mardi, 15 mai 2007
Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution
Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution
von Arthur Moeller van den Bruck
http://www.geocities.com/kshatriya_/nihilismus.html...
Die letzte Entscheidung über den Wert einer Idee liegt in ihrer Wirkung: ob durch sie die Menschen steigen oder sinken? Dostojewski erkannt früh, daß Revolution den Menschen nur in seinen Untiefen bestätigt: daß sie ihn aus der Natur reißt, ihn in Tendenzen absondert und in einer Zusammenhanglosigkeit zurückläßt, in der jede volkliche oder staatliche Gemeinschaft aufhört und schließlich an Stelle der Menschenliebe die Eigenliebe übrigbleibt. Es war die Erkenntnis, daß Radikalismus nicht Wurzelung, sondern Entwurzelung bedeutet. Auch Dostojewski war unter den Radikalen gewesen, damals, vor Achtundvierzig, als er im Debattierklub der Petraschewzen verkehrte. Aber schon in dieser ersten Petersburger Zeit war etwas in seiner Witterung, das ihn von den Revolutionären, oder nur von den Liberalen, mit denen er äußerlich übereinstimmte, innerlich entfernte, und das ihn dafür den Slawophilen annäherte, die sich in Moskau allmählich zur Partei zusammenschlossen und sich auch in Petersburg durch ihren Glauben an Rußland von der volklosen Intelligenz der Westler abhoben.. Er las die Bücher der Sozialisten, weil sie, wie er sagte, mit Begeisterung für die Menschheit geschrieben waren. Aber den Fourierismus, für den Petraschewski warb, lehnte er mit Heftigkeit ab, weil er europäisch, nicht russisch war. Und die große Reform der Bauernbefreiung stellte er sich, wie jede Reform in Rußland, von oben, nicht von unten verwirklicht vor. Dostojewski glaubte immer an den Menschen, aber er dachte in Völkern, deren jedem er seine Bestimmung gab. Dem russischen Volke behielt er die Erfüllung des Christentums vor: einen ungeheuren weltgeschichtlichen Umweg, an dessen Ende er die Überwindung der Eigenliebe durch die Menschenliebe sah. Das Christentum war antinational gewesen und deshalb kosmopolitisch gescheitert. Das Menschentum, das Dostojewski verkündete, sollte sich im Russentum verwirklichen. Nirgendwo kam er diesem so nahe wie in Sibirien. Von der Katorga her, wo die Revolutionäre des Lebens dafür büßten, daß ihre Eigenliebe sich gegen die Menschenliebe vergangen hatte, nahm er den Glauben, dessen Verkündung seine eigene Sendung wurde. Er liebte das russische Volk um seiner Zurückgebliebenheit, aber auch um seiner Natürlichkeit, seiner inwendigen Schönheit, seiner mystischen Empfänglichkeit für eine neue naive Sittlichkeit willen. Der Nihilismus dagegen warf die Menschen nur wieder in Egoismus zurück und drohte im Namen einer unreinen Doktrin die gegebenen Bindungen des russischen Lebens zu zerstören, wie diese Verbrecher ihr Leben zerstört hatten. Mit einem politischen Denken, das auf Erhaltung, nicht auf Umsturz gerichtet war, mit einem konservativen Denken, das auf Menschenkenntnis beruhte, von Volkskenntnis herkam und schließlich auf Selbsterkenntnis zurückging, kehrte Dostojewski aus der Verbannung zurück.
Dieser psychologische Konservativismus ist schon bei dem jungen Dostojewski zu belegen: zu einer Zeit, als es den Nihilismus noch nicht dem Begriffe nach gab und er erst in Menschen umging. Dostojewski erkannte in dem Nihilisten den Menschen des 19. Jahrhunderts, und vielleicht noch des 20.: den Ausdruck seiner moralischen Zersetzung, aus der hernach die politische Sprengung der in Rußland überkommenen Lebensformen folgen mußte. Der Nihilismus war eine Krankheit. Sie erfaßte Dostojewski zuerst, weil er besonders aufnahmefähig für die Schwingungen der seelischen Veränderung war, in der sich der neue, der nächste Mensch ankündigte. Dostojewski hatte diese Fähigkeit, alle Leidenschaften der Menschen, die sinnlichen wie die geistigen, in seinem Ich mitzuerleben, indem er sie an sich selbst erlitt. Er kannte als Psychologe alle Symptome, wie er als Politiker alle Systeme kannte. Sie waren alle in ihm gewesen, bevor er als Künstler sie darstellte, als Ethiker sich auf sie einstellte, als Politiker ihnen nachstellte. Beobachtung war bei ihm Selbstbeobachtung. Dadurch unterschied er sich hernach von den Reaktionären, von Dogmatikern und Konventionellen, die urteilten und verurteilten, ohne sich und ohne die Probleme zu kennen. Dostojewski war Wissender. Er begleitete den Verlauf der nihilistischen Erkrankung in jedem einzelnen Falle bis zu dem kritischen Punkte, an dem die Menschen in ihr untergingen. An dieser Stelle kehrte er um und berief sich auf das Volk, das ohne Nihilismus war. Er stellte dem Nihilismus keinen Helden entgegen, der aus dessen eigenem Kreise kam, und man sollte ihn bei Dostojewski nicht erwarten, noch vermissen. Der Nihilist kann niemals zum Helden werden, weil er ohne die Liebe ist, für die das Volk ihn wiederliebt, und ohne das Vertrauen, für das die Menschen ihm wiedervertrauen. Dostojewski steht hier am anderen Ende derselben Achse, auf der in Europa später Nietzsche erschien. Es sind die gleichen amoralischen Probleme, die sie bewegen und aus denen Nietzsche nur die heroische, Dostojewski die ethische Folgerung zog. Nietzsche erhob Kain zu Prometheus. Dostojewski ließ Abel selber zu Kain werden, um Kain zu erschlagen. Auch Nietzsche, der Humanist und Europäer, suchte den Nihilismus zu überwinden: durch eine rhapsodische Übersteigerung des ja, das er gegen ihn warf, als eine Übersteigerung des Ich, das in jenen einsamen Jenseitsbereichen schließlich zurückbleibt, in denen es die Unterscheidung des Guten und des Bösen nicht mehr gibt. Dostojewski dagegen stellte als Heiliger und Prophet den Menschen wieder her, indem er zum Volke zurückfand, zur Unverlierbarkeit des Guten in den Menschen, auf das sie für ihr Zusammenleben angewiesen sind, und deckte als Psychologe und Russe das Böse im Ich auf, die Wurzellosigkeit des volklosen Nur-Ich-Menschen, der sich von der natürlichen Gemeinschaften geschieden hat: den Nihilisten.
Man hat die Einheitlichkeit dieser Entwicklung bestritten und ihr, statt ihre messianische Deutung durch Dostojewski anzuerkennen, eine soziologische Ausdeutung gegeben. Aber der Versuch beruhte auf einer Verwechselung der positivistischen Plattform, auf die er sich stellte, mit der politischen Tatsache, vor der wir stehen: daß Dostojewski konservativ war. Einmal mußte der Versuch ja wohl gemacht werden, und daß er gemacht wurde, ist Zeichen einer fast wissenschaftlichen Rechtschaffenheit, die sich zu geistiger Rechenschaft zwang. Auf die Dauer war für den Positivismus unerträglich, daß ein Dichter von dem Ausmaße Dostojewskis, dessen Schöpfung man unter den größten europäischen gelten lassen mußte, als Politiker Anschauungen gehabt haben sollte, die man in Europa als minderwertig und zurückgeblieben zu verschreien pflegt. Aber schon in diesem Zusammenhange werden Voraussetzungen verkannt. Der Konservativismus, den Dostojewski bekannte, beruhte nicht auf Rektion, obwohl er die Uwaroffsche Formel einschloß: Autokratie, Orthodoxie, Nationalität. Reaktion wäre für Dostojewski auch nur ein Egoismus der Menschen gewesen, ein Eigennutz der Klassen, eine Habsucht der Sphären, die einen größeren Bereich ihres Machtraumes, der ihnen durch das Wachstum des Volkes genommen war, künstlich oder gewaltsam wiederherstellen zu wollen. Dostojewski stand auch hier ganz auf der Seite des Volkes. Schon aus altruistischen Gründen hatte er, genau wie Tolstoi, und wie jeder Russe, in seiner apostolischen Lehre soziale Elemente. Aber das ist ja das Große an Dostojewski, und an den russischen Psychologen überhaupt, daß sie die ökonomischen Probleme eine Schicht tiefer erfassen, als die europäischen Positivisten sie sehen: nicht im Wirtschaftlichen, sondern im Menschlichen. Der Versuch, seinen Konservativismus vom Politischen ins Soziologische umzudeuten, übersah Erlebnisse, die Dostojewski gehabt hatte, die aber der Positivist gar nicht zu haben vermag, weil sie zwischenwirklich sind, nicht nachrechenbar, und doch unleugbar. Hierin gehörte vor allem das Erlebnis der russischen Nationalität. Während die beiden ersten Dogmen der Uwaroffschen Formel, Autokratie und Orthodoxie, auch für Dostojewski nur Formen bedeuten, die dem Russentum durch Überlieferung angepaßt waren, Schutzformen, die seine aufrührerische Geistigkeit brauchte und die sich in seiner zerworfenen Geschichte immerhin bewährt hatten, war für ihn die Nationalität ganz Inhalt: war Problem, und das gegenwärtigste und doch geheimnisvollste Phänomen, das es auf Erden gibt. Wenn man eine wirtschaftliche Auslegung des russischen Lebens geben wollte, dann müßte man mit der Feststellung beginnen, daß der Russe derjenige Mensch ist, dem Wirtschaft völlig gleichgültig bleibt. Die russische Nationalität erscheint inniger als jede europäische noch in animalisch-mystischen Lebensursprüngen verwurzelt und nicht ökonomischen Lebensbedingungen festgelegt. Sie ist nicht auf Fürsorge und Wohlfahrt eingestellt, nicht auf banalen Ausgleich des Daseins und schematische Vollkommenheit seiner Einrichtungen, sondern auf Triebe, auf die Widersprüche der Leidenschaften, auf die Heftigkeit von Zuneigung oder Abneigung, auf die Spontanität von Liebe und Haß. Jede Sozialreform in Rußland, die stets irgendwie Agrarreform sein wird und schon deshalb der Natur so nahe bleibt, wie der Phalanstere fern, kommt aus einem Triebe im Volke. Das Wichtigste ist immer der Mensch, nicht die Wirtschaft. Die verhängnisvolle Selbstverschwendung des Russen, in die er im Wirtschaftlichen umschlägt, seine Gier, Fleischlichkeit, Maßlosigkeit, ist nur das Gegengewicht seiner Anspruchslosigkeit, das aber gleich dieser auf Verachtung des Wirtschaftlichen, nicht auf Abhängigkeit von ihm beruht — nicht anders wie im Politischen das angeborene Empörertum des Russen nur der Gegensatz zu sein scheint, den ein Volk ständig aus sich hervorbringen und von sich abstoßen muß, dessen Wesen ein ewig beunruhigter und doch stets wiederhergestellter Konservativismus ist.
Dostojewski deckte den Nihilisten zuerst in Belinski auf. Es liegt eine eigentümliche Verbindung von Verhängnis und Sinnlosigkeit darin, daß Dostojewski als politischer Verbrecher verurteilt wurde, weil er im Debattierklub der Petraschewzen einen Brief vorgelesen hatte, der gerade von Belinski und gerade an Gogol geschrieben worden war: von dem liberalen Publizisten westlerischer Richtung an den slawophilen und nun wirklich reaktionär gewordenen Satiriker des russischen Kosmos. Dostojewski hat in seiner Rechtfertigungsschrift angedeutet, daß ja durchaus noch nicht ausgemacht gewesen sei, auf welchem Standpunkte er selber nun eigentlich gestanden habe: auf dem des schmähenden Belinski oder auf dem des geschmähten Gogol. Das ist nicht nur persönlich, das ist auch psychologisch durchaus glaubwürdig. Dostojewski stand damals noch zwischen den Parteien. In seinem Gefühl hatte er sich längst gegen die Revolution entschieden. Aber mit seinem Bekenntnis zögerte er noch vor Konservativismus zurück. Der Nihilist in ihm zögerte. Damit Gefühl auf dem Wege über das Erlebnis zum Bekenntnis werden konnte, mußte er die Verbannung auf sich nehmen: Belinski aber war der Anlaß, der kleine zufällige und unwichtige Schicksalsanlaß in einem großen nötigen und wichtigen Leben. Auch in diesem Leben war Schuld und war Sühne: Dostojewski wurde mit Sibirien geprüft und mit der Katorga gestraft, weil er sich wider seine konservative Vorbestimmung in jugendlicher Hingabe mit der revolutionären Bewegung eingelassen hatte. Von Belinski war er ursprünglich in die sozialistischen Lehren der westlichen Länder eingeführt worden, und er hatte sich für sie begeistert, weil sie selbst begeisternd waren, oder wenigstens, wie er von den sozialistischen Büchern sagte, "mit Begeisterung für die Menschheit geschrieben". Doch schon damals stieß ihn zurück, daß Belinski die sozialistischen Ideen in einer unreifen und vorlauten Abwandlung gegen die christlichen ausspielte und mit Atheismus großtat. Noch in dem Briefe Belinskis an Gogol, den Dostojewski vorlas, war Voltaire auf die Höhe von Christus erhoben worden. Je mehr Abstand er zu diesen Ideen bekam, durchschaute er sie, die den Leib über den Geist setzten, die Wirtschaft über den Menschen stellten, in ihrem Vergänglichkeitswert: durchschaute er vor allem die Menschen selbst, die sie vertraten. Belinski und Christus: das ging schon gar nicht, das war keine Gleichung, das war Gotteslästerung. Der Gedanke an Belinski verließ Dostojewski nicht wieder. Er trug ihn mit sich als eine Kränkung, die ihm angetan worden war, die er selbst sich angetan hatte, und die er sich nie verzieh. Spät noch, im "Tagebuch", kam er auf die alte Abrechnung zurück, die er mit ihm hatte: "Dieser Mensch hat Christus vor mir beleidigt und war doch niemals imstande, sich selbst oder irgendeinen von allen diesen Führern der ganzen Welt in Gleichwertigkeit an die Seite von Christus zu stellen: er vermochte nicht zu sehen, wie viel kleinliche Eigenliebe, Zorn, Ungeduld, Reizbarkeit, wie viel Kleinlichkeit, vor allem aber Eigenliebe in ihm selbst und in allen den anderen verborgen war!" Hier liegen Dostojewskis menschliche Erfahrungen in jenen Petersburger Zeiten. Er hatte erlebt, daß Menschen, die ihr Hirn nur mit Doktrinen nährten und sich aus Tendenz, Partei und Propaganda mit Aufklärung beschäftigten, dadurch als Menschen nicht besser sondern schlechter wurden. Er hatte erlebt, was es heißt, ein Nihilist sein. Einmal, im "Kleinen Helden", den er zwischen Petersburg und Sibirien schrieb, umriß er die Gestalt eines dieser Nihilisten der Gesellschaft, die er im Kreise der Petraschewzen kennen gelernt hatte, dieser Leute mit der "fertigen Phrase", dieser Menschen mit dem Spürsinn für das "nächste Schlagwort", die sich voll moderner Aufgeklärtheit gegen die Idealität der Dinge zu wenden pflegen, ohne zu ahnen, daß jedes "geringste Gefühl der Schönheit und des Erhabenen wertvoller ist als ihr ganzes schleimiges Weichtierdasein." So haßte Dostojewski. Aber er haßte nur dort, wo die Menschen nicht liebten. Und wir verstehen, warum er vor diese Menschen hintrat, mit denen er umgegangen war, und in ihrem Debattierklub jenen anderen Vortrag hielt, dessen Thema er sich selbst gestellt hatte: über den Egoismus. Mit ihm reinigte er sich von ihnen. Der Wortlaut des Vortrages ist in seiner Lebenskrise untergegangen. Von seinem Inhalt handelte später sein Werk, das eine neue Unio mystica der Wirklichkeit wider den Nihilismus des vom Leben gelösten Intellektes stellte. Nachdem die Menschen sich geschieden hatte, mußten auch die Geister sich scheiden.
Ganz anders waren seine Erlebnisse in Sibirien. Sie waren menschlich anders: uns sie waren sittlich anders. Nun lernte er dieses russische Volk erst kennen, um dessen Heiles willen er in Petersburg an politischen Debatten teilgenommen hatte, in denen eine veränderte Staatsform der überlieferten und eingewöhnten russischen Lebensform gefunden werden sollte. Nun fand er, daß es tiefe, starke und schöne Menschen in ihm gab, die voll von der eigenen Echtheit und schweren Ursprünglichkeit einer besonderen russischen Natur waren. Es ist richtig, daß sie Verbrechen begangen hatten. Aber Dostojewski machte die Beobachtung, daß das Verbrechen eine russische Eigenschaft ist, ein russisches Verhängnis, ein russischer Wahn — kein anderer als der, welcher, wenn man ihn auf das politische Gebiet überleitet, zum Umsturz in ihm treibt. Nur war ein Unterschied zwischen dem Revolutionär aus Doktrin , der sein Verbrechen gegen den Staat kehrt, weil er sein Ich behaupten will, und dem Revolutionär aus Instinkt, der das Verbrechen im Drange in die Natur zurückträgt, der er sein Ich opfert. Dostojewski war als Nihilist zugleich Amoralist genug, um den Verbrecher zu verstehen. Aber er war auch Ethiker, und wenn er verglich, dann fiel der Vergleich sehr zuungunsten der Doktrinäre aus. Das hatte er ja immer empfunden, das war die Scheu, das Gewissen, der geheime Grund gewesen, warum sich in ihm etwas sträubte, ein Nihilist zu bleiben und ein Revolutionär zu werden: er erkannte, daß alles Revolutionärtum aus sinnlich-tumultuarischen Bedürfnissen des Menschen kam und nur vortäuschte, Geist zu sein. Sogar diese Verbrecher, die so ganz Trieb waren, und so gar nicht Buchstabe, erschienen in ihrem Wesen geistiger als jene nihilistischen Politiker, die nur Verstand ohne Vernunft besaßen: erschienen, während sie so ganz als Leib sich gaben, mit ihrer Seele der Erde näher: erschienen animalischer, mystischer, religiöser: erschienen russischer. Und Dostojewski dachte an Rußland: was mußte aus diesen russischen Menschen seiner sibirischen Umgebung sich bilden lassen, wenn man sie nicht den Weg des Hasses wies, sondern den Weg der Liebe! Als er sie menschlich prüfte, fand er heraus, daß sie sogar gütig waren. In ihren Verbrechen noch lebte der Gott ihres Landes. Dostojewski erkannte sich selbst in ihnen wieder. Ihr Problem war sein Problem. Was bei ihnen Trieb war, das wurde bei ihm Bewußtsein. Auch als Revolutionär war er Russe gewesen, und mehr Russe als Revolutionär. Aus Sibirien schrieb er an Maikoff: "Ja, ich war immer durch und durch Russe." Als Russe konnte er nun zum Konservativen werden: "Die Ansichten wechseln, das Herz bleibt." Er blieb, der er war: "Man kann sich wohl in der Idee irren, aber man braucht nicht, wofern man sich nicht im Instinkt geirrt hat, durch diesen Irrtum ein Gewissenloser zu werden, will sagen, gegen seine Überzeugungen zu handeln."
Als Dostojewski aus Sibirien nach Petersburg zurückkehrte, zog er die politische Schlußfolge. Er fand in Rußland eine völlig veränderte politische Lage vor. Alexander II. war Nicolai I. auf dem Throne gefolgt. Die Aufhebung der Leibeigenschaft sollte nun endlich verwirklicht werden. Manche andere liberale Reform bereitete sich vor. Aber gleichzeitig hatte unter der Oberfläche des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, in den Winkeln, Mansarden und Schlupfwinkeln der Hauptstadt, in de Londoner und Züricher Emigration, jene Bewegung eingesetzt, von der die liberalen Forderungen der vierziger Jahre bereits anarchisch überboten wurden: die nihilistische. Sie kam tief aus der politischen Dämonologie des russischen Volkes und reichte über die Dekabristenbewegung zurück, in der man den Dämon in byronischer Gestalt unter jungen Enthusiasten hatte umgehen sehen, in die Zeiten des Sektierertums, in der er ein wüstes mittelalterliches Tier gewesen war. Diese Zusammenhänge hatten sich bis in die Zeit der Petraschewzen erhalten. Damals kam es vor, daß die Sektierer sich zu Zügen von Tausenden zusammenrotteten, um ihre Kirchen und Klöster vor Niederlegung zu bewahren, und daß sie das Nicolitische Militär, das mit der Exekutive betraut war, schimpflich davonjagten. Nach wie vor traten zu den Sektiererrevolten die Bauernrevolten, oder arteten in diese aus. Es war das religiöse Motiv im russischen Empörertum, das sich hernach mit dem sozialen des Kollektivismus und dem amoralischen des Nihilismus verband. Dostojewski selbst bestätigte den Nihilisten, daß sie von den Petraschewzen herstammten, obwohl diese noch keine Nihilisten gewesen waren. Aus seiner ersten Petersburger Zeit kannte Dostojewski alle die Vorformen des Nihilismus, alle die Dämonenmotive, die er dann in seiner Apokalypse des Nihilismus zusammentrug. In den Städten kam es damals zu ersten Arbeiterstreiks, und es ist gewiß kein Zufall, daß einer der Rädelsführer, eine Figur der vierziger Jahre, den Namen des "Fedjka" trug, den Dostojewski 20 Jahre später seinem nihilistischen Werkzug gab. Zwar war der Untersuchungsrichter im Petraschewzenprozeß im Unrecht gewesen, wenn er die wachsende Zahl der von ihren Bauern erschlagenen Gutsbesitzer, die der Brandstiftungen auf dem Lande und der Diebstähle und Einbrüche, auf die politische Rechnung der Angeklagten schrieb. Das waren Erscheinungen, die ohne Zutun der Petersburger Doktrinäre sich aus dem tumultuarischen Zuge der Bauernbewegung, die der Aufhebung der Leibeigenschaft voranging, freilich nicht mit ihr aufhörte, von selbst ergaben. Aber richtig ist anderseits, daß die Petraschewzen bereits im Prinzip und als Taktik eine Verbindung mit Leuten aus dem Volke suchten und in den Massen eine Aufklärung über die Unvollkommenheit der russischen Zustände verbreiteten. Eine sozialistische Auslegung der zehn Gebote, die als Werbeschrift ins Land wandern sollte, war in ihren Kreisen geplant gewesen. Die Zeit kündigte sich an, in der die Studenten "ins Volk gingen". Weibliche Literaturgesellschaften wurden gegründet, die Typ und Rolle der nihilistischen Studentin vorbereiteten. Und schon schloß sich die noch tastende Propaganda zu einem ausgesuchten System zusammen. Im Kreise der Petraschewzen war zuerst die Idee der "Fünf" ausgeheckt worden, die Dostojewski der so wüsten und doch so durchgeführten Komposition der "Dämonen" als Skelett zugrunde legte: die Idee eines großen politischen Bundes, in dem Gruppen der Tat, die einander nicht kannten, von geheimnisvoller Oberleitung abhingen. Der Bund nannte sich bei den Petraschewzen "die Gesellschaft der Propaganda", und einer von den Mitgliedern, der Gardeleutnant Montbelli, hatte gar eine "Brüderschaft der Leute von anarchischer Gesinnung zu gegenseitiger Hilfe" vorgeschlagen. Entwürfe für die Organisation solcher Verbände wurde im Ernste und mit Eifer erörtert. Und in nationalistischer, in nationalpolitischer Form sind damals zu Wilna, zu Minsk, zu Lida derartige Anschläge und Vorbereitungen auch tatsächlich aufgedeckt worden. Nicht zuletzt gehörten die geheimen Druckereien als rätselhafte Herkunftsorte massenhafter Flugschriften oder die geheimen Versammlungen der Petersburger Gesinnungsgenossen in entlegenen Städten Ingermannlands zu den Petraschewzenerscheinungen, die Dostojewski als Dämonenmotive auf den terroristischen Schauplatz einer ungenannten Gouvernementsstadt verlegte. Vor allem war der Mensch selbst zum Nihilisten geworden. Und in dem Entwurf eines "revolutionären Gesetzbuches", das jener Leutnant Palm verfaßt hatte, den Nicolai als einzigen aus dem Kreise der Petraschewzen begnadigte, steht schon der ganz nihilistische Satz: "Ich darf alles tun, was mir gefällt, weil jede meiner Handlungen das Ergebnis meiner Vernunft ist."
Dostojewski erkannte, daß ein solches Volk konservativ unterschichtet bleiben mußte. Er war kein Revolutionär, weil er den Punkt nicht suchte, von dem aus sich die Welt aus ihren Angeln heben läßt. Er suchte den Boden, auf dem sich ein Zusammenleben der Menschen ermöglichen ließ. Inzwischen war in Rußland die revolutionäre Ideologie nicht politische Phraseologie geblieben. Als Dostojewski in den fünfziger Jahren aus Sibirien und dann wieder in den sechziger Jahren aus dem Ausland zurückkehrte, ging von ersten Attentaten der rote Schrecken der nihilistischen Bewegung über das Land aus. Während Turgenjeff das Wort des Nihilismus fand, das allmählich auf die gesamte Zeitveranlagung übertragen wurde, und in ihr mit liberaler Gutgläubigkeit einen russischen Ausdruck des europäischen Positivismus sah, durchschaute Dostojewski den Dämon. Er wußte, daß der Nihilismus dem Menschen nichts zu geben hat, wie der Nihilist ein Mensch ist, der nichts zu verlieren hat. Schon die "Erinnerungen aus einem Totenhause" wurden deshalb nicht, war man von einem echten Petraschewzen hätte erwarten müssen: ein Buch der Anklage gegen den Staat, der liberalen Beschwerde oder der revolutionären Entrüstung, sondern ein slawophiles Bekenntnis mit einer menschlichen Botschaft. Man sollte dem Volke nicht sein Volkstum nehmen, weil man ihm sonst sein Menschtum nahm! Man sollte nicht Hand an das Volk legen! Und das Volk sollte nicht Hand an sich selbst legen! Beides geschah, wenn ein Ich ohne Volk über das Volk verfügte. Das hatte die Autokratie oft getan. Und dies tat jetzt der Nihilismus. Aber die Autokratie war wenigstens ein System für das Volk. Und die Orthodoxie war ein System für das Ich. Nun schrieb Dostojewski das "Tagebuch" und schuf die "Dämonen": bejahte den Geist über Rußland und trieb die Teufel des Nihilismus aus. Für das Volk nahm er den Kampf gegen die Revolution auf. Er stand in diesem Kampfe mit der Leidenschaft des Eiferers, mit den ungeheueren Kräften, die der schwächliche Mensch aus der Idee holt, von der er besessen ist. Es ist wahr, er ging in diesem Kampfe, den er selbst mit Hohn und mit jeder geistigen Überlegenheit führte, mit einfachsten Menschen zusammen: mit den echtrussischen Leuten: mit allzu russischen Leuten. Er ging freilich nicht minder überein mit den zusammengesetztesten, rätselhaftesten, unheimlichsten Russen, die ihr Volk kannten, mit dem Katholikos Tschaadajeff und dem Inquisitor Pobjedonoffeff. Auch dieses Wissen war in seiner Menschenkenntnis, daß der Mensch sogar für die Liebe zu schwach ist, die ihm gebracht wird, und daß sich mit ihr, wenn man sie nicht an den Menschen verschwenden, sondern den Menschen durch die Liebe behaupten will, Macht verbinden muß. Doch fuhr er fort, die Wahrheit zu suchen, die immer in der Einfachheit liegt, wenn sie aus dem Volke kommt. Über seine Verurteilung hatte er einst mit Ergebung in Erkenntnis gesagt: "Uns ist Recht geschehen: wenn man uns nicht verurteilt hätte, dann würde uns das Volk verurteilt haben." In den "Dämonen" ließ er Schatoff, den Russengläubigen, diesen Einzigen, dem er je die verhaltene Begeisterung eines vollsuchenden Helden gab und dessen Gestalt er wie die eines Jüngers liebte, das Wort sagen: "Wer kein Volk hat, der hat auch keinen Gott." Volk haben: das war für ihn gleichbedeutend mit Gott haben. Macht über das Volk: war Verantwortlichkeit für das Volk. Dostojewski war kein Reformator. Als Fanatiker hatte er die Massivität nicht, um das Volk durch Reformation vor der Revolution zu bewahren. Als Erscheinung blieb er in der Reihe der großen Problematiker, die in unserem Zeitalter von Rousseau bis Nietzsche geht, wenn er auch als Dichter die epische Form und als Denker das dogmatische Wort vor ihnen voraus hat. Aber als Mystiker wußte er, daß der Mensch seiner Unvollkommenheit überantwortet ist, und als Politiker, daß jede Opposition, die der Mensch aus Doktrin an den Unterbau und das Gefüge des Seienden setzt, nur die geringe Wichtigkeit einer Endlichkeit haben kann, die von einem Unendlichen umschlossen wird. Damit hob auch er sich auf die geistige Ebene, auf der alle großen Menschen gestanden haben, die ihr politisches Denken, das immer ein konservatives Denken war, in eine Übereinstimmung mit ihrem metaphysischen Bewußtsein brachten, so Augustin, wie Dante. Vor der Wahl zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit hatte auch er sich für das Ewige entschieden.
(Einführung zu: F. M. Dostojewski: Die Dämonen. Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band. München und Leipzig: Piper, 1919.)
02:15 Publié dans Littérature, Révolution conservatrice | Lien permanent | Commentaires (0) | | del.icio.us | | Digg | Facebook
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