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jeudi, 17 octobre 2013

Die Geburt der Moderne

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Die Geburt der Moderne

von Benjamin Jahn Zschocke

Ex: http://www.blauenarzisse.de

 

9783898094016.jpgDer Nationalsozialismus ist der absolute Fixpunkt der deutschen Geschichte – wirklich alles ballt sich zu ihm hin. Alle zeitlich daran angrenzenden Epochen verschwinden in seinem Schatten.

Der in Chemnitz lehrende Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Frank-​Lothar Kroll ist dafür bekannt, eine mittelbar an diese Zeit angrenzende Epoche, nämlich das Deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918, dankenswerter Weise aus diesem Schatten hervorzuholen. Unter Zuhilfenahme aller verfügbaren historischen Quellen betrachtet er diese Epoche so, wie sie war und nicht, wie sie laut der verengten Sichtweise eines „deutschen Sonderweges“ – bei einem gleichzeitig angenommenen „westeuropäischen Normalweg“ – gewesen sein soll.

Ein umfassendes Update der Quellenlage

Krolls aktuellstes Werk Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg unternimmt auf reichlich 200 Seiten den Versuch, einen Gesamtüberblick über die gesellschaftlichen Entwicklungslinien zwischen 1900 und 1914 zu geben. Da dies in solcher Kürze fast unmöglich scheint, verzichtet Kroll auf alle narrativen Elemente und gibt dem Leser in höchster Komprimierung sozusagen ein Update der aktuellen Quellenlage, in deren Ergebnis die Annahme des besagten „deutschen Sonderweges“ ebenso definitiv zu den Akten gelegt werden muß, wie das „persönliche Regiment“ unseres letzten Kaisers Wilhelm II.

Die seit gut fünfzig Jahren praktizierte „germanozentrische“ Herangehensweise gelangt bei Kroll ebenfalls auf die Deponie. Vielmehr gehört der historische Blickwinkel nach seinem Verständnis auf eine europäische Dimension geweitet, was allein angesichts der verästelten außenpolitischen Bündnisse dieser Epoche gar nicht anders möglich ist.

Doch Krolls Schwerpunkt liegt in diesem Buch definitiv nicht auf dem Ersten Weltkrieg: ungleich mehr interessiert ihn der kulturelle und soziale Entwicklungsstand eines Landes, das zur damaligen Zeit das fortschrittlichste der Welt war. Krolls große Stärke ist es, nicht nach Belieben zu werten, sondern nüchtern Fakten um Fakten vorzutragen und damit großkalibrig gegen die an deutschen Gymnasien, Universitäten und in den Medien herrschende Guido Knopp-​Mentalität vorzugehen.

Kultureller Vorreiter des Kontinents

Besonders der kulturelle Schwerpunkt reizt an Krolls Buch. Die titelgebende These, nach der die Moderne bereits zwischen 19001914 unter Wilhelm II. ihren Anfang nahm sowie erste Schwerpunkte herauskristallisierte – und damit nicht erst in den gepriesenen (dekadenten und auf Kredit finanzierten) so genannten Goldenen Zwanzigern – macht die Lektüre besonders empfehlenswert. Walther Rathenau schrieb schon 1919 in seinem Text Der Kaiser: „Für Kunst lag [beim Kaiser, Anm. BJZ] eine entschiedene formale Begabung zugrunde, die in rätselhafter Weise über die kunstfremde Umgebung emporhob […]. So ergab sich von selbst der Anspruch des künstlerischen Oberkommandos.“

Unter anderem am Beispiel der Kulturreform aber auch der Jugendbewegung arbeitet Kroll heraus, welche in Europa zur damaligen Zeit einmalige Fülle an verschiedenartigsten Kulturinstitutionen entstand und sich in aller Ruhe, teils sogar mit erheblichen Finanzspritzen, entwickeln konnte. Am bekanntesten sind auf dem Gebiet der Kunst wohl die Strömungen des Jugendstils, des Expressionismus und des Impressionismus, die zwischen 19001914 ihren Anfang nahmen. Besonders mit Blick auf Letzteren lohnt ebenso die Lektüre des bereits 1989 bei Königshausen & Neumann erschienenen Werkes von Josef Kern Impressionismus im Wilhelminischen Deutschland.

Weimars Probleme im Voraus erkannt – und behoben

Der oben mit „Guido Knopp-​Mentalität“ zusammengefaßten Erscheinung heutiger Geschichtsschreibung (eigentlich politischer Bildung), tritt Kroll mit aller Entschiedenheit entgegen: Erhellend sind zum Beispiel seine Erkenntnisse auf dem Gebiet der Presse– und Parteienlandschaft. Er spricht hier von einem „beispiellosen Pluralismus“. Außerdem wird die vielzitierte, himmelschreiende Armut der späten Phase der Industrialisierung (auf die im gymnasialen Geschichtsunterricht „zufällig“ eine monatewährende Behandlung der deutschen Arbeiterbewegung folgt) als Ammenmärchen enttarnt: „Wirkliche Massenarmut, die zur Verelendung trieb, gab es im wilhelminischen Deutschland – anders als im viktorianischen und edwardianischen England – nicht, wenngleich, die Mehrheit der Arbeiterschaft von sehr bescheidenen Einkommen zehrte.“

Am schwerwiegendsten sind, mit Blick auf den anfangs benannten Schatten einer gewissen Epoche wohl Krolls Feststellungen zum angeblich durch und durch judenfeindlichen Deutschland unter Wilhelm II.: „Die unmissverständliche Zurückweisung solcher Zumutungen seitens des Kaisers und der Reichsregierung verdeutlichte einmal mehr, dass im ‚ausgleichenden Klima des wilhelminischen Obrigkeitsstaates‘ dem politischen Einfluss radikalisierter Massen und Massenbewegungen, anders als in den späten Jahren der Weimarer Republik, enge Grenzen gesetzt waren.“

An anderer Stelle wird Kroll noch deutlicher: „Dass sich die Mobilisierung antisemitischer Ressentiments in Deutschland – und nicht etwa in Frankreich, wo sie vor und nach der Jahrhundertwende weitaus stärker verbreitet waren – Jahrzehnte später zu einer parteipolitischen Massenformation verdichten und schließlich in die Katastrophe des ‚Dritten Reiches‘ einmünden sollte, lag, bei aller partiell vorhandenen gesellschaftlichen Diskriminierung der rechtlich gleichgestellten Juden im Kaiserreich, nicht an strukturellen Defiziten oder Defekten des vermeintlichen wilhelminischen Obrigkeitsstaates. Eigentliche Ursache waren vielmehr die fatalen Konsequenzen der militärischen und politischen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg.“

Hörenswerte Audio-​Rezension bei Deutschlandradio Kultur.

Frank-​Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Band 1 der Reihe Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. 224 Seiten, Be.Bra Verlag 2013. 19,90 Euro.

Josef Kern: Impressionismus im Wilhelminischen Deutschland. Studien zur Kunst– und Kulturgeschichte des Kaiserreichs. 476 Seiten, Königshausen & Neumann Verlag 1989. 50,00 Euro.

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