SPD-Chef Sigmar Gabriel hat sich im Sarrazin-Streit weit aus dem Fenster gelehnt – er ignoriert, daß Biopolitik auch ein traditionell sozialdemokratisches Anliegen war
Die SPD-Spitze will ihn lieber heute als morgen loswerden – den ungeliebten Ex-Finanzsenator, Ex-Bundesbankvorstand und Bestsellerautor Thilo Sarrazin. Überstürzt und noch bevor das umstrittene Buch Deutschland schafft sich ab überhaupt erschienen war, leitete der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ein Ausschlußverfahren ein und begründete seinen Schritt damit, daß Sarrazins Thesen „ein Gebräu aus der Tradition der Rassenhygiene der zwanziger Jahre“ darstellten. „Der biologistische Ansatz von Sarrazins Thesen, der vermittelte Eindruck, bestimmten Gruppen sei genetisch ein Weg vorgezeichnet, stehe aber diametral zu den sozialdemokratischen Grundwerten“, heißt es auf der SPD-Seite im Internet. Auch der Vorwurf einer Nähe zu nationalsozialistischen Theorien sowie des Rassismus blieb nicht ausgespart.
In einem Spiegel-Interview warf Gabriel dem Delinquenten vor, er habe sich auf Forscher berufen, die für die Sterilisierung von 60.000 als „minderwertig“ angesehenen Menschen in Schweden verantwortlich seien. Entweder sei Sarrazin so wenig historisch und gesellschaftlich gebildet, daß er das nicht wisse, oder er habe es bewußt getan.
Solche Aussagen könnten allerdings schnell zum Bumerang werden. Denn „Rassenhygiene“ ist mitnichten eine Erfindung der Nationalsozialisten. Sie ist inhaltlich weitgehend identisch mit der „Eugenik“, der „Wissenschaft vom guten Erbe“. Als deren Begründer gilt der Anthropologe Francis Galton (1822–1911), ein Cousin von Charles Darwin. 1883 führte Galton den Begriff „Eugenics“ ein – ihr Ziel sollte es sein, alle Einflüsse zu erforschen, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil zur Entfaltung bringen.
Wichtig dabei: Das Wort „Rasse“ hat im englischen Sprachgebrauch einen viel weiteren Bedeutungskreis als im deutschen; es bezeichnet Gruppen bis hin zum „Menschengeschlecht“ (human race). Auch Galton verstand darunter einfach nur eine durch Generationen sich fortpflanzende Gemeinschaft von Menschen. Erbliche Verbesserungen durch eine bewußte Fortpflanzungshygiene wollte er vor allem durch die Aufklärung der Bevölkerung erreichen. Er plädierte aber auch für Maßnahmen „negativer Eugenik“, so sollte die Fortpflanzung von Gewohnheitsverbrechern und Schwachsinnigen möglichst verhindert werden.
In Deutschland führte der Nationalökonom und Mediziner Alfred Ploetz (1860–1940) im Jahre 1895 den Begriff der „Rassenhygiene“ für die Eugenik ein. Neu war jedoch nur der Begriff, die Prämissen und Inhalte lagen auf Galtons Linie. In seiner Schrift Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen sprach sich Ploetz für ein wissenschaftlich angeleitetes Reproduktionsverhalten der Bevölkerung aus. Über den „Erbwert“ von Nachkommen sollten Ärzte entscheiden. „Rassenhygiene als Wissenschaft ist die Lehre von den Bedingungen der optimalen Erhaltung und Vervollkommnung der menschlichen Rasse“, definierte Ploetz. „Als Praxis ist sie die Gesamtheit der aus dieser Lehre folgenden Maßnahmen, deren Objekt die optimale Erhaltung und Vervollkommnung der Rasse ist, und deren Subjekte sowohl Individuen als auch gesellschaftliche Gebilde einschließlich des Staates sein können.“
Im deutschen Kaiserreich und später in der Weimarer Republik gelang es Wissenschaftlern, mittels Büchern, Fachzeitschriften und eigenen Institutionen die Idee der Rassenhygiene immer fester zu etablieren. Anhänger und Verfechter fanden sich in allen politischen Lagern, auch in der Sozialdemokratie. Ein Beispiel ist der Gewerkschafter und SPD-Mann Karl Valentin Müller (1896–1963), der 1927 ein Buch mit dem Titel Arbeiterbewegung und Bevölkerungsfrage veröffentlichte. Darin forderte er eine „planvolle Züchtung der sozialbiologischen Anlagen“ sowie die „rücksichtlose, wenn möglich zwangsweise Unterbindung des Nachwuchses aus dem Bevölkerungsballast, den wir allzu lange schon mit uns schleppen und der ein schlimmerer Ausbeuter der produktiven Arbeit ist als alle Industriekönige zusammengenommen“. In einem Beitrag zu Lebensraum und Geburtenregelung, der 1928 in einer Sonderausgabe der Süddeutschen Monatshefte erschien, bekräftigte er die Ansicht, daß die Ziele der Rassenhygiene mit einem wahrhaften Sozialismus vereinbar seien. Mit diesen Ansichten war er zwar in einer Minderheitenposition innerhalb seiner Partei. Doch auf die Idee, ihn aus der SPD zu entfernen, kam damals niemand. Von 1927 an arbeitete er sogar als Referent im sächsischen Kultusministerium, das zu dieser Zeit sozialdemokratisch geführt wurde.
Alfred Grotjahn (1869–1931), praktischer Arzt und erster Professor für soziale Hygiene in Deutschland an der Berliner Universität, war ein weiterer Sozialdemokrat, der für rassenhygienische Prinzipien stritt (Hygiene der menschlichen Fortpflanzung, 1926). Er betonte, „daß die sozialistischen Theoretiker sich an der jungen Wissenschaft der Eugenik zu orientieren hätten und nicht an Dogmen, die von sozialistischen Klassikern zu einer Zeit aufgestellt worden seien, als es diese Wissenschaft noch nicht gab.“ Seine Forderung, „daß die Erzeugung und Fortpflanzung von körperlich oder geistig Minderwertigen verhindert und eine solche der Rüstigen und Höherwertigen gefördert“ werden müsse, würde in der Gegenwart vermutlich einen Sturm der Entrüstung auslösen, gegen den die Sarrazin-Kampagne nur ein laues Lüftchen wäre. Grotjahn saß von 1921 bis 1924 für die SPD im Reichstag, galt als namhaftester gesundheitspolitischer Sprecher seiner Partei und formulierte das Görlitzer Programm von 1922 mit. Daß ihn die SPD jemals hätte ausschließen wollen, ist nicht bekannt.
Es ist kaum vorstellbar, daß die Existenz sozialdemokratischer Rassenhygieniker in den 1920er Jahren der heutigen SPD-Führung nicht bekannt ist. Immerhin veröffentlichte der Historiker Michael Schwartz bereits 1995 seine Studie Sozialistische Eugenik: eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890–1933, herausgegeben vom Forschungsinstitut der parteieigenen Friedrich-Ebert-Stiftung. Und in der Wochenzeitung Die Zeit erinnerte der Parteienforscher Franz Walter erst Ende August an die „sozialdemokratische Genetik“.
Eugenische Forderungen wurden in zahlreichen Staaten in praktische Politik umgesetzt. Ob in Kanada oder den USA, der Schweiz oder Skandinavien – rund um den Globus gab es Gesetze, auf deren Grundlage Tausende, teils Zehntausende von Menschen zwangssterilisiert wurden. Besonders nachhaltig ging Schweden das Thema an. Schon 1921 beschloß der schwedische Reichstag, an der Universität Uppsala ein „Staatliches Institut für Rassenbiologie“ einzurichten, angeregt durch niemand geringeren als Hjalmar Branting, der zwischen 1920 und 1923 schwedischer Ministerpräsident war – für die Sozialdemokraten. In Uppsala lehrte zeitweise als Gastdozent der deutsche Rassenforscher Hans F.K. Günther, in der NS-Zeit später als „Rassegünther“ bekannt.
1922 brachte die schwedische SAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) einen Gesetzentwurf zur Sterilisierung geistig Behinderter ein. Schließlich trat 1935 das erste Gesetz in Kraft, das bereits die freiwillige Sterilisierung „geistig zurückgebliebener“ Menschen bei anzunehmenden „Erbschäden“ vorsah, und Sterilisierungen ohne Einwilligung der Betroffenen, wenn sie durch zwei Ärzte befürwortet wurden. 1941 wurde mit einem deutlich erweiterten Gesetz dann die zwangsweise Unfruchtbarmachung bei „eugenischer Indikation“ eingeführt. Betroffen waren Geisteskranke, -schwache und -gestörte, psychisch Kranke und Menschen mit Mißbildungen. All diese Maßnahmen wurden unter sozialdemokratischen Regierungen beschlossen.
Mit seinen Vorwürfen gegenüber Sarrazin bewegt sich Sigmar Gabriel also auf äußerst dünnem Eis – was den Verweis auf die Zwangssterilisierten in Schweden betrifft, sind sie sogar hochgradig peinlich. Zumindest grollt es in großen Teilen der SPD-Basis, die das Vorgehen des Parteivorstands für befremdlich halten, und auch SPD-Prominenz wie Klaus von Dohnanyi, Peer Steinbrück und Helmut Schmidt favorisiert einen eher entspannten Umgang mit dem „Fall Sarrazin“. Vielleicht hat sich ja an anderen Stellen der Partei einfach auch mehr historische Bildung versammelt als bei Säuberungskommissar Gabriel.
Harald Kersten
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