie Burn-Out und Depression sprechen für sich und können, so Werner Kunze, von Menschen guten Willens nicht länger ignoriert werden. Ein ganzes Heer von Psychologen, Psychiatern und Sozialarbeitern ist mittlerweile nötig, um die psychischen Schäden in unserer Gesellschaft wenigstens oberflächlich zu behandeln.

Der Fortschritt wird’s schon richten!

Wie stellt sich die Moderne uns heutigen Zeitgenossen dar? Der Autor nähert sich der Frage aus der Vogelperspektive, um das große Ganze besser in den Blick nehmen zu können. Er hofft so, zu übergeordneten Erkenntnissen zu gelangen, denn „wer sich nur in der Froschperspektive bewegt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er zumeist nur Schlamm und Dreck sieht“. Zu den Charakteristika der Moderne zählt Kunze die enthemmte Beschleunigung, die Ausrichtung des einzelnen an der Masse, eine nie da gewesene Konzentration auf das Materielle mit Geld als universellem Bewertungsmaßstab sowie die offenkundige Orientierungs- und Ziellosigkeit der gesellschaftlichen Eliten. Der Fortschritt wird’s schon richten!

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Die Beschleunigung hat nahezu alle Lebensbereiche erfasst. Das Rad der Moderne dreht sich schneller und schneller. Wo das Ziel abhanden kommt, werden Tempo und Schnelligkeit zum Selbstzweck erhoben.  Besonders offenkundig wird dies in der Politik. Was heute noch im Brustton der Überzeugung verkündet wird (die Renten / die Banken etc. sind sicher, der Mindestlohn / die Wehrpflicht / die Atomkraft etc. stehen nicht zur Debatte), ist schon morgen Schnee von gestern.

Ein weiteres Kennzeichen der Moderne sieht Kunze in der Vermassung: Massenmedien, Massengeschmack, Massenverhalten. Niemand zwingt uns, groteske Casting-Shows anzuschauen und Dieter Bohlen dabei zu beobachten, wie er vor laufender Kamera Minderjährige bloßstellt. Auch unsere Daten im „sozialen Netzwerk“ Facebook hinterlegen wir ganz freiwillig. Der allseits propagierte Individualismus steht dabei in krassem Gegensatz zur freiwilligen Ausrichtung des Individuums an der Masse. Trashfernsehen, Facebook & Co. sind auffälliger Ausdruck dieses Zeitgeist-Phänomens.

Nicht zuletzt ist es die einseitige Betonung des Materiellen, die den Zeitgeist prägt. Mehr als 200 Jahre nach dem Beginn der Aufklärung hat die materialistische Weltanschauung, nach der nur das als existent gilt, was sich nach naturwissenschaftlichen (und damit vermeintlich objektiven) Gesetzmäßigkeiten erklären lässt, auf ganzer Linie gesiegt. Längst ist der Materialismus in den Bereich des Privaten übergeschwappt. Von der Beherrschung der Natur durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Beherrschung der zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Menschliche Beziehungen werden verzweckt. Oder wie es der Soziologe Aldo Haesler jüngst in der ZEIT ausdrückte: „Heute dienen menschliche Beziehungen als Rohstoff, um einen künstlichen Mehrwert herzustellen. In unserer Vorstellung ist jede Beziehung ein potentielles Win-Win-Spiel.“ Networking nennt man das auf Neudeutsch.

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Immaterielle menschliche Bedürfnisse wie Geborgenheit, Liebe, Gefühle, Ästhetik und Phantasie bleiben zunehmend auf der Strecke. Völlig zu Recht beklagt der Autor eine Halbierung des Menschen: „Heute gilt es als chic, cool zu sein, nüchtern, distanziert, emotionsfrei. Wir sprechen vom falschen Pathos, kennen aber auch kein richtiges mehr. Wir sind innerlich ärmer, weil rationaler geworden.“ Den Preis für die unser gesamtes Leben durchdringende Intellektualisierung und Rationalisierung hat Max Weber bereits 1919 benannt: Die Entzauberung der Welt. Wehmütig erinnert Kunze an die nach zwei verlorenen Weltkriegen verschüttet gegangene Tradition des deutschen Idealismus. Noch Fichte, Hölderlin, Hegel und Schelling sahen den Menschen als ganzheitliches Wesen mit einem elementaren Bedürfnis nach Sinn und Methaphysik. Besonders angetan haben es ihm die deutschen Romantiker. Hier gerät Kunze nachgerade ins Schwärmen:  „Der Romantik gebührt das Privileg, sich als erste Bewegung mit den grundsätzlichen Fragen der Moderne kritisch auseinandergesetzt zu haben. Sie behält einen Ehrenplatz als eine der schönsten und sympathischsten Blüten am prächtigen Baum der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte“. In der romantischen Hinwendung zu Gemüt, Gefühl, Freundschaft und Liebe erblickt er einen nach wie vor existenten, heute jedoch leider fast ausgetrockneten Teil der deutschen Volksmentalität. Sehr früh habe sich die deutsche Romantik gegen den kalten Rationalismus gewandt und mit Leidenschaft versucht, der Tradition, der Gefühlsseite des Menschen, der Poesie und der Musik ihren Platz zu geben.

Wie anders die heutigen Zeiten! Von Transzendenz und Religion erwarten wir schon lange keinen Halt mehr. Das letzte soziale Band in unserer Gesellschaft scheint das Geld zu sein. Wo menschliche Nähe, Empathie und Geborgenheit zum knappen Gut verkommen und Gefühle bestenfalls als peinlich gelten, fungiert das immer unsichtbarer werdende Geld als letztes Schmiermittel im Räderwerk der modernen Gesellschaft. Man mag sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn sich die materiellen Lebensverhältnisse – beispielsweise in Folge einer  weiteren Eskalation an den Finanzmärkten oder der plötzlichen Verknappung fossiler Energieressourcen – merklich verschlechtern.

Zu den Paradoxien der Moderne gehört, dass sich viele der aufklärerischen Ideen in ihr Gegenteil verkehrt haben. Stichwort: freie Meinungsäußerung. Heutzutage wird jeder, der gegen die vom Zeitgeist verordneten Dogmen verstößt, an den medialen Pranger gestellt. Zu diesem Dogmenbestand zählen: Das Individuum hat Vorrang vor der Gemeinschaft, alle Menschen sind prinzipiell gleich, der Mensch ist von Natur aus gut, Prägungen durch Herkunft, Abstammung, Begabung, Vererbung existieren nicht oder sind irrelevant. Wer vom vorgegebenen Tugendpfad (Thilo Sarrazin, Eva Herman) abweicht, wird zum Abschuss freigegeben. Mit Meinungsfreiheit hat das freilich nichts mehr zu tun. Die modernen Tugendwächter, die ständig auf der Lauer liegen, um Verstöße gegen die Political Correctness aufzuspüren und anzuprangern, haben augenscheinlich ihren John Stuart Mill (1806–1874) nicht gelesen. In seiner Schrift „Über die Freiheit“ weist Mill eindringlich auf die Gefahr des Despotismus über das Individuum hin: „In der Diskussion darf keine Meinung, mag sie noch so vereinzelt sein, unterdrückt werden. Denn wie können wir sicher sein, ob die Meinung, die wir uns anschicken zu unterdrücken, eine falsche Meinung ist?“ Vor der Gefahr des „Despotismus der Gesellschaft über das Individuum“ sind auch so genannte offene Gesellschaften nicht gefeit.

Eindrucksvoll führt Kunze dem Leser die Kollateralschäden der Moderne vor Augen. Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden, in Großstädten gar jede zweite. 37 % aller erwachsenen Frauen leben als Single. Die Zahl der Patchwork-Familien steigt kontinuierlich. Logische Folge der Auflösung der Familienbande (im Zusammenspiel mit der rasenden Beschleunigung des Lebens) ist die starke Zunahme psychischer Erkrankungen wie Burn-Out und Depression, deren Behandlung 2008 Kosten von knapp 15 Milliarden Euro verursachte. Neben Managern, Sozialarbeitern und Akademikern sind in zunehmendem Maße Kinder und Jugendliche davon betroffen.

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Die Bilanz der 68er „Kultur“-Revolution ist verheerend

Auch die Bevölkerungsentwicklung gibt Anlass zur Sorge: Die Geburtenrate in Deutschland ist seit der 68er-Kulturrevolution um die Hälfte (!) gesunken. Demographieforscher können die weitere Entwicklung ziemlich genau vorhersagen: In 100 Jahren werden noch ca. 25 Millionen Deutsche in unserem Land leben. Der eigentliche Skandal besteht laut Kunze darin, dass „unsere Volksvertreter mitsamt den öffentlichen Medien kein Wort des Entsetzens oder auch nur des Bedauerns über die Katastrophe verlieren, dass die jahrhundertelange Geschichte der Deutschen im 21. Jahrhundert endgültig und unwiderruflich zu Ende geht.“

Die düstere Stimmungslage in Deutschland drückt sich nicht zuletzt in der wachsenden Distanz der Menschen zur Demokratie aus. Nach einer im September 2009 veröffentlichten Umfrage sind gut zwei Drittel der Deutschen überzeugt, „von den Parteien belogen zu werden.“ Jeder dritte Deutsche hat kein Vertrauen mehr in die Demokratie.

Wie konnte es dazu kommen? Die Ursachen für die besorgniserregende Entwicklung in Deutschland sieht Kunze in der 68er Bewegung, an der er kein gutes Haar lässt. Keineswegs handele es sich dabei um eine längst vergangene Protestbewegung Flower Power bewegter Studenten, sondern um manifestierten Zeitgeist. Dieser trete als „unsichtbarer Dirigent auf, den niemand ausdrücklich gerufen hat, dem sich aber fast alle beugen.“ Als Ahnherren der 68er Bewegung macht Kunze den Philosophen Jean Jacques Rousseau (1712–1778) aus. In dessen 1755 veröffentlichter Schrift „Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ stellt Rousseau die Behauptung auf, der Mensch sei von Natur aus gut und erst durch Kultur und Zivilisation verdorben worden. Anders ausgedrückt: Wenn wir den guten Menschen wieder auffinden wollen, müssen wir zur Natur zurück. Die 68er-Adepten der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Marcuse griffen Rousseaus These vom „guten Menschen im Naturzustand“ begierig auf und verleibten sie ihrer verqueren Philosophie ein. Seither gehört es zur festen Überzeugung der 68er und ihrer Nachfahren im Geiste, den Menschen von den Zwängen und Verpflichtungen des Staates, der Arbeit, der Familie, der Gesellschaft etc. zu befreien.

Tatsächlich trifft Kunze hier einen wunden Punkt. Das Gesellschaftsbild der 68er beruht auf einem naiven und vollkommen realitätsfremden Menschenbild. Die Mär vom „edlen Wilden“ ist durch moderne Forschung längst widerlegt (selbst den Hippies ist es mit Drogenunterstützung nicht gelungen, dem paradiesischen Naturzustand näher zu kommen). In der Abrechnung mit der 68er Generation entfacht Kunze einen wilden Furor. Ihre Weigerung, die Ambivalenz des Menschen anzuerkennen, zeuge von mangelndem Realitätssinn und ideologischer Verblendung. Der Mensch sei eben nicht nur vernünftig und gut, sondern bisweilen auch egoistisch, verantwortungslos und niederträchtig. Mit Verve prangert er die Radikalität an, mit der die 68er gewachsene kulturelle Errungenschaften, angefangen von bürgerlichen Tugenden bis hin zu staatlichen Institutionen, zerstört haben.

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Es gibt sie noch, die blaue Blume

Die Symptome sind damit benannt. Doch welche Therapie empfiehlt Kunze? Es geht nicht ohne die Ergänzung durch die Kant’sche Pflichtethik, insbesondere nicht ohne die Ausrichtung am Gemeinwohl. Es geht nicht ohne die Reaktivierung von bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Anstand, Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein. Es geht nicht ohne die Rückbesinnung auf bewährte Traditionen. Es geht zuallerletzt nicht ohne die Rückeroberung der Meinungsmacht im Lande.

Und des Autors persönlicher Wunsch? „Eine gewisse Rückbesinnung auf die Romantik. Von Zeit zu Zeit und bei passender Gelegenheit. Es gibt sie noch, die blaue Blume, sie hat sich nur vor den profanen Blicken versteckt.“

Werner Kunze: „Die Moderne. Ideologie, Nihilismus, Dekadenz”.  Bublies Verlag 2011, 336 S., 19,80 Euro.

Stefan Martin

geb. 1979, Ingenieur, VDSt Freiberg.

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07:59 Publié dans Livre, Livre, Philosophie | Lien permanent | Commentaires (0) | Tags : philosophie, livre, modernité, monde moderne, nihilisme | |  del.icio.us | | Digg! Digg |  Facebook