Genau hat sie damals keiner gezählt. Bis zu 3.000 Teilnehmer aus alles Teilen des Reiches strömten Anfang Oktober 1913 in die tiefe Provinz des Osthessischen Berglandes zwischen Kassel und Eisenach. Am Meißner, der im Jargon der Jugendbewegung damals bereits „Hoher Meißner“ genannt wird, wollen sie den Ersten Freideutschen Jugendtag abhalten. Die verschiedenen Strömungen der Bewegung von Wandervögeln, Lebensreformern, reformierten Studenten möchten in geschlossener Form einen Kontrapunkt zu den „hurra-patriotisch“ und als oberflächlich empfundenen offiziellen Festlichkeiten anläßlich des 100. Jubiläums der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 setzen.
In einer Kurzform faßten die Anwesenden ihren Geist in einem Bekenntnis zusammen, welches die versammelte Jugend öffentlich ablegte. Diese „Meißner-Formel“ sollte der ganzen Jugendbewegung die Richtung weisen. „Die Freideutsche Jugend will ihr Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit selbst gestalten. Für diese Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“
Der „Wandervogel“ als wirkungsmächtige Bewegung
Zu dieser Zeit war der „Wandervogel“ schon eine Organisation mit rund 25.000 Mitgliedern in 800 Ortsgruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – also eine so wirkungsmächtige Bewegung, daß bereits eine erste Geschichte dieses Jugendbundes geschrieben werden konnte, als deren Verfasser Hans Blüher, Philosoph mit jugendbewegter Herkunft, weithin bekannt wurde. Auch seiner wird ebenfalls mit einem Stein gedacht.
Keine zwölf Jahre zuvor, am 4. November 1901, wurde in Berlin-Steglitz der Wandervogel gegründet. Das war die Geburtsstunde der deutschen Jugendbewegung. Mit ein paar wanderfreudigen Gymnasiasten in einem Berliner Vorort fing es an, breitete sich dann innerhalb weniger Jahre geradezu ansteckungsartig im ganzen deutschen Sprachraum aus und hatte schließlich nahezu die gesamte organisierte deutsche Jugend erfaßt. Der Zeit des Wandervogels von 1901 bis zum Ersten Weltkrieg folgte in der Weimarer Republik die Phase der „Bündischen Jugend“, bis die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten schließlich auch die Jugend Deutschlands unter die Hakenkreuzfahne zwang.
Ehrenhain im Hunsrück für prominente Protagonisten
Markante Gestalten sind es gewesen, die der Jugendbewegung das Gepräge gegeben haben. Heute sind diese Namen auf Gedenksteinen im Ehrenhain der deutschen Jugendbewegung verzeichnet, um so die Erinnerung an diese Wegweiser deutscher Jugend wachzuhalten. Hüter dieses Ehrenhains ist der „Nerother Wandervogel“, der sich mit der in jahrzehntelanger Eigenarbeit errichteten „Rheinischen Jugendburg“ Waldeck im Hunsrück, die auf den Ruinen einer mittelalterlichen Burg entstand, ein noch heute bestehendes Zentrum geschaffen hat.
An einem Wiesenhang im Vorfeld der Burg ist der Ehrenhain angelegt, in dem inzwischen über dreißig Steine aufgestellt wurden. Von Steinmetzen formschön gestaltet, tragen die Steine den Namen und das Bundeszeichen der jeweiligen Persönlichkeit. Erinnert wird da etwa an Karl Fischer, als Gründer des Steglitzer Jugendbundes sozusagen der „Urwandervogel“. Er war ein junger Mann von starker Ausstrahlungskraft und mit großen Führungsqualitäten, allerdings auch ein recht diktatorisch waltender Herrscher im Jugendreich. Aber ohne sein Charisma hätte sich der „Wandervogel“ nicht so rasch ausgebreitet. 1930, im Jahr der Rheinlandbefreiungsfeiern nach dem Abzug der französischen Besatzung, machte ihn der Nerother Wandervogel zum Ehrenmitglied.
Prägende Gestalten zwischen Weltkrieg und Drittem Reich
Einer weiterer Gedenkstein im Ehrenhain erinnert an den Schulreformer Gustav Wyneken, eine der Hauptfiguren beim Meißner-Treffen. Erinnert wird im Ehrenhain auch dem 1918 vor Verdun gefallenen Hans Breuer, der als Student in Heidelberg mit dem „Zupfgeigenhansl“ das damals weitverbreitetste Liederbuch in Deutschland schuf – es erreichte, 1908 erstmals erschienen, schließlich eine Gesamtauflage von über einer Million.
Der „Bündischen Jugend“ zwischen Weltkrieg und Drittem Reich drückten dann wieder andere Jugendführer ihren Stempel auf. Da ist Ernst Buske zu nennen, der Führer der mitgliederstarken „Deutschen Freischar“, einem Zusammenschluß von Pfadfindern und Wandervögeln – ein Mann von so unbestrittener Autorität, daß man ihn, obwohl aufgrund eines Geburtsfehlers einarmig, den „General“ nannte. Die Zwillingsbrüder Robert und Karl Oelbermann gründeten den Nerother Wandervogel, den wohl originellsten aller Jugendbünde, der durch seine weltweiten, abenteuerlichen Fahrten berühmt wurde.
Nach 1945 entstanden viele Bünde nicht mehr neu
Eberhard Köbel, genannt „Tusk“, ging als Gründer und Führer der elitären „Deutschen Jungenschaft dj. 1. 11.“ (nach dem Gründungsdatum 1. November 1929) in die Geschichte der Jugendbewegung ein. Er war ein Mann von solcher Dymanik, daß er Jungen weit über seinen eigenen Bund hinaus zu begeistern verstand und in seinem Bestreben, die ganze Jugendbewegung nach seinen Vorstellungen zu formen, schließlich an seinem übertriebenen Ehrgeiz scheiterte. Er träumte von einer politischen Jugend mit sich als Führer und endete, von seiner Schar nicht mehr verstanden, im Parteikommunismus.
Auch Fred Schmid, ein Schweizer Professor, Gründer des „Grauen Corps“, und Karl Christian Müller, ein Lehrer aus dem Saarland, Führer der „Jungentrucht“, setzten ebenfalls starke Akzente in der damaligen Jugendarbeit. Aus dem Nerother Wandervogel ging der Schriftsteller Werner Helwig hervor, der neben Romanen und Reisebüchern eine weitere Geschichte der Jugendbewegung schrieb: „Die blaue Blume des Wandervogels“. Karl Buschhüter war der Architekt der Nerother Jugendburg. An sie alle erinnern Gedenksteine im Ehrenhain.
Jugendmusikbewegung und Pfadfinderbund
Auch die Erinnerung an die Jugendmusikbewegung wird wachgehalten, mit Gedenksteinen für Walther Hensel, bekanntgeworden durch seine „Finkensteiner Singwochen“, den jugendbewegten Musikpfleger Fritz Jöde und den Musikpädagogen Georg Götsch. Die Pfadfinder sind vertreten mit Steinen der Erinnerung für Maximilian Bayer und Alexander Lion, die Gründer des Deutschen Pfadfinderbundes, sowie für Erich Mönch, der die Pfadfinderschaft „Grauer Reiter“ gründete, und für den Pfarrer und Dichter Fritz Riebold von den Christlichen Pfadfindern (CPD).
Ein Stein steht für den im Ersten Weltkrieg gefallenen Dichter Walter Flex, der zwar selbst nicht der Jugendbewegung angehörte, aber mit seinem Roman „Wanderer zwischen beiden Welten“ zum Idol der Jugendbewegten wurde. Flex gab mit seiner Schilderung des Wandervogelführers Ernst Wurche ein gültiges Bild des Empfindens im Wandervogel wieder, geprägt von Haltung, Romantik und Ideal.
Der Nerother Wandervogel geht noch immer auf Fahrten
Ursprünglich war der Ehrenhain an Burg Waldeck nur für Mitglieder des Nerother Bundes gedacht. Erste Steine wurden schon Ende der zwanziger Jahre gesetzt, beginnend mit einem Stein für den Nerother Wilhelm Brauns, der auf einer Fahrt in der Wüste am Toten Meer verdurstet war. Auch wurde hier der Weltkriegs-Gefallenen aus den Reihen der Nerother gedacht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden viele Bünde nicht mehr neu, wohl aber waren Kreise von Ehemaligen geblieben, die ihre Erinnerung an die jugendbewegte Zeit bewahrten. Aus diesen Älteren-Gemeinschaften wurde dann der Wunsch an die Nerother im Hunsrück herangetragen, ob nicht in ihrer Obhut und bei ihrer Burg eine Gedenkstätte entstehen könne, die insbesondere an die Kriegsopfer der Jugendbewegung erinnern solle. Die Nerother waren bereit, und im Wandel dieses Gedankens entstand schließlich eine Anlage, die nicht nur dem Andenken an die Opfer der Kriege, sondern überhaupt an die starken Gründerpersönlichkeiten der gesamten Jugendbewegung gewidmet ist.
Hier im Hunsrück lebt Jugendbewegung aber auch heute noch nicht nur in der Erinnerung, sondern auch in der Tat, denn der kleingewordene Nerother Wandervogel geht wie von alters her noch immer auf weltweite, abenteuerliche Fahrten.
JF 41/13