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lundi, 10 août 2015

Der wertlose Mensch

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Der wertlose Mensch

von Johannes Konstantin Poensgen

Ex: http://www.blauenarzisse.de

 

Was für ein Menschenbild hatte George Orwell? Wir sollten 1984 noch einmal lesen und auf das Innere der Figuren achten.

 

George Orwells Roman 1984 gehört zu jenen Büchern, die im allgemeinen Sprachgebrauch zu einer Floskel herabgesunken sind. Jeder kennt die Phantasie technischer Totalüberwachung und die drei Slogans der Partei tauchen immer dann auf, wenn jemand gerade einen Spruch benötigt, der ihn als Durchschauer der herrschenden Verhältnisse auszeichnet. Doch 1984 ist mehr als eine Abrechnung mit dem „Totalitarismus“. Es ist, vielleicht gegen den Willen des Autors, das Bekenntnis eines Menschenbildes.

 

War is Peace

 

Die Welt aus 1984 wirkt dabei auf uns Heutige wie eine Gespenstergeschichte, eine jener Totalitarismusphantasien, wie sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts blühten. Jenseits des billigen rhetorischen Gebrauchs könnte man sagen, dass Orwells Roman uns schlicht nichts mehr angehe.

 

Das ist grundfalsch. Orwells Prognose hat sich in einer Hinsicht bewahrheitet. Und zwar auf einer tieferen Ebene bewahrheitet, als er selbst es sich wohl vorgestellt hat. Als der Zweite Weltkrieg verraucht und die Atombombe gerade erst erfunden war, begriff Orwell vielleicht als erster die Wirkung der neuen Waffe in einer Zeit großer geopolitischer Blöcke. „Krieg ist Frieden“, das heißt, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Krieg und Frieden. Immer ist irgendwo in der Peripherie Krieg, aber er stellt für die großen Machtgebilde keine Bedrohung mehr da.

 

Das hat Konsequenzen, denn solange Kriege mit Sieg oder Niederlage endeten, gehörten sie zu den wenigen Zwängen, die eine Gesellschaft in der Realität hielten. „Zu allen Zeiten haben die Herrscher versucht ihrem Gefolge ein falsches Bilde der Welt aufzuzwingen, doch sie konnten es sich nicht erlauben Illusionen zu verbreiten, die die militärische Effizienz beeinträchtigten. Solange eine Niederlage den Verlust der Unabhängigkeit bedeutete, oder irgendeine andere allgemein als unangenehm empfundene Folge hatte, musste man gegen Niederlagen ernsthafte Vorsichtsmaßnahmen treffen. Körperliche Tatsachen konnten nicht ignoriert werden. In der Philosophie, in der Religion, in der Ethik, in der Politik, können Zwei und Zwei Fünf sein, aber bei der Konstruktion eines Gewehres oder eines Flugzeuges mussten sie Vier ergeben. Ineffiziente Nationen wurden früher oder später erobert und der Kampf um Effizienz bekämpft die Illusionen.“ In 1984 ist wirklich, was immer die Partei zur Wirklichkeit erklärt, weil kein äußerer Zwang sie daran hindert jede beliebige Prämisse anzunehmen.

 

Ignorance is Strength

 

In diesem geschützten Raum wird das Reich der Lüge errichtet. Geistige Gesundheit wird zu einer Frage der Statistik. Ohne Maßstab von außen ist Wirklichkeit nicht von dem zu unterscheiden, was die Mehrheit dafür hält. Was diese Mehrheit denkt und tut, ist vollständig kontrollierbar. Alles eine Frage der Technik und während ringsherum die Häuser, Straßen und Wasserleitungen verfallen, hat die Partei diese eine Technik perfektioniert. Der Parteibonze O‘Brien erklärt den Menschen zur Knetmasse, die in jede beliebige Form gedrückt werden kann.

 

Es ist Orwell selbst, der da spricht. Seine Dystopie beruht auf einem Menschenbild, das im Inneren hohl ist. Das verblüffendste Merkmal des Romans ist das Nicht-​Vorhandensein von Charakteren. In der Schundliteratur ist das gang und gäbe, auf der Höhe eines Schriftstellers wie Orwell eine Seltenheit und wenn es doch einmal vorkommt von tiefster Bedeutung. Winston Smith ist einfach nur das Parteimitglied, Julia die junge Frau in der Partei, O‘Brien der Parteiobere, Parsons der ebenso enthusiastische wie beschränkte Mitläufer.

 

Außerhalb der Partei kann keiner von ihnen gedacht werden, es sei denn als Mensch an sich. Sie sind reine Funktionen der Welt von 1984. Dass Menschen – nicht „der Mensch“ – ein Eigenes haben könnten, das sich den technokratischen Phantasien immer als Störfaktor entgegenstellt und sie schließlich aufreibt, kommt Orwell gar nicht in den Sinn.

 

Freedom is Slavery

 

Es ist das Menschenbild des enttäuschten Kommunisten Orwell. Das Reich der Freiheit und Gleichheit, das auf demselben Typus des nicht vorhandenen Menschen beruht, hat sich nicht verwirklichen lassen. Orwell kann sich nur noch vorstellen, wie dieser Mensch in die Perfektionierung des „perennierenden Leidens“ (Adorno) stürzt. Im „totalen Verblendungszusammenhang“ (derselbe) wird der Kreislauf aus Indoktrination und Repression niemals enden. Die Macht um ihrer selbst willen, dieses nietzscheanische Ideal unter dem Orwell sich nichts vorstellen kann als einen Stiefel, der ein Gesicht zertritt, reproduziert sich in die Ewigkeit.

 

Hier ist die Sklaverei von der Freiheit nicht mehr zu unterscheiden, aber nicht, wie Orwell es sich denkt, weil der Apparat den Menschen von außen verformt, weil er ihn prägt und umprägt, bis er will, was er zu wollen hat – das alles tut der Apparat natürlich – sondern, weil der Orwellsche Menschentypus kein Selbst besitzt, das er äußeren Einflüssen entgegenstellt. Allenfalls in der Liebe, also aus der Beziehung zu einem Anderen, kann dieses Tabula Rasa noch etwas Halt finden. Einen Halt, an den er sich klammert, bis er unvermeidlicherweise doch abrutscht. „There are no heroes in pain“ ist die tiefste Aussage seines Romans. Dass es Helden bis in die Folterkammern hinein gegeben hatte und noch geben würde, deren Selbst auch nach Jahren nicht zerbricht – auch wenn es Schrammen und Kratzer davonträgt – konnte er sich nicht vorstellen.

 

Orwells verzweifelte Frage lautet, warum diese Menschen nicht als Gleiche auf dieser Welt leben können, wo doch, sehr marxistisch gedacht, die Produktionskräfte es zuließen. Doch in seinem Roman tun sie es doch. Sind sie dort nicht gleich vor Big Brother? Kein Selbst haben, nur von außen bestimmt sein, das ist Gleichheit. Orwells wertloser Mensch lebt in seinem Ideal, nur sieht es anders aus, als von der Theorie entworfen, und allein diese Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, nicht die Wertlosigkeit dieses Menschen an sich, bereitete Orwell schlaflose Nächte.

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