Ok

En poursuivant votre navigation sur ce site, vous acceptez l'utilisation de cookies. Ces derniers assurent le bon fonctionnement de nos services. En savoir plus.

mardi, 09 février 2010

Müdigkeitsdiagnosen und Ermannungsstrategien - Berliner Forscherin über Jugenkult um 1900

Müdigkeitsdiagnosen und Ermannungsstrategien

Berliner Forscherin über Jugendkult um 1900

von Josef Tutsch - Ex: http://www.scienzz.de/

 
15licht.jpgEin Jahrhundert danach kann man sich nur wundern, dass die Zensur Thomas Manns zweiten Roman, "Königliche Hoheit", nicht sofort verboten hat. Der Erbprinz des kleinen Großherzogtums, wo der Roman aus dem Jahr 1909 spielt, kommt mit einer verkümmerten linken Hand zur Welt. Es ist genau dieselbe Behinderung, mit der auch Kaiser Wilhelm II. geboren war, der Berliner Hof gab sich seit Jahrzehnten alle erdenkliche Mühe, diese Schwäche zu kaschieren, auf offiziellen Bildern ist die linke Seite in Halbdunkel belassen.

Denn mit sonderbarer Selbstverständlichkeit war diesem dritten Kaiser des preußisch-deutschen Reiches von vornherein die Rolle des jugendlichen Helden zugefallen. Deutschland, hieß es in der Zeitschrift "Die Zukunft", ersehne einen Mann, der "wie kein anderer seit den mythischen Tagen Siegfrieds und des grimmigen Tronjerjunkers germanische Männlichkeit verkörpert". Mit dem "Tronjer" war Hagen gemeint, Siegfrieds Gegner in der Nibelungensage; die Zeit des Wilhelminismus ist uns bis in den Sprachgebrauch hinein fremd geworden. Birgit Dahlke, Literaturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität, hat in der deutschen Literatur und Essayistik jener Jahre um 1900 nach solchen Sehnsüchten von Jugend und Heldentum geforscht.

Es ist ein ambivalentes Bild, das diese Jahrhundertwende dem historischen Rückblick darbietet. Die Epoche hatte etwas zu kompensieren. Krise, Müdigkeit, Verfall lauteten die beherrschenden Stichworte von Thomas Mann bis Robert Musil, von Frank Wedekind bis Hugo von Hofmannsthal, und dagegen standen dann jene "Ermannungsstrategien", die so erschreckend bruchlos in den Ersten Weltkrieg mündeten. 1920 hat Ernst Jünger den psychologischen Mechanismus offen gelegt: "Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen."

Da ist Dahlke vor allem im seit 1908 immer wieder aufgelegten Liederbuch der Wandervogeljugend, im "Zupfgeigenhansl", fündig geworden: "Kein schönrer Tod ist in der Welt, als wer vom Feind erschlagen, auf grüner Heid, im freien Feld darf nicht hörn groß Wehklagen." Und im großen Bestseller der frühen 1920er Jahre, im Kriegsroman "Der Wanderer zwischen zwei Welten", worin der Autor Walter Flex dem Wandervogel noch einmal ein Denkmal setzen wollte: "Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden – unstäte Fahrt! Habt acht, habt acht! Die Welt ist voller Morden. Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt, Graureisige Geschwader! Fahlhelle zuckt und Schlachtruf gellt, weit wallt und wogt der Hader."

Der Zusammenhang dieser "männlichen" Rhetorik mit dem Müdigkeitsthema könnte noch deutlicher werden, wenn die Forscherin, quasi mikrophilologisch, beide Phänomene jeweils im Werk eines einzigen Autors verfolgt hätte. "Von angesehenen Autoren wie Thomas Mann, Hermann Hesse und Robert Musil sind Äußerungen bekannt, in denen Künstlertum und kriegerisches Heldentum ineins gesetzt werden", berichtet Dahlke. Aber die Forscherin stellt nicht bloß "Buddenbrooks" und "Zupfgeigenhansl" nebeneinander, das Ziel ist, wie Dahlke erklärt, "eine kulturwissenschaftliche Germanistik, für die Literatur ein Kulturphänomen unter anderen darstellt" – ein in den Voraussetzungen plausibles und im Ziel vielversprechendes Konzept, das jedoch, wie die Autorin selbst einräumt, die "Gefahr des Auseinanderlaufens" birgt.

Es geht also um thematische Querschnitte, quer zu den gewohnten "disziplinären" Einteilungen in Belletristik einerseits, pädagogische, psychologische, jugendsoziologische und kulturphilosophische Sachliteratur andererseits. Ein solches Thema findet sich in dem Wahlspruch vorgegeben, den Flex’ Wandervogelführer Ernst Wurche dem jungen Dichter mitgegeben haben soll: "Rein bleiben und reif werden". Von heutiger Perspektive aus erscheint der Jugendkult dieser Jahrhundertwende als eine einzige große Sexualverdrängung. Der Jugendstilkünstler und Lebensreformer Fidus (alias Hugo Höppener) ließ einen Aufsatz mit Phantasien von einem "Ringelreif" nackter Jungen und Mädchen in die Mahnung ausklingen: "Halte tief Deinen Atem an, Deine Sinne zusammen, und lass Deine Seele in weißer Liebe erglühen, sonst erliegst Du der sendenden Schönheit, der tausendfältigen, ungeahnten, ungewollten Verlockung."

"Das Hinausschieben genitaler Sexualität wird selbst sexualisiert", resümiert Dahlke nüchtern. Es gab sogar Mediziner, die versuchten, die Pubertät mittels operativer Techniken aufzuhalten, der Physiologe Eugen Steinach entwickelte hierzu die Methode des "Steinachens", des Abbindens der Samenstränge. Kurios liest sich, was die HU-Forscherin aus den Polemiken um die Wandervogelbewegung referiert. Der Propagandist Hans Blüher setzte homoerotisches Empfinden auch bei den erwachsenen Führern als selbstverständlich voraus, wehrte jedoch erbittert jeden Verdacht ab, da würde irgendetwas sexuell ausgelebt. Dahlke: "Homoerotik im Männer- (oder Jungen)bund wurde entsexualisierend überhöht und als eigentliche, übersexuelle Form der Kameradschaft geadelt."

"Reinheit" wurde von Blüher und anderen Vertretern der Jugendbewegung, wie Dahlke überzeugend nachweist, sowohl misogyn als auch antisemitisch gedeutet (was übrigens nicht daran hinderte, dass auch Blühers Buch selbst als unrein, undeutsch, krank und fremdrassig angegriffen wurde). Von den Wandervogelbünden waren Mädchen und Juden im allgemeinen ausgeschlossen, in genauer Parallele zu dem Schriftsteller Otto Weininger, der seiner Zeit die Diagnose stellte, sie sei "nicht nur die jüdischste, sondern auch die weibischste aller Zeiten". Weininger, der mit "Geschlecht und Charakter" 1903 den ersten Bestseller des Jahrhunderts vorlegte, war selbst Jude, er erschrieb sich, so Dahlke, "um ein großer Mann zu werden, Distanz zu allem Weiblichen und Jüdischen".


Sigmund Freud hat den Zusammenhang, der da in der Seele seiner Zeitgenossen hergestellt wurde, auf den psychoanalytischen Begriff des Kastrationskomplexes gebracht: Wie das Weib würde auch der Jude unbewusst verachtete, weil ihm durch die Beschneidung etwas am Penis fehle. Und ebenso wie Freuds Interesse primär der männlichen Psychologie galt, so befasste sich die Adoleszenzliteratur der Jahrhundertwende, zum Beispiel Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen", mit dem Erwachsenwerden der männlichen Jugend, hat Dahlke beobachtet. Bei dem Wiener Bohemien Peter Altenberg freilich war ein groteskes Gegenbeispiel zu finden: Fotografien sehr junger Mädchen, auf einer Art von Altar arrangiert, in einem seiner berühmten Ansichtskartenalben von Altenberg wie folgt beschriftet: "Klara, heilige 12-jährige! Oh, melde mir den Tag, die Nacht, da Dich Natur zum Weibe macht ---, auf dass ich Abschied nehme --- von Deinen Göttlichkeiten!"

Damit verglichen sind die Zeichnungen von Fidus, am berühmtesten wohl das "Lichtgebet", doch sehr zurückhaltend. Aber die Parallele ist unverkennbar: Auch Fidus’ Jünglinge sind (noch) geschlechtslos, in einem doppelten Sinn: ohne Sexualität und sogar ohne geschlechtliche Zuordnung. Oder auch "vorgeschlechtlich"; diese Androgynität ist eben nur sehr jung, beinahe kindlich zu denken. Man möchte sich, ganz unwissenschaftlich, einer Phantasie überlassen: Was wohl wäre aus Stefan Georges quasireligiösen Kult um seinen jungen Freund Maximin geworden, wenn nicht dieser Maximin alias Maximilian Kronberger im Alter von 16 Jahren an Gehirnhautentzündung gestorben wäre?

Natürlich liegt es nahe, die keusche, sozusagen offizielle Seite des Jugendkultes um 1900 ideologiekritisch oder entlarvungspsychologisch zu verdächtigen. Aber das ist nicht Dahlkes Thema. Unsere Gegenwart geht mit dem Thema bekanntlich anders um. Wenn heutzutage der Nachwuchs der High society medial beobachtet wird, richtet sich das Interesse unverhohlen auf den Geschlechterkampf. Die Mode um 1900 propagierte zwar Erotik, wollte Sexualität dagegen strikt ausblenden. In seiner "Psychologie des Jugendalters", die noch nach dem Zweiten Weltkrieg viel gelesen wurde, hat Eduard Spranger dieser Trennung die wissenschaftliche Weihe verliehen, mit einem scharfen Angriff auf einige Repräsentanten der Jahrhundertwende, die doch von ganz ähnlichen Voraussetzungen ausgegangen waren wie Spranger selbst. Vor allem in den Großstädten, schrieb der Psychologe, würden die "Frank-Wedekind-Figuren" gedeihen, für die Freud, Weininger und Blüher die theoretische Basis geschaffen hätten. "In der Tat, hier bereitet sich der Untergang des Abendlandes vor."

"Rein bleiben und reif werden". Dass sich in den Konzepten der Jahrhundertwende die Kriegsbegeisterung von 1914 und die soldatische Haltung des Ersten Weltkriegs vorbereiteten, ist der Forschung seit langem aufgegangen, auch dass "völkische" Gruppierungen in Körperkultur und Lebensreform dieser Zeit allerlei Ansatzpunkte fanden. Dahlke warnt jedoch davor, aus der Komplexität der Epoche jene Linien zu isolieren, die sich als Vorgeschichte des Faschismus lesen lassen. Vor ein paar Jahren hatte der Berliner Kulturhistoriker Thomas Macho bereits darauf hingewiesen, dass dieses "heroische" Jugendbild auch mit der Ausbildung moderner Nationalstaaten zusammenhängt, die "an stelle transnationaler Söldnerheere die eigene Jugend auf das Schlachtfeld" schickten.

Unverwüstlich: Frank
Wedekinds Drama,
übersetzt von Edward
Bond (1900)

Das allerdings ist keine bloß deutsche, sondern eine gesamteuropäische Entwicklung, die bereits mit der Französischen Revolution eingeleitet wurde. Wie eigentlich sahen in der Zeit von Jugendbewegung und Jugendstil und Wilhelminimus in Frankreich oder England oder Italien die müden Jünglinge und ihre Ermannungsstrategien aus? Dahlke spricht von einem "Unruhezustand gerade in Deutschland um 1900", verzichtet aber darauf, ihren Querschnitt durch die deutschsprachige Belletristik und Sachliteratur durch internationale Vergleiche zu bereichern – sehr begreiflich, das Thema wäre endgültig überfrachtet worden. Eine Auslassung macht sich aber doch als blinder Fleck bemerkbar. Ein Großteil der Autoren, die Dahlke berücksichtigt hat, von Hofmannsthal bis Sigmund Freud, waren nicht Deutsche (im Sinne des wilhelminischen Kaiserreichs), sondern Österreicher oder auch Schweizer.

Und da kann der jugendlicher Kaiser Wilhelm II. ja wohl kaum als Chiffre für die Epoche herhalten, im Gegenteil, in Wien herrschte der Greis Franz Josef. Oder wenn das zu biographisch-zufällig ist: 1894 sagte der Soziologe Max in seiner Freiburger Antrittsrede, dass "die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte". Eine Äußerung, die bei einem deutsch-österreichischen oder deutsch-schweizerischen Intellektuellen jener Zeit nicht vorstellbar wäre. Da liegt die Frage nahe, ob nicht auch innerhalb des "deutschen" Jugendkultes dieser Jahrhundertwende Differenzierungen angebracht sind.


Neu auf dem Büchermarkt:
Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900.
Böhlau Verlag, Köln 2006 (ISBN-10:3-412-10406-X, 978-3-412-10406-1), 39,90 €

Les commentaires sont fermés.