samedi, 13 juin 2009
Über den Begriff Mitteleuropas
Archives de SYNERGIES EUROPEENNES - 1993
Robert Steuckers:
Über den Begriff "Mitteleuropa"
Sehr geehrte Damen und Herren,
Vor der deutschen Wiedervereinigung also vor 1990 sprach man öfters als heute vom Mitteleuropa, von einer mitteleuropäischen Annäherung bzw. einem mitteleuropäischen Kulturraum in den deutschen Medien als heute. Die Grünen, die Pazifisten, die linke Flügel der nordeuropäischen Sozialdemokratie unter dem geistigen Impuls von Männern wie Willy Brandt oder Olof Palme erwähnten damals eine atomwaffenfreie Friedenszone von Nordschweden bis zur griechischen Grenze, die die Streitkräfte der Supermächte geographisch trennen würde. Diese Sozialdemokraten pazifistischer Überzeugung kämpften eigentlich für die Errichtung einer «Gürtel der Neutralen». Was Palme in Schweden vorschlug, war wie ein Echo des Rapacki-Plan im Polen der 60er Jahre. Ihrerseits schlugen der General Jochen Löser und Frau Ulrike Schilling eine «mitteleuropäischer Friedenszone» mit historisch gut begründeten und sachlichen Argumenten (cf. Neutralität für Mitteleuropa. Das Ende der Blöcke, C. Bertelsmann, München, 1984). Aber dieser sozial-demokratische und pazifistische Diskurs, obwohl sehr relevant und geopolitisch durchaus koherent, erschien dem geschichtsunbewußten Publikum als eher abstrakt oder eben als intellektuele Spinnerei. Kritisch kann man zwar sagen, daß dieser Diskurs bloß zeitbedingt war und, zumindest im Falle der Pazifisten, die Palme laut verehrten, keine historisch-konkrete Perspektive bot.
Der Mitteleuropa-Begriff wurde elastisch im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gedacht. Einerseits haben wir den Begriff eines reichszentrierten Mitteleuropas, mit Deutschland als Rumpf. Andererseits haben wir einen alternativen Begriff, der das Mitteleuropa zu einem «Cordon» reduziert, das nur Staaten zählt, die weder deutsch noch russisch sind. Dieses Mitteleuropa ist dann Pufferzone zwischen den deutschen und russischen Reichen und sollte als Ziel haben, eine Bündnis zwischen diesen zwei Giganten zu verhindern.
Das reichszentrierte Mitteleuropa hatte seine optimalen Grenzen zur Zeit der Karolinger: die Westgrenze lief von den Küsten des Nordsees, also von Friesland, bis zur Küste des Mittelmeers in der Provence; die Ostgrenze lief von der Odermündung bis zur Adria, d.h. zur dalmatischen Küste. Die Achsen Rhein-Rhône und Ostsee-Adria machten aus dem mitteleuropäischen Raum einen weltoffenen Raum mit Zugang zum Atlantischen Ozean und zum Mittelmeer. Dieser Raum hat parallele Flüsse in der norddeutschen Ebene (Schelde, Maas, Rhein, Weser, Elbe, Oder, Weichsel) und in dem burgundischen Raum (Saône, Rhône), die in Richtung Süd-Nord oder Nord-Süd fliessen. Demgegenüber steht der französischen Kernraum mit ebenfalls parallele Flüsse, die aber in Richtung Ost-West fliessen (Somme, Seine, Loire, Garonne). Das Schicksal der Völker hing in diesen Zeit sehr stark von diesen geographischen Bedingungen ab. Flüsse erleichterten die Kommunikationen. Ländliche Strassen waren unsicher und große Mengen Güter konnten nicht mit Karren befördert worden. Zu diesen drei Reihen Flüßen muß man einen vierten Fluß mitrechnen: die Donau, die eine West-Ost-Achse darstellt. Das nach den Türken-Kriegen erweiterte reichszentrierte Mitteleuropa wurde im neunzehnten Jahrhundert noch Donauräumisch bestimmt. Pläne entstanden, um einen gemeinsamen Markt mit den heutigen Benelux-Ländern, dem Reich, der Schweiz, der Donau-Monarchie, Rumänien, Serbien und Bulgarien entstehen zu lassen. Der östereichische Industrie-Leiter Alexander von Peez, Geographen wie Kirchhoff und Partsch, Penck und Hassinger, versuchten diesen Raum theoretisch zu fassen und schlugen Methoden und Pläne vor, um den balkanischen Raum als Ergänzungsraum für die industrialisierten Zonen des Altreichsgebietes zu organisieren. Diese Donau-bedingten Geopolitik projizierte sich weiter, über Anatolien nach Mesopotamien bis zur Küste des Persischen Golfes. Das erklärt die deutsch-österreichisch-ottomanische Bündnis im ersten Weltkrieg, aber auch teilweise die amerikanische Intervention in Irak in September 1990. Ein Europa ohne Eisernen Vorhang darf in den Augen der amerikanischen Geopolitiker und Planer sich nicht bis zur Persischen Golf ausdehnen, wie damals das Reich und Österreich-Ungarn nicht über den Balkan und das Ottomanische Reich über ein Fenster auf den Indischen Ozean geniessen.
Eben um diese geopolitische Dynamik zu torpedieren, fanden die Verfasser des Versailler Vertrages einen neuen Mitteleuropa-Begriff aus. Dieser Begriff sieht den mitteleuropäischen Raum als Pufferzone, als «Cordon sanitaire» zwischen Deutschland und Russland oder als Hindernis, als «Barrière» gegen jede friedliche, nicht-koloniale und wirtschaftliche Expansion Nordmitteleuropas in Richtung des Persischen Golfes. 1919 warnte der britische Geopolitiker Halford John Mackinder vor einer deutsch-russischen Bündnis, die dazu bestimmt war, ein gewaltiges Kontinentalblock zu organisieren, wo die angelsächsischen Seemächte keinen Zugriff mehr haben würden. Deshalb suggerierte Mackinder, ein «Cordon sanitaire» zwischen dem besiegten Deutschland und der aufkommenden Sowjetunion zu errichten. Lord Curzon, der Mann der die polnisch-sowjetische Grenze festlegte, war ein aufmerksamer Leser der geopolitischen Thesen Mackinders. Er versuchte sie in der Praxis umzusetzen. Der Franzose André Chéradame legte 1917 die Methoden aus, womit die Allierten die Achse Hamburg-Persischer Golf fragmentieren müßten, um
1) Deutschland seine Absatzmärkte im Ottomanischen Bereich wegzunehmen;
2) Die Donau-Monarchie zu zerstören und alle Zugänge zur Adria dem kleinen Österreich zu verhindern;
3) Bulgarien zu zähmen und ihm alle Zugänge zum Mittelmeer zu sperren;
4) Ein Großserbien zu schaffen, die alle Küsten der Adria kontrollieren würde;
5) Ein Großrumänien zu schaffen, um Ungarn und Bulgarien zu schwächen.
Fazit: Mitteleuropa unter deutscher Führung darf kein Zugang zum Mittelmeer mehr besitzen. Damit vollendete sich den historischen Prozeß, daß im Frühmittelalter mit dem Verlust der Provence, des Rhônetales und des Hafens von Marseille durch geschickte französische Ehepolitik. 1919 besitzt der geplante mitteleuropäische Markt mit dem Ottomanischen Reich als Ergänzungsraum kein Zugang mehr zum Mittelmeer. Erinneren wir uns doch, daß der Bonaparte es schon zwischen 1805 und 1809 versucht hat, Österreich und Ungern den Zugang zur Adria zu sperren: aus Südkärnten, Slowenien, Westkroatien und Dalmatien wurden die sogennanten «Illyrische Départements» zusammengestellt, die unmittelbar von Paris regiert wurden. Man begreift so, wie wichtig die Adria war, ist und bleiben wird. Deshalb erkannte Hans-Dietrich Genscher bewußt oder unbewußt sofort die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens; er konnte so ein der schlimmsten Überbleibsel von Versailles wegschaffen. Im Westen waren einige Kanzleien damit nicht ganz einverstanden. Ein Wort noch über das Prinzip der nationalitäten des US-Präsidenten Woodrow Wilsons. Die Mittelmächte verteidigten damals keine nationale bzw. nationalistische Prinzipien sondern Übernationale bzw. reichische Prinzipien. Der österreichische Kronprinz wollte eine eidgenössenschaftliche Strukturierung der südslawischen Gebiete der Donau-Monarchie. Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina hätten eine eidgenössenschaftliche Verfassung gahbt, selbstverständlich auch für die orthodoxen Serben, die sich in diesen Gebieten im Laufe der Jahrhunderte niedergelassen hatten.
Das Mitteleuropa, das der Westen sich wünscht, darf keinen Zugang zum Mittelmeer haben. Heute wird dieser Mitteleuropa-Begriff u. a. von dem ungarischen Philosoph György Konrád propagiert. Konrád, der sich schon im Dissidententum zur Zeit Breschnews für einen humanen Sozialismus engagiert hatte, hat trotzdem richtige Argumente: Der mitteleuropäische Raum stellt eine Buntheit von Völker dar, also passen die Lösungen der homogöneisierenden Jakobinismus nicht; dieser Raum ist mit dem deutschen Volksraum nicht zu vergleichen, weil Deutschland und Deutschösterreich ethnisch homogen sind und politische Strukturen entwickeln, die eben für die ethnisch heterogenen Regionen Ostmitteleuropas nicht geeignet sind. Konrád fügt hinzu, daß das Experiment des «real existierenden Sozialismus» absolut notwendig ist, um einer künftigen mitteleuropäischen Konföderation beitreten zu können. Sein Standpunkt ist also nicht der gleiche wie der der französischen und englischen Diplomaten von 1918-19, aber haben geographisch bzw. geopolitisch das selbe Resultat. So bleiben in der Optik Konráds nur Polen, die Tschechoslowakei (die aber heute nicht mehr als solche besteht) und Ungarn, um diese hypothetische Konföderation beizutreten. Ich zweifle doch daran, daß eine solche Konföderation Überlebenschancen haben würde. In der Zwischenkriegszeit belasteten schon bestimmte Strukturmängel das politische Leben dieser Staaten: Das Heeresetat des polnischen Staates war wahnsinnig hoch, so daß die zivile Sektoren der Wirtschaft total vernachlässigt wurden; die Verbindungen mit Eisenbahn zwischen Böhmen einerseits und Berlin oder Wien andererseits waren erheblich erschwert, was nicht ohne Konsequenz für Handel und Wirtschaft war; Ungarn wurde von einem Admiral regiert und hatte überhaupt keinen Zugang zum Meer übrig; der ungarische Staat war ganz offensichtlich ein Krüppelstaat.
Weiter kann man sagen, daß das reichszentrierte Mitteleuropa, also m.a.w. der Raum des Karolingischen Reiches, grenzen mit fast alle anderen Staaten bzw. Völker in Europa. Strategisch gesehen, ist sein Spielraum den ganzen europäischen Kontinent. Strategisch gibt es also eine Art Gleichnis zwischen dem Reich des Mittelalters bzw. Deutschland bzw. die Bündnis zwischen dem wilhelminischen Deutschland und der Donaumonarchie und Gesamteuropa.
Der schwedische Geopolitiker Rudolf Kjellén hat es sofort nach dem ersten Weltkrieg erkannt. Mit modernen Mitteln, dank sei der Geschwindigkeit der motorisierten Truppen und der Luftstreitkräfte, lässen sich Bayern oder Tirol auf den Stränden der Normandie verteidigen. Die Bretagne und die Normandie gehören also seit Juni 1944 zum gleichen strategischen Raum als etwa Frankenland oder Kärnten. Dieser Fakt wird selbstverständlich heute, wo Raketen die entscheidende Waffen sind, bestättigt und bekräftigt. Soweit was Raum und Geschichte betrifft.
Im 19. Jahrhundert versuchte der Philosoph Constantin Frantz ein Föderalismus zu entwickeln, die alle Kräfte, die innerhalb des Volkes wirkten, bündeln könnte. Föderalismus hieß nicht bei ihm «spalten», wie die Separatisten aller Art es denken, sondern bündeln. Weiter wollte sein bündelnder Föderalismus die konkreten und ortsverbundenen Identitäten nicht zerstören, sondern sie auf einem höheren Niveau entfalten. Dieser Sinn für Verschiedenheit und dieses Respekt für lokale Belange entspricht einem typischen mitteleuropäischen Rechtsempfinden, das man u.a. bei den Austro-Marxisten, bei den konservativen Föderalisten und Regionalisten, in bestimmten Punkte des Programms der FPÖ Jörg Haiders, bei gewissen Anhänger der neuen Rechten, bei linken Regionalisten oder Grünen wieder. Das deutsche Verfassungsrecht seit 1949 ist davon geprägt. Die Schweiz wird seit 700 Jahre durch diese Prinzipien regiert. Die Tschechei und die Slowakei haben sich getrennt und suchen eine Lösung in einem Föderalismus bundesdeutscher bzw. schweizerischer Art. Regionen innerhalb oder außerhalb des mitteleuropäischen Raumes suchen die Möglichkeit, ihre Gemeinsamkeiten unmittelbar (d.h. ohne die Intervention zentralistischer Behörden) auszubeuten. Beispiele dieses Zusammenrückens gibt es in Hülle und Fülle: Alpen-Adria, ARGE-Alpen, Bodensee-Gemeinschaft, Sarlorlux (Saar-Lothringen-Luxemburg), Euroregio (NL-Limburg, VL-Limburg, Provinz Lüttich/Wallonien, Kreise Aachen und Köln, Deutschsprachige Gemeinschaft im Königreich Belgiens). In Spanien entwickelt sich ein «asymmetrischer Bundestaat», wo die Teile das Recht haben, eine eigene Außenpolitik zu treiben. In Frankreich, dem stärksten zentralisierten Staat Europas, wird die Notwendigkeit allmählich gefühlt, daß die Regionen an Autonomie gewinnen müssen, um nicht das Risiko zu laufen, in der Rückständigkeit zu fallen. Aber die Föderalisierung Frankreichs wird noch hartnäckig von gestrigen Kräften mit Erfolg bekämpft. Ich nehme hier die Gelegenheit, weil hier auch ein Vertreter der deutschen Menschenrechten-Kommission tagt, um die Anwesenden daran zu erinnern, daß Paris gewissen KSZE- oder UNO-Beschlüsse geweigert zu unterzeichen hat, weil diese den Schütz der Minderheiten vorsahen. Paris hat dafür gemeinsame Front mit Bulgarien, Rumänien (schon zur Zeit Ceaucescus) und Griechenland gemacht. In Italien, die Erfolge der Regionalisten der Lega Lumbarda werden die letzte Reste der römischen Zentralismus verschwinden lassen. In Großbritannien, erheben sich jetzt mehr und mehr Stimmen, um dem Lande eine Verfassung zu geben. Andererseits macht die sog. devolution Fortschritt. Schottland und Wales zählen ungefähr 5 Millionen Einwohner, Nordirland ist eine Raumeinheit für sich, aber England zählt 45 Millionen Einwohner, was das Gleichgewicht zwischen den Teilen zerstört. Deshalb suggerieren Juristen eine Verteilung Englands in neun historisch gewachsenen Ländern.
Das Problem der Subsidiarität
Heute wird die Subsidiarität allgemein verstanden als eine Absage der eigenen Souveränität, d.h. der nationalen bzw. staatlichen Souveränität, zugunsten einer übergeordneten Instanz, z.B. Europa. Europa entscheidet in den wichtigen Sachen und läßt Länder, Regionen, Gemeinden, eventuelle nationale Staaten die alltägliche Verwaltung. So haben die Briten, besonders die Konservativen um Frau Thatcher und John Major, den Begriff Subsidiarität verstanden. Theoretisch bedeutet aber eigentlich die Subsidiarität was ganz anders.
In der parawissenschaftlichen Literatur, die aber wichtig durch ihrem Impakt in den Medien ist, sagt etwa ein Alvin Toffler in seinem letzten Buch, Powershift, daß heute durch Faxgeräte, Computer, Modems, usw. die Zentralisierung der Großunternehmen nicht mehr notwendig ist. Die Großunternehmen, deren Etat manchmal größer ist als der Etat mancher europäischer Staaten, entwickeln sich jetzt in Mosaik, d.h. so, daß die Buchhaltung der Filialen bzw. der örtlichen Zweige völlig autonomisiert wird. Buchhaltung muß ortsnah werden, d.h. Rechnung damit halten, daß Sachen bzw. Unternehmen immer örtlich bestimmt sind.
In der streng wissenschaftliche Literatur, z. B. im erwähnenswerten Buch von Frau Prof. Chantal Millon-Delsol (L'Etat subsidiaire. Ingérence et non-ingérence de l'Etat: le principe de subsidiarité aux fondements de l'histoire européenne, Presses Universitaires de France, Coll. «Léviathan», Paris, 1992) , die in Paris in der Sorbonne doziert, bedeutet Subsidiarität die Autonomie aller Verwaltungsebenen oder aller Körperschaften, die eine gegebene Gesellschaft strukturieren. Chantal Millon-Delsol findet das prinzip Subsidiarität im deutschen Verwaltungsrecht zurück. Unter anderem in den Gemeindeordnungen, deren Art. 75 sagt: «Die Gemeinde darf nichts unternehmen, daß das private Sektor unternehmen kann». Subsidiarität wird hier nicht explizit sondern implizit formuliert. Diese Undeutlichkeit sollte verfassungsmäßig geregelt werden.
«Mitteleuropa» ist auch der Raum, wo dieses Rechtsempfinden implizit oder explizit (in der Schweiz z. B.) besteht. Rückkehr zur Mitte heißt deshalb auch Rückkehr zu diesem Rechtsempfinden. Was unseren Zeitgenossen auch zwingt, Aufmerksamkeit zu zeigen, wo Abweigungen auftauchen. Abweichungen sind entweder ein Zuviel an Staatlichkeit (Tocqueville stellte es für das hegelsche Preußen seiner Zeit) oder ein Zuwenig an Staatlichkeit (Tocqueville und Hegel stellten es gemeinsam für den Vereinigten Staaten fest, wo ein Despotismus durch Mangel an Staatlichkeit herrschte).
Das Rechtsempfinden Mitteleuropas kann als Modell für Gesamteuropa dienen. Strebungen in dieser Richtung können heute in Frankreich oder in Großbritannien beobachtet werden, wo ein strenger Zentralismus allmählich vor einer bescheidenen «Devolution» weicht oder wo eine stets wachsende Minderheit von Juristen eine moderne Verfassung fordern (Großbritannien hat nämlich keine Verfassung).
Mitteleuropa ist auch der Raum, wo Ordo-Liberalismus entstanden ist. Liberalismus reinsten Wassers führt zur Anarchie durch Mangel an Staatlichkeit. Totalitarismus sowjetischer Prägung führt zur Verknochung und Verbonzung durch Mangel an Autonomie. Ordo-Liberalismus wäre in diesem Sinne ein Gleichgewicht zwischen der stabilitätstiftenden Tradition und der erneuerungsschaffenden Dynamik.
Ordo-Liberalismus und Subsidiaritätsprinzip wären also die Grundpfeiler eines renovierten Gesamteuropas, in dem Gemeinschaften, Gemeinden und Gemeindewesen, ein eigenes Leben, ein Eigentum (im Sinne Stirner) , eine Eigenheit bzw. eine «Identität» (1) hätten und bewahren könnten. Damit diese Gemeinwesen sich entfalten können, brauchen sie eine garantierte Autonomie. Aber welche Kräfte wurden diese Autonomie gefährden?
1. Der äußere Feind. Dieser greift an, so daß Ernstfall bzw. Ausnahmezustand herrscht. In solchen extremen Fällen, gewinnt Autorität oder Diktatur (im Sinne Bodins oder Schmitts) Signifikanz.
2. Die ideologische Verblendung. Wenn ideologische Verblendung herrscht, ist der Staat kein dienstleistendes Prinzip, kein Instrument der Autonomie mehr. Der Staat wird dann bloß ein äußeres Instrument, das sich die Kräfte der Gemeinschaften bzw. Körperschaften innerhalb des Volkes bedient, um eine abstrakten Ideologie im Konkreten zu verwirklichen. So, zum Beispiel, die Ideologie der totalen, absoluten Freiheit herrscht in den Vereinigten Staaten: die Kriminalität aber wächst und das Schulwesen geht zugrunde. Die französische Revolution wollte die Idee der Gleichheit verwirklichen, was zu eine permanente Bürgerkrieg geführt und das Land definitiv geschwächt hat. Die Idee des Wohlfahrtstaates haben im Nachkrieg die Behörden Großbritanniens und Schwedens durchführen wollen; das hat aber die Industrie zertrümmert oder die Gesellschaft verknochet. Die Historiker führen auch manchmal aubereuropäiche Beispiele: das Mandarinat hat das traditionnelle China geschwächt und die Idee eines Ameisenstaates das Inkareich ruiniert.
Subsidiarität heißt, daß der Staat eine Regulationsinstanz ist (die Regulation, durch die sog. Regulationisten vertreten, wird allmählich heute —zumindest theoretisch— das Regierungsprojekt derjenigen Sozialisten, die die Wohlfahrt retten wollen aber trotzdem anerkannt haben, daß die Gleichheitswahn zur Starrheit führt). Die Regulationisten sind meistens innerhalb der sozialdemokratischen Parteien aktiv und ihre Projekten sind öfters mit denjenigen der grünen Humansozialisten, die das Kalmar-Prinzip in der Industrie verteidigen, gekoppelt.
3. Verantwortungslosigkeit bzw. Verantwortungsmüdigkeit der Bürger. Das Prinzip Subsidiarität bzw den subsidiären Staat zu verteidigen, ist eine schwere Aufgabe, weil die Behörden müssen dann ihre natürliche Tendenz, sich auszuweiten, bremsen, und zur gleichen Zeit, muß die zivile Gesellschaft erfolgreiche Initiativen nehmen. Um solche Initiativen zu nehmen, muß die Bevölkreung streng politisch bewußt sein, was heutzutage höchst problematisch ist, da in unseren westlichen Konsumgesellschaften das Spielerische die Oberhand hat.
In den rein wissenschaftlichen Werken der Professorin Chantal Million-Delsol heißt Subsidiarität:
1) Autonomie bestehen lassen bzw. fördern, wo sie vorhanden ist.
2) Alle Formen des Zentralismus vermeiden, da jeder Zentralismus eigentlich eine abstrakte Ideologie ins Konkrete verwirklichen will, was eine praktische Unmöglichkeit ist.
3) Eine Anthropologie, die den Menschen, die Gemeinden akzeptiert, wie sie sind, und nicht wie sie sein sollten.
Ein der akutsten Probleme unserer Zeit, ist es, daß Europa von Ideologen regiert wird. Ein erheblicher Teil unserer Regierenden sind keine nüchterne Beobachter der menschlichen Pluralität oder der erdhaften Wirklichkeit. Joze Pucnik, Leiter der slowenischen Sozialdemokratie, behauptete sehr richtig in einem Interview, daß die Menschenrechte konkrete und nicht abstrakte Rechte sind, d.h. daß diese Rechte sind, die in einem historischen Kontext eingebettet und daran angepaßt sind. Menschenrechte sind Produkte bestimmter Geschichten, variieren also vom Ort zu Ort, vom Zeitraum zu Zeitraum, und sind nicht ganz allgemein die Produkte einer bloßen Deklaration.
Fazit: Unser Ort ist der mitteleuropäische Raum, wo sich ein bestimmtes Rechtsempfinden im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Unser Kampf für eine eigene Verfassung und für unsere Ort- und Zeitbedingte Rechte sollte selbstverständlich Rechnung halten mit diesem Raumbestimmtheit und diesem Rechtsempfinden. Das heißt Rückkehr zur Mitte. Besser gesagt: zu unsere eigene Mitte.
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