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samedi, 07 mars 2020

Carl Schmitt. Die Militärzeit 1915 bis 1919

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Neueste Geschichte:
E. Hümsert u.a. (Hgg.):
Carl Schmitt. Die Militärzeit 1915 bis 1919
Titel
Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Februar bis Dezember 1915. Aufsätze und Materialien
 
Autor(en)
Schmitt, Carl
Herausgeber
Hüsmert, Ernst; Giesler, Gerd
Erschienen
Berlin 2005: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 587 S., 10 s/w Abb.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

cover_book-35195__120.jpgDer Nachlass Carl Schmitts ist eine reiche Quelle. Fast wundert es aber, dass er so reichlich sprudelt. Denn seine Edition wurde nicht generalstabsmäßig geplant. Das lag auch an Schmitt selbst. Zwar entwickelte der zahlreiche interpretative Strategien im Umgang mit seiner Rolle und seinem Werk. Anders als etwa Heidegger organisierte er aber seine posthume Überlieferung nicht im großen Stil. Er betrieb keine Fusion von Nachlassinterpretationspolitik und Nachlasseditionspolitik, bei der interpretative Strategien kommenden Editionen vorarbeiteten. Initiativen zu einer großen Werkausgabe scheiterten deshalb auch nach Schmitts Tod. Damals wurde eine Chance vertan, denn personell und institutionell haben sich die Bedingungen nicht verbessert. Schmitts letzte Schülergeneration, die „dritte“ Generation bundesdeutscher Schüler (Böckenförde, Schnur, Quaritsch, Koselleck etc.), tritt ab und den Institutionen geht das Geld aus. Heute ist keine historisch-kritische Gesamtausgabe in Sicht. Die Zukunft ist solchen Projekten auch nicht rosig. Das gerade erschienene Berliner „Manifest Geisteswissenschaften“ etwa, ein revolutionäres Dokument der „Beschleunigung wider Willen“, plädiert für eine Überführung akademischer Langzeitvorhaben in „selbständige Editionsinstitute“.[1] Vor Jahren hätte sich wahrscheinlich noch staatlicher Beistand finden lassen. Heute ist das schwieriger. Einige letzte Schüler und Enkelschüler sowie Duncker & Humblot und der Akademie-Verlag schultern die editorischen Aufgaben allein im Aufwind der internationalen Resonanz. Es gibt eine Arbeitsteilung: Die juristisch besonders einschlägigen Schriften publiziert Schmitts alter Hausverlag Duncker & Humblot. Auch nachgelassene Texte wie das „Glossarium“[2] und der Briefwechsel mit dem spanischen Naturrechtler Álvaro d’Ors [3] erschienen dort. Andere Texte aber veranstaltete der Akademie-Verlag, dessen früherer Leiter Gerd Giesler, Mitherausgeber des jüngsten Tagebuch-Bandes, mit Schmitt (wie auch Ernst Hüsmert) noch über viele Jahre befreundet war.

Das bei Lebzeiten publizierte Werk ist nun nahezu komplett greifbar. Vier aufwändige Editionen erschienen mit apologetischen Zielsetzungen. Helmut Quaritsch [4] verteidigte Schmitts Sicht des Völkerrechts in seinen kommentierten Ausgaben eines Rechtsgutachtens über das „Verbrechen des Angriffskrieges“ sowie der Antworten Schmitts im Rahmen der Nürnberger Prozesse. Günter Maschke [5] ergänzte Schmitts Sammlung „Verfassungsrechtliche Aufsätze“ um zwei weitere Bände und realisierte damit in anderer Weise Überlegungen, die Schmitt selbst früher noch erwogen hatte. Nur die Schriften zur deutschen Verfassungsentwicklung stehen heute aus. Einiges davon ist unproblematisch, anderes jedoch nicht. Soll man eine Kampfschrift wie „Staat, Bewegung, Volk“ von 1933 wieder auflegen? Bedenken liegen nahe. Gralshüterische Mauern aber gibt es im Umgang mit Schmitt heute nicht mehr. Der Nachlass ist offen und die intensiven Debatten der letzten Jahre haben zu einem abgeklärten Umgang geführt. Schmitt rückte uns auch menschlich-allzumenschlich näher. Die bisher publizierten Briefwechsel bieten hier manche Überraschungen. Völlig neue Einblicke eröffnen aber die Tagebücher. Im Verblüffungsgang des Werkes sind sie die jüngste Überraschung. Man wusste zwar, dass Schmitt Tagebuch schrieb. Umfang und Gehalt aber waren kaum zu ahnen. Ähnlich wie bei Thomas Mann tauchen sie als Chronik des Lebens fast unverhofft auf. Zwei Bände sind inzwischen erschienen; weitere Tagebücher bis 1934 kündigen die Herausgeber nun im Vorwort an (S. VIII).

2003 erschien ein erster Band über die (vorwiegend) Düsseldorfer Jahre.[6] Er zeigte ein Leben wie aus einem Roman Kafkas oder Robert Walsers: hin und her geworfen zwischen der juristischen Fron des Rechtsreferendars bei einem dämonischen „Geheimrat“ und der Hohezeit des Liebesglück einer waghalsigen ersten Ehe. Seltsam überzeichnet und irreal erschienen die Bedrängnisse und Exaltationen dieses Lebens. Wie im Bunten Blatt wartete der Leser auf Fortsetzung. Nun ist sie da. Auch diesmal ist für Überraschungen gesorgt. Der zweite Band umfasst die Münchener Militärzeit im Verwaltungsstab des stellvertretenden Generalkommandos des 1. bayerischen Armee-Korps, die biografisch bislang weithin im Dunklen lag. Neben dem Tagebuch vom 6. Mai bis 29. Dezember 1915 sowie einem kurzen Anhang enthält er einen Dokumentationsteil über die Tätigkeit bis 1919 sowie eine Auswahl aus Veröffentlichungen der Jahre 1915 bis 1919. Dazu kommen interessante Abbildungen, Briefe und Materialien sowie ein Anhang. Anders als im ersten Band füllt das Tagebuch weniger als ein Drittel. Über zweihundert Seiten umfasst der Dokumentationsteil, knapp einhundert Seiten die Auswahl wichtiger Veröffentlichungen, die bisher schlecht zugängig waren und besonderes Interesse finden werden. Dieser Aufwand mag überraschen. Gerade auch in Ergänzung zum ersten Band macht die extensive Edition aber einen guten Sinn. Liest man den ersten Band wie einen Roman der Wirrnis, so spiegelt der zweite jetzt eine Wendung zur Reflexion und Objektivation der eigenen Lage und Problematik, durch die Schmitt seine existentielle Krise allmählich distanziert und überwindet. Er wechselt das literarische Genre, bricht sein Tagebuch ab, weil er stärkere Formen der Distanzierung gefunden hat.

Das Tagebuch zeigt Schmitt am neuen Ort, in neuer Funktion und Tätigkeit. Wir lernen den Stabssoldaten in den prägenden Jahren seiner Absage an Boheme und Romantik und des Scheiterns seiner ersten Ehe genauer kennen. Man könnte von einer formativen Phase oder auch Inkubationsjahren sprechen. Hier lebte Schmitt seine Neigung zur Boheme aus. Hier wurde er zu dem gegenrevolutionären Etatisten, den wir aus der Weimarer Zeit kennen.

Das Tagebuch beginnt mit der Ankunft in München. Das „Leben in der Kaserne“ ist zunächst die Hölle (S. 23). Schmitt erlebt den „Gott dieser Welt“ (S. 28f.), das Recht, von der Seite der „Vernichtung des Einzelnen“ (S. 64, vgl. 130). Der Straßburger Lehrer Fritz van Calker, nunmehr Major, holt ihn bald ins Münchner Generalkommando. Schmitt beschließt den „Pakt mit dieser Welt“, um dem Frontdienst zu entkommen. An die Stelle des Geheimrats tritt nun ein „Hauptmann“. Stand Schmitt im ersten Band zwischen Cari und „Geheimrat“, leidet er nun am „Gegensatz zwischen dem Generalkommando und Cari“ (S. 72). „Militär und Ehe; zwei schöne Institutionen“, vermerkt er ironisch (S. 90, vgl. S. 106). Beides findet er fürchterlich und gerät darüber erneut in lamentable Krisen. Ein ganzes Spektrum von Todesarten phantasiert er durch. Schmitt lebt in der ständigen Angst, seine langweilige Tätigkeit als Zensor gegen die Front eintauschen zu müssen, und streitet sich mit seiner angeschwärmten Frau. Jahre später, 1934, wird er in einer verfassungsgeschichtlichen Kampfschrift den „Sieg des Bürgers über den Soldaten“[7] beklagen. Hier erfahren wir nun, wie es um diesen kriegsfreiwilligen „Soldaten“ im Ersten Weltkrieg steht: Er verachtet den Krieg und das Militär, hasst den „preußischen Militarismus“ und die „Vernichtung des Einzelnen“ durch den Staat, der er doch Anfang 1914 noch in seiner späteren Habilitationsschrift „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ rechtsphilosophische Weihen erteilte. Wir sehen einen Menschen im ständigen Hader mit sich selbst, der unter seiner Zerrissenheit leidet. Schmitt steht im existentiellen Entscheidungszwang. Militär und Ehe kann er nicht beide bekämpfen. Vor Cari flüchtet er zum Staat.

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Im Büro hat er zumeist „nichts“ zu tun. Den „Mechanismus des täglichen Berufslebens“ (S. 64) nimmt er als „Gefängnis“ wahr, obgleich er mittags meist wieder draußen ist. Er trifft sich regelmäßig mit Freunden. Einige unterstützen ihn finanziell. Unter der Bank schreibt Schmitt ab Mai 1915 seine Studie über Theodor Däublers Nordlicht-Dichtung. Sein Kriegsdienst beschränkt sich, scheints, auf Gutachten über die Entwicklung des Belagerungszustandes, das Erteilen von „Passierscheinen“ und andere Genehmigungen sowie auf die Briefzensur und Beobachtung literarischer Pazifistenkreise, die im Dokumentationsteil eingehender nachgewiesen ist. Für die „Kerls in Berlin“ will Schmitt sich nicht totschlagen lassen (S. 71). Pazifistischer Literatur aber erteilt er die „Beschlagnahmeverfügung“ (S. 73). Dabei schämt er sich seiner Tätigkeit als Zensor (S. 85). „Pfingstsonntag. Den ganzen Tag auf dem Büro. Es ist entsetzlich, so eingespannt zu sein; eine lächerlich dumme Arbeit, Polizeistunden-Verfügungen, albern“ (S. 72). Schmitt erlebt den Krieg 1915 mehr als Papierkrieg und leidet unter der Verschlechterung der Schokoladenqualität. Jenseits allgemeiner Schmähungen des „Militarismus“ finden sich keine politischen Bemerkungen. Der Frontverlauf existiert in diesen Aufzeichnungen nicht. Von den „Ideen von 1914“ oder glühendem Nationalismus und Etatismus findet sich in den frühen Tagebüchern insgesamt fast keine Spur. Darüber kann man sich gar nicht genug wundern.

Seine literarischen Feindbeobachtungen verkauft Schmitt an eine Wochenzeitung. Auszüge aus seinen Berichten in der „Hamburger Woche“ sind abgedruckt. Durch die Tätigkeit als Zensor lernt er die literarische Avantgarde genauer kennen. Mit ästhetischem Gefallen liest Schmitt manche Schriften, die er dann verbietet. Weil Aphorismen ihm zusagen, schickt er einem „gescheiten, verstandeskräftigen Juden“ seine Monografie über den Staat, worüber der sich wundert (S. 88, 91). Assessor August Schaetz (S. 112 ff.) taucht auf, dem später, zum Gedenken an seinen Soldatentod, der „Begriff des Politischen“ gewidmet ist. Zum Scheiden er, zum Bleiben Schmitt erkoren. Am 6. September 1915 stellt Schmitt noch kategorisch fest: „Ich werde mich in einer Stunde vor Wut über meine Nichtigkeit erschießen.“ (S. 125) Doch am nächsten Tag erhält er vom Verlag die Zusage für das Däubler-Buch und vom Generalkommando den Auftrag, einen Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz zu schreiben, den er höhnisch kommentiert: „Begründen, dass man den Belagerungszustand noch einige Jahre nach dem Krieg beibehält. Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat.“ (S. 125) Seine Studie über „Diktatur und Belagerungszustand“ [8] wird ein Erfolg. Das Thema bahnt ihm den weiteren Weg. Die Diagnose einer Verschiebung der Gewaltenverhältnisse wird seine wichtigste verfassungspolitische Einsicht.

Der „Militarismus“ versetzt ihn weiter in Angst und Schrecken. Schmitt empfindet, „wie berechtigt es ist, vor dem Militärregime Angst zu haben und eine Trennung der Gewalten und gegenseitigen Kontrollen einzuführen“ (S. 135). Nachdem die Nordlicht-Studie abgeschlossen ist, kommt Däubler für einige Tage zu Besuch und die Freundschaft geht in die Brüche. Schmitt fühlt sich ausgenutzt und abgestoßen (S. 142ff.). Der Straßburger Lehrer Fritz van Calker schlägt ein „Habilitationsgesuch nach Straßburg“ (S. 157) vor, was Schmitt begeistert aufnimmt.

Wieder einmal erweist sich Calker als rettender Engel. Er lehrte Schmitt eine politische Betrachtung des Rechts; beide planten einst sogar eine gemeinsame „Einführung in die Politik“ [9]; Calker rettete Schmitt aus dem Düsseldorfer Ehedrama nach München, zunächst in die Kaserne, dann ins Generalkommando, und ermöglichte ihm später während des Militärdienstes die Habilitation. Diese Rückkehr nach Straßburg erscheint nun als paradiesischer „Traum“ (S. 157). „Das ist das richtige Leben“ (S. 162), notiert Schmitt. Als aus Straßburg nicht gleich Nachricht kommt, vermutet er eine Intrige des Geheimrat (S. 169). Doch auch diese Sorge ist überspannt. Auch der Geheimrat, der uns in den ersten Tagebüchern kafkaesk begegnete, wird sich als Förderer erweisen, indem er Schmitt seine erste feste Dozentur an der Münchner Handelshochschule vermittelt. Der Band dokumentiert dies durch Briefe zur beruflichen Entwicklung (S. 503ff.). Der wichtigste Mentor aber bleibt der Straßburger Doktorvater. Calker steht 1933 noch hinter der Berufung nach Berlin, weil er sich beim Minister Hans Frank, auch ein Schüler Calkers, für Schmitt einsetzte.[10] Schmitts schnelle Karriere in der Weimarer Republik wurde gerade durch die frühen Kontaktnetze ermöglicht, die in den Tagebüchern so gespenstisch begegnen. Nur Calker kommt bei Schmitt stets positiv weg. Ihm widmete er 1912 seine Studie „Gesetz und Urteil“.[11] Doch in seinen späteren Schriften erwähnt er ihn fast überhaupt nicht mehr. Der Name des wichtigsten Mentors ist aus Schriften und Nachlass geradezu vertilgt. Erst in den Tagebüchern taucht er wieder auf.

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Unentwegt rätselt Schmitt selbst über seinen problematischen Charakter. Er bringt ihn auf eine Formel. Schmitt empfindet sich als „Prolet“ und möchte ein Buch schreiben: „Der Prolet, oder: Der Plebejer. [...] Sein Instinkt: sich zu ducken und sich zu strecken, wie es kommt. Er ist ad alterum.“ (S. 124, dazu vgl. S. 448) Was Schmitt an sich bemerkt, rechnet er immer wieder auch Richard Wagner und dem Judentum zu: die „Abhängigkeit von der Meinung anderer“ (S. 173). Das Spiegelgefecht um Selbst- und Fremdhass, Freund-Feind-Identifikationen, treibt Schmitt in diesen Aufzeichnungen bis zur Selbstparodie. Im Licht von Nietzsches Wagnerkritik nimmt er Wagners antisemitische Disjunktion von Wagnerianismus und Judentum zurück, wenn er beiden das gleiche Syndrom, die gleiche Abhängigkeit von der Meinung der anderen unterstellt, den Vater des modernen, postchristlichen Antisemitismus seinerseits als „Juden“ (S. 115) brandmarkt und als „eine rein interne jüdische Angelegenheit“ (S. 164) betrachtet. Viel Literatur steckt im Antisemitismus. Schmitt dekonstruiert ihn als Spiegelgefecht in der literarischen Tradition Heines, Wagners und Friedrich Nietzsches. Aus den Verstrickungen der modernen Weltanschauungen, die Schmitt in einen Topf wirft (S. 176), flüchtet er zum Katholizismus. So ärgerlich vieles auch klingt, muss man nicht alles auf die Goldwaage legen. Schmitt sieht seinen Feind durchaus schon als „die eigne Frage als Gestalt“ an.

Das Tagebuch endet mit der Entscheidung für Straßburg. Schmitts Verfahren ist durch den Wiederabdruck der Probevorlesung gespiegelt. Der Band greift durch weitere Texte noch über das Jahr 1916 hinaus. Wichtig ist hier vor allem der Abdruck der Beiträge zur Zeitschrift „Summa“. Durch dieses Texttriptychon konfrontiert Schmitt seinen satirischen „geschichtsphilosophischen Versuch“ über „Die Buribunken“ mit einer theologisch anspruchsvollen „scholastischen Erwägung“ über „Die Sichtbarkeit der Kirche“ und vermittelt beides über die rechtsphilosophische Verhältnisbestimmung von „Macht und Recht“. Sinnvoll ist auch die Beigabe der kurzen Satire auf Karl Kraus sowie der Vorbemerkung zur Ausgabe einer romantischen Autobiografie. Diese kleine Veröffentlichung spiegelt Schmitts biografische Entscheidung: den Sprung in den Glauben, für den offenbar auch die Begegnung mit Theodor Haecker und Kierkegaard wichtig war. Ein Vorlesungsauszug über Bodin kündigt die Ausarbeitung der Souveränitätslehre an, die dann ins nächste Kapitel der Biografie gehört.

Das Thema der Münchener Militärzeit ist die Entscheidung für Etatismus und Katholizismus, die Schmitt seinen existentiellen Krisen abrang und die er privatim, psychobiografisch, kaum vertreten konnte. Wir sehen eine doppelte Fluchtbewegung: eine Flucht aus der Zeit und in die Zeit. Zunächst flieht Schmitt in die Zeit, indem er sich von seinem ruinösen Privatleben abwendet und dem gegenrevolutionären Staat verschreibt. Später flieht er auch aus der Zeit: zum Katholizismus, wie es sein Dadaistenfreund Hugo Ball [12] in seinen Tagebüchern „Flucht aus der Zeit“ beschrieb.

Nun erst ist die Münchner Militärzeit material erschlossen. Sie erscheint in ihrem eigenartigen Profil gegenüber der Düsseldorfer Jugendkrisis sowie der zweiten Münchener Zeit an der Handelshochschule. Diese Zeit von 1919 bis 1921, die erste feste akademische Stellung noch vor dem Wechsel nach Greifswald, wurde bisher kaum zur Kenntnis genommen. Auch dafür sind nun neue Gleise gestellt. Schmitt war nicht nur akademisch frühreif, sondern machte auch schnelle berufliche Karriere. Schon im Generalkommando saß er recht fest im Sattel. Die Front blieb ihm erspart. Ab 1919 war er dann, 31-jährig, als Dozent mit glänzenden Aussichten etabliert. Beruflich jedenfalls wurde er bald zum „Glückspilz“ (S. 521ff.), was die Tagebücher zunächst kaum erahnen lassen.

Das Gewicht dieses zweiten Bandes liegt nicht zuletzt in der gedankenreichen Einleitung, sorgsamen Kommentierung und Zusammenstellung. Dass Schmitt mit der – 1919 erscheinenden – „Politischen Romantik“ auch seinen eigenen Ästhetizismus niederrang, war lange bekannt. Schon Karl Löwith hatte es bemerkt. Der zweite Band zeigt nun, dass diese existentielle Entscheidung durch die objektivierende Phase der Zensorentätigkeit im Generalkommando hindurchging. Hier begegnet das Leben der Boheme aus der Perspektive staatlicher Repression. Wir kannten bereits den Romantiker, der die politische Romantik exekutiert. Hier haben wir den Etatisten, der den Staat hasst. Er bestätigt die Generalthese seiner Habilitationsschrift nicht als General Dr. von Staat mit geschwollener Brust. Schmitt findet den „Wert des Staates“ in einer moralischen „Vernichtung des Einzelnen“, die ihm die existentielle Rettung aus seinen Exaltationen bedeutete.

Anmerkungen:
[1] Gethmann, Carl Friedrich u.a. (Hgg.), Manifest Geisteswissenschaften, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2005, S. 9, vgl. S. 25f.
[2] Schmitt, Carl, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 bis 1951, hg. v. von Medem, Eberhard, Berlin 1991.
[3] Herrero, Montserrat (Hg.), Carl Schmitt und Álvaro d’Ors. Briefwechsel, Berlin 2004.
[4] Quaritsch, Helmut (Hg.), Carl Schmitt. Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ‚Nullum crimen, nulla poena sine lege’, Berlin 1994; Ders., Carl Schmitt. Antworten in Nürnberg, Berlin 2000.
[5] Schmitt, Carl, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 bis 1969, hg. v. Maschke, Günter, Berlin 1995.
[6] Schmitt, Carl, Tagebücher. Oktober 1912 bis Februar 1915, hg. v. Hüsmert, Ernst Berlin 2003; dazu meine Besprechung , in: H-SOZ-U-KULT vom 21.1.2004 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-039>. Inzwischen ist (2005) eine zweite, korrigierte Auflage erschienen.
[7] Schmitt, Carl, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reichen. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934.
[8] Schmitt, Carl, Diktatur und Belagerungszustand, in: Ders., Staat, Großraum, Nomos, Berlin 1995, S. 3-20.
[9] Das geht aus einem erhaltenen Brief van Calkers an Schmitt vom 30.10.1922 hervor (Hauptstaatsarchiv NRW, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-2492). Im Erscheinungsjahr der Erstfassung des „Begriffs des Politischen“ publizierte Calker dann seine „Einführung in die Politik“ (München 1927), die aus Vorlesungen hervorging.
[10] Brief Friedrich van Calkers vom 14.6.1933 an Schmitt (Nachlass Carl Schmitt, RW 265-2493).
[11] Schmitt, Carl, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, 1912, München 1968, vgl. S. VIII.
[12] Ball, Hugo, Flucht aus der Zeit, Luzern 1946.

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