Ok

En poursuivant votre navigation sur ce site, vous acceptez l'utilisation de cookies. Ces derniers assurent le bon fonctionnement de nos services. En savoir plus.

samedi, 13 juin 2009

Über den Begriff Mitteleuropas

Mitteleuropa-1815-1866.jpg

 

 

Archives de SYNERGIES EUROPEENNES - 1993

Robert Steuckers:

 

Über den Begriff "Mitteleuropa"

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

Vor der deutschen Wiedervereinigung also vor 1990 sprach man öfters als heute vom Mitteleuropa, von einer mitteleuropäischen Annäherung bzw. einem mitteleuropäischen Kulturraum in den deut­schen Medien als heute. Die Grünen, die Pazifisten, die linke Flügel der nordeuropäischen So­zial­demokratie unter dem geistigen Impuls von Männern wie Willy Brandt oder Olof Palme erwähn­ten damals eine atomwaffenfreie Friedenszone von Nordschweden bis zur griechischen Grenze, die die Streit­kräfte der Supermächte geographisch trennen würde. Diese Sozialdemokraten pazifisti­scher Ü­ber­zeugung kämpften eigentlich für die Errichtung einer «Gür­tel der Neutralen». Was Palme in Schweden vorschlug, war wie ein Echo des Rapacki-Plan im Polen der 60er Jahre. Ihrerseits schlugen der General Jochen Löser und Frau Ulrike Schilling eine «mitteleuropäischer Friedenszone» mit his­torisch gut begründeten und sachlichen Argumenten (cf. Neutralität für Mitteleuropa. Das Ende der Blöcke,  C. Bertelsmann, München, 1984). Aber dieser so­zial-demokratische und pazifistische Diskurs, obwohl sehr relevant und geopolitisch durchaus koherent, erschien dem geschichtsunbe­wußten Pu­bli­kum als eher abstrakt oder eben als intellektuele Spin­ne­rei. Kritisch kann man zwar sagen, daß dieser Diskurs bloß zeit­bedingt war und, zumindest im Falle der Pazifisten, die Palme laut verehrten, keine historisch-konkrete Perspektive bot. 

 

Der Mitteleuropa-Begriff wurde elastisch im Laufe des zwanzig­sten Jahrhunderts gedacht. Einerseits haben wir den Begriff eines reichszentrierten Mitteleuropas, mit Deutschland als Rumpf. Ande­rer­seits haben wir einen alternativen Begriff, der das Mittel­eu­ropa zu einem «Cordon» reduziert, das nur Staaten zählt, die we­der deutsch noch russisch sind. Dieses Mitteleuropa ist dann Puf­fer­zone zwischen den deutschen und russischen Reichen und soll­te als Ziel haben, eine Bündnis zwischen diesen zwei Giganten zu verhindern.

 

Das reichszentrierte Mitteleuropa hatte seine optimalen Grenzen zur Zeit der Karolinger: die West­gren­ze lief von den Küsten des Nord­sees, also von Friesland, bis zur Küste des Mittelmeers in der Provence; die Ostgrenze lief von der Odermündung bis zur Adria, d.h. zur dalmatischen Küste. Die Achsen Rhein-Rhône und Ostsee-Adria machten aus dem mitteleuropäischen Raum einen welt­offe­nen Raum mit Zugang zum Atlantischen Ozean und zum Mittel­meer. Dieser Raum hat parallele Flüsse in der norddeutschen Ebe­ne (Schelde, Maas, Rhein, Weser, Elbe, Oder, Weichsel) und in dem burgundischen Raum (Saône, Rhône), die in Richtung Süd-Nord oder Nord-Süd fliessen. Demgegen­über steht der französischen Kern­raum mit ebenfalls parallele Flüsse, die aber in Richtung Ost-West fliessen (Somme, Seine, Loire, Garonne). Das Schicksal der Völ­ker hing in diesen Zeit sehr stark von diesen geographischen Bedingungen ab. Flüsse erleichterten die Kommunikationen. Länd­liche Stras­sen waren unsicher und große Mengen Güter konnten nicht mit Karren befördert worden. Zu diesen drei Reihen Flüßen muß man einen vierten Fluß mitrechnen: die Donau, die eine West-Ost-Achse dar­stellt. Das nach den Türken-Kriegen erweiterte reichs­zentrierte Mitteleuropa wurde im neunzehn­ten Jahrhundert noch Donauräumisch bestimmt. Pläne entstanden, um einen ge­mein­samen Markt mit den heutigen Benelux-Ländern, dem Reich, der Schweiz, der Donau-Monarchie, Rumänien, Ser­bien und Bul­ga­rien entstehen zu lassen. Der östereichische Industrie-Leiter Ale­xan­der von Peez, Geo­gra­phen wie Kirchhoff und Partsch, Penck und Hassinger, versuchten diesen Raum theoretisch zu fassen und schlugen Methoden und Pläne vor, um den balkanischen Raum als Ergänzungsraum für die industrialisierten Zonen des Altreichs­ge­bietes zu organisieren. Diese Donau-bedingten Geopolitik proji­zier­te sich weiter, über Anatolien nach Mesopotamien bis zur Küste des Persischen Golfes. Das erklärt die deutsch-österreichisch-otto­ma­nische Bündnis im ersten Weltkrieg, aber auch teilweise die ame­ri­kanische Intervention in Irak in September 1990. Ein Europa ohne Eisernen Vorhang darf in den Augen der amerikanischen Geopo­li­ti­ker und Planer sich nicht bis zur Persischen Golf ausdehnen, wie da­mals das Reich und Österreich-Ungarn nicht über den Balkan und das Ottomanische Reich über ein Fenster auf den Indischen Ozean ge­niessen.

 

Eben um diese geopolitische Dynamik zu torpedieren, fanden die Verfasser des Versailler Vertrages einen neuen Mitteleuropa-Be­griff aus. Dieser Begriff sieht den mitteleuropäischen Raum als Puf­fer­zone, als «Cordon sanitaire» zwischen Deutschland und Russ­land oder als Hindernis, als «Barrière» gegen jede friedliche, nicht-koloniale und wirtschaftliche Expansion Nordmitteleuropas in Richtung des Persischen Golfes. 1919 warnte der britische Geo­po­litiker Halford John Mackinder vor einer deutsch-russischen Bünd­nis, die dazu bestimmt war, ein gewaltiges Kontinentalblock zu organisieren, wo die angelsächsischen Seemächte keinen Zugriff mehr haben würden. Deshalb suggerierte Mac­kinder, ein «Cordon sanitaire» zwischen dem besiegten Deutschland und der aufkom­men­den Sowjet­u­nion zu errichten. Lord Curzon, der Mann der die polnisch-sowjetische Grenze festlegte, war ein aufmerksamer Le­ser der geopolitischen Thesen Mackinders. Er versuchte sie in der Pra­xis umzu­set­zen. Der Franzose André Chéradame legte 1917 die Methoden aus, womit die Allierten die Achse Ham­burg-Persischer Golf fragmentieren müßten, um

1) Deutschland seine Absatzmärkte im Ottomanischen Bereich wegzunehmen;

2) Die Donau-Monarchie zu zerstören und alle Zugänge zur Adria dem kleinen Österreich zu verhin­dern;

3) Bulgarien zu zähmen und ihm alle Zugänge zum Mittelmeer zu sperren;

4) Ein Großserbien zu schaffen, die alle Küsten der Adria kontrollieren würde;

5) Ein Großrumänien zu schaffen, um Ungarn und Bulgarien zu schwächen.

 

Fazit: Mitteleuropa unter deutscher Führung darf kein Zugang zum Mittelmeer mehr besitzen. Damit vollendete sich den histo­ri­schen Prozeß, daß im Frühmittelalter mit dem Verlust der Pro­ven­ce, des Rhônetales und des Hafens von Marseille durch geschickte fran­zösische Ehepolitik. 1919 besitzt der geplante mitteleuropäische Markt mit dem Ottomanischen Reich als Ergänzungsraum kein Zu­gang mehr zum Mittelmeer. Erinneren wir uns doch, daß der Bona­par­te es schon zwischen 1805 und 1809 versucht hat, Österreich und Ungern den Zugang zur Adria zu sperren: aus Südkärnten, Slowe­nien, Westkroatien und Dalmatien wurden die sogennanten «Illyri­sche Départements» zusammengestellt, die unmittelbar von Paris re­giert wurden. Man begreift so, wie wichtig die Adria war, ist und blei­ben wird. Deshalb erkannte Hans-Dietrich Genscher bewußt oder unbewußt sofort die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroa­tiens; er konnte so ein der schlimmsten Überbleibsel von Versailles wegschaffen. Im Westen waren einige Kanzleien damit nicht ganz einverstanden. Ein Wort noch über das Prinzip der nationalitäten des US-Präsidenten Woodrow Wilsons. Die Mittelmächte vertei­dig­ten damals kei­ne nationale bzw. nationalistische Prinzipien son­dern Übernationale bzw. reichische Prinzipien. Der öster­reichische Kronprinz wollte eine eidgenössenschaftliche Strukturierung der südslawischen Ge­biete der Donau-Monarchie. Kroatien, Slowe­nien und Bosnien-Herzegowina hätten eine eidgenös­sen­schaftliche Verfassung gahbt, selbstverständlich auch für die orthodoxen Ser­ben, die sich in diesen Gebieten im Laufe der Jahrhunderte nieder­ge­lassen hatten.

 

Das Mitteleuropa, das der Westen sich wünscht, darf keinen Zu­gang zum Mittelmeer haben. Heute wird dieser Mitteleuropa-Be­griff u. a. von dem ungarischen Philosoph György Konrád propa­giert. Konr­ád, der sich schon im Dissidententum zur Zeit Bresch­news für einen humanen Sozialismus en­gagiert hatte, hat trotzdem ri­chtige Argumente: Der mitteleuropäische Raum stellt eine Bunt­heit von Völker dar, also passen die Lösungen der homogöneisie­ren­den Jakobinismus nicht; dieser Raum ist mit dem deutschen Volks­raum nicht zu vergleichen, weil Deutschland und Deutsch­öster­reich ethnisch homogen sind und politische Strukturen ent­wickeln, die eben für die ethnisch heterogenen Regionen Ostmittel­europas nicht geeignet sind. Konrád fügt hinzu, daß das Expe­ri­ment des «real existierenden Sozialismus» absolut notwendig ist, um einer künftigen mitteleuropäischen Konföderation beitreten zu können. Sein Standpunkt ist also nicht der gleiche wie der der fran­zö­sischen und englischen Diplo­ma­ten von 1918-19, aber haben geo­gra­phisch bzw. geopolitisch das selbe Resultat. So bleiben in der Op­tik Konráds nur Polen, die Tschechoslowakei (die aber heute nicht mehr als solche besteht) und Ungarn, um diese hypothetische Konföderation beizutreten. Ich zweifle doch daran, daß eine solche Konfö­de­ra­tion Überlebenschancen haben würde. In der Zwischen­kriegs­zeit belasteten schon bes­timmte Struk­tur­mängel das politi­sche Leben dieser Staaten: Das Heeresetat des polnischen Staates war wahnsinnig hoch, so daß die zivile Sektoren der Wirtschaft to­tal vernachlässigt wurden; die Verbindungen mit Eisenbahn zwi­schen Böhmen einerseits und Berlin oder Wien andererseits waren er­heblich erschwert, was nicht ohne Konsequenz für Handel und Wirtschaft war; Ungarn wurde von einem Admiral regiert und hat­te überhaupt keinen Zugang zum Meer übrig; der ungarische Staat war ganz offensichtlich ein Krüppelstaat.

 

Weiter kann man sagen, daß das reichszentrierte Mitteleuropa, al­so m.a.w. der Raum des Karolingi­schen Reiches, grenzen mit fast alle anderen Staaten bzw. Völker in Europa. Strategisch gese­hen, ist sein Spielraum den ganzen europäischen Kontinent. Strategisch gibt es also eine Art Gleichnis zwi­schen dem Reich des Mittelalters bzw. Deutschland bzw. die Bündnis zwischen dem wilhelmini­schen Deutsch­land und der Donaumonarchie  und  Gesamteuropa.

 

Der schwedische Geopolitiker Rudolf Kjellén hat es sofort nach dem ersten Weltkrieg erkannt. Mit modernen Mitteln, dank sei der Geschwindigkeit der motorisierten Truppen und der Luftstreit­kräf­te, läs­sen sich Bayern oder Tirol auf den Stränden der Normandie verteidigen. Die Bretagne und die Nor­man­die gehören also seit Ju­ni 1944 zum gleichen strategischen Raum als etwa Frankenland o­der Kärn­ten.  Dieser Fakt wird selbstverständlich heute, wo Rake­ten die entscheidende Waffen sind, bes­tättigt und bekräftigt. Soweit was Raum und Geschichte betrifft.

 

Im 19. Jahrhundert versuchte der Philosoph Constantin Frantz ein Föderalismus zu entwickeln, die alle Kräfte, die innerhalb des Vol­kes wirkten, bündeln könnte. Föderalismus hieß nicht bei ihm «spal­ten», wie die Separatisten aller Art es denken, sondern bündeln. Wei­ter wollte sein bündelnder Föde­ra­lismus die konkreten und orts­verbundenen Identitäten nicht zerstören, sondern sie auf einem höheren Niveau entfalten. Dieser Sinn für Verschiedenheit und die­ses Respekt für lokale Belange entspricht einem typischen mitteleu­ro­päischen Rechtsempfinden, das man u.a. bei den Austro-Mar­xis­ten, bei den konservativen Föderalisten und Regionalisten, in be­stimm­ten Punkte des Programms der FPÖ Jörg Haiders, bei gewis­sen Anhänger der neuen Rechten, bei linken Regionalisten oder Grü­nen wie­der. Das deutsche Verfassungsrecht seit 1949 ist davon geprägt. Die Schweiz wird seit 700 Jahre durch diese Prinzipien re­giert. Die Tschechei und die Slowakei haben sich getrennt und su­chen eine Lösung in einem Föderalismus bundesdeutscher bzw. schwei­zerischer Art. Regionen innerhalb oder außerhalb des mittel­eu­ropäischen Raumes suchen die Möglichkeit, ihre Gemeinsam­kei­ten unmittel­bar (d.h. ohne die Intervention zentralistischer Behör­den) auszubeuten. Beispiele dieses Zusammenrückens gibt es in Hül­le und Fülle: Alpen-Adria, ARGE-Alpen, Bodensee-Gemein­schaft, Sarlorlux (Saar-Lo­thringen-Luxemburg), Euroregio (NL-Lim­burg, VL-Limburg, Provinz Lüttich/Wallonien, Kreise Aa­chen und Köln, Deutschsprachige Gemeinschaft im Königreich Belgiens). In Spanien entwickelt sich ein «asymmetrischer Bundestaat», wo die Teile das Recht haben, eine eigene Außenpolitik zu treiben. In Frank­reich, dem stärksten zentralisierten Staat Europas, wird die Not­wendigkeit allmählich gefühlt, daß die Regionen an Autonomie ge­winnen müssen, um nicht das Risiko zu laufen, in der Rück­ständig­keit zu fallen. Aber die Föderalisierung Frankreichs wird noch hartnäckig von gestrigen Kräften mit Er­folg bekämpft. Ich neh­me hier die Gelegenheit, weil hier auch ein Vertreter der deutschen Menschen­rechten-Kommission tagt, um die Anwesenden daran zu erin­nern, daß Paris gewissen KSZE- oder UNO-Be­schlüsse geweigert zu unterzeichen hat, weil diese den Schütz der Min­derheiten vorsahen. Paris hat dafür gemeinsame Front mit Bul­garien, Rumänien (schon zur Zeit Ceaucescus) und Griechen­land gemacht. In Italien, die Erfolge der Regionalisten der Lega Lum­barda werden die letzte Reste der römischen Zentralismus ver­schwinden lassen. In Großbritannien, erheben sich jetzt mehr und mehr Stimmen, um dem Lande eine Verfassung zu ge­ben. Anderer­seits macht die sog. devolution  Fortschritt. Schottland und Wales zählen ungefähr 5 Millionen Einwohner, Nordirland ist eine Raum­einheit für sich, aber England zählt 45 Millionen Einwohner, was das Gleichgewicht zwischen den Teilen zerstört. Deshalb sug­gerieren Juristen eine Verteilung Englands in neun historisch ge­wachse­nen Län­dern.

 

Das Problem der Subsidiarität

 

Heute wird die Subsidiarität allgemein verstanden als eine Absage der eigenen Souveränität, d.h. der nationalen bzw. staatlichen Sou­veränität, zugunsten einer übergeordneten Instanz, z.B. Euro­pa. Europa entscheidet in den wichtigen Sachen und läßt Länder, Regionen, Gemeinden, eventuelle nationale Staa­ten die alltägliche Verwaltung. So haben die Briten, besonders die Konservativen um Frau That­cher und John Major, den Begriff Subsidiarität ver­stan­den. Theoretisch bedeutet aber eigentlich die Subsidiarität was ganz anders.

 

In der parawissenschaftlichen Literatur, die aber wichtig durch ihrem Impakt in den Medien ist, sagt etwa ein Alvin Toffler in sei­nem letzten Buch, Powershift,  daß heute durch Faxgeräte, Com­pu­ter, Mo­dems, usw. die Zentralisierung der Großunter­nehmen nicht mehr notwendig ist. Die Großunter­neh­men, deren Etat manchmal größer ist als der Etat mancher europäischer Staa­ten, entwi­ckeln sich jetzt in Mosaik, d.h. so, daß die Buchhaltung der Filialen bzw. der örtlichen Zweige völlig au­tonomisiert wird. Buchhaltung muß ortsnah werden, d.h. Rechnung damit halten, daß Sachen bzw. Unter­nehmen im­mer örtlich bestimmt sind.

 

In der streng wissenschaftliche Literatur, z. B. im erwähnenswer­ten Buch von Frau Prof. Chantal Mil­lon-Delsol (L'Etat subsidiaire. Ingérence et non-ingérence de l'Etat: le principe de subsidiarité aux fon­dements de l'histoire européenne, Presses Universitaires de Fran­ce, Coll. «Léviathan», Paris, 1992) , die in Paris in der Sorbonne do­ziert, bedeutet Subsidiarität die Autonomie aller Verwaltungsebenen oder aller Körperschaften, die eine gegebene Gesellschaft strukturieren. Chantal Millon-Delsol findet das prinzip Subsidiarität im deutschen Verwaltungsrecht zurück. Unter anderem in den Gemeinde­ord­nungen, deren Art. 75 sagt: «Die Gemeinde darf nichts unternehmen, daß das private Sektor unter­nehmen kann». Subsidiarität wird hier nicht explizit sondern implizit formuliert. Diese Undeutlichkeit sollte verfassungsmäßig geregelt werden.

 

«Mitteleuropa» ist auch der Raum, wo dieses Rechtsempfinden implizit oder explizit (in der Schweiz z. B.) besteht. Rückkehr zur Mitte heißt deshalb auch Rückkehr zu diesem Rechtsempfinden. Was unse­ren Zeitgenossen auch zwingt, Aufmerksamkeit zu zeigen, wo Abweigungen auftauchen. Abweichun­gen sind entweder ein Zuviel an Staatlichkeit (Tocqueville stellte es für das hegelsche Preußen seiner Zeit) oder ein Zuwenig an Staatlichkeit (Tocqueville und Hegel stellten es gemeinsam für den Ver­ei­nig­ten Staaten fest, wo ein Despotismus durch Mangel an Staatlichkeit herrschte).

 

Das Rechtsempfinden Mitteleuropas kann als Modell für Gesamteuropa dienen. Strebungen in dieser Richtung können heute in Frankreich oder in Großbritannien beobachtet werden, wo ein strenger Zentralismus allmählich vor einer bescheidenen «Devolution» weicht oder wo eine stets wachsende Minderheit von Juristen eine moderne Verfassung fordern (Großbritannien hat nämlich keine Ver­fas­sung).

 

Mitteleuropa ist auch der Raum, wo Ordo-Liberalismus entstanden ist. Liberalismus reinsten Wassers führt zur Anarchie durch Mangel an Staatlichkeit. Totalitarismus sowjetischer Prägung führt zur Ver­knochung und Verbonzung durch Mangel an Autonomie. Ordo-Liberalismus wäre in diesem Sinne ein Gleichgewicht zwischen der stabilitätstiftenden Tradition und der erneuerungsschaffenden Dynamik.

 

Ordo-Liberalismus und Subsidiaritätsprinzip wären also die Grundpfeiler eines renovierten Gesamt­europas, in dem Gemeinschaften, Gemeinden und Gemeindewesen, ein eigenes Leben, ein Eigentum (im Sinne Stirner) , eine Eigenheit bzw. eine «Identität» (1) hätten und bewahren könnten. Damit diese Gemeinwesen sich entfalten können, brauchen sie eine garantierte Autonomie. Aber welche Kräfte wurden diese Autonomie gefährden?

1. Der äußere Feind. Dieser greift an, so daß Ernstfall bzw. Ausnahmezustand herrscht. In solchen extremen Fällen, gewinnt Autorität oder Diktatur (im Sinne Bodins oder Schmitts) Signifikanz.

2. Die ideologische Verblendung. Wenn ideologische Verblendung herrscht, ist der Staat kein dienstleistendes Prinzip, kein Instrument der Autonomie mehr. Der Staat wird dann bloß ein äußeres Instrument, das sich die Kräfte der Gemeinschaften bzw. Körperschaften innerhalb des Volkes be­dient, um eine abstrakten Ideologie im Konkreten zu verwirklichen. So, zum Beispiel, die Ideologie der totalen, absoluten Freiheit herrscht in den Vereinigten Staaten: die Kriminalität aber wächst und das Schulwesen geht zugrunde. Die französische Revolution wollte die Idee der Gleichheit verwirklichen, was zu eine permanente Bürgerkrieg geführt und das Land definitiv geschwächt hat. Die Idee des Wohl­fahrt­staates haben im Nachkrieg die Behörden Großbritanniens und Schwedens durchführen wollen; das hat aber die Industrie zertrümmert oder die Gesellschaft verknochet. Die Historiker führen auch manchmal aubereuropäiche Beispiele: das Mandarinat hat das traditionnelle China geschwächt und die Idee eines Ameisenstaates das Inkareich ruiniert.

 

Subsidiarität heißt, daß der Staat eine Regulationsinstanz ist (die Regulation, durch die sog. Regulatio­nisten vertreten, wird allmählich heute —zumindest theoretisch—  das Regierungsprojekt derjenigen Sozialisten, die die Wohlfahrt retten wollen aber trotzdem anerkannt haben, daß die Gleichheitswahn zur Starrheit führt). Die Regulationisten sind meistens innerhalb der sozialdemokra­tischen Parteien aktiv und ihre Projekten sind öfters mit denjenigen der grünen Humansozialisten, die das Kalmar-Prinzip in der Industrie verteidigen, gekoppelt.

 

3. Verantwortungslosigkeit bzw. Verantwortungsmüdigkeit der Bürger. Das Prinzip Subsidia­ri­tät bzw den subsidiären Staat zu verteidigen, ist eine schwere Aufgabe, weil die Behörden müssen dann ihre natürliche Tendenz, sich auszuweiten, bremsen, und zur gleichen Zeit, muß die zi­vile Gesellschaft erfolgreiche Initiativen nehmen. Um solche Initiativen zu nehmen, muß die Bevölkreung streng poli­tisch bewußt sein, was heutzutage höchst problematisch ist, da in unseren westlichen Konsum­ge­sell­schaften das Spielerische die Oberhand hat.

 

In den rein wissenschaftlichen Werken der Professorin Chantal Million-Delsol heißt Subsidiarität:

1) Autonomie bestehen lassen bzw. fördern, wo sie vorhanden ist.

2) Alle Formen des Zentralismus vermeiden, da jeder Zentralismus eigentlich eine abstrakte Ideologie ins Konkrete verwirklichen will, was eine praktische Unmöglichkeit ist.

3) Eine Anthropologie, die den Menschen, die Gemeinden akzeptiert, wie sie sind, und nicht wie sie sein sollten.

Ein der akutsten Probleme unserer Zeit, ist es, daß Europa von Ideologen regiert wird. Ein erheblicher Teil unserer Regierenden sind keine nüchterne Beobachter der menschlichen Pluralität oder der erdhaften Wirklichkeit. Joze Pucnik, Leiter der slowenischen Sozialdemokratie, behauptete sehr richtig in einem Interview, daß die Menschenrechte konkrete und nicht abstrakte Rechte sind, d.h. daß diese Rechte sind, die in einem historischen Kontext eingebettet und daran angepaßt sind. Menschenrechte sind Produkte bestimmter Geschichten, variieren also vom Ort zu Ort, vom Zeitraum zu Zeitraum, und sind nicht ganz allgemein die Produkte einer bloßen Deklaration.

 

Fazit: Unser Ort ist der mitteleuropäische Raum, wo sich ein bestimmtes Rechtsempfinden im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Unser Kampf für eine eigene Verfassung und für unsere Ort- und Zeit­bedingte Rechte sollte selbstverständlich Rechnung halten mit diesem Raumbestimmtheit und die­sem Rechtsempfinden. Das heißt Rückkehr zur Mitte. Besser gesagt: zu unsere eigene Mitte. 

   

Les commentaires sont fermés.