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lundi, 16 juin 2014

Imperium statt Nationalstaat

Imperium statt Nationalstaat

Interview mit David Engels

von Johannes Schüller

Ex: http://www.blauenarzisse.de

David Engels, Deutschbelgier und Brüsseler Professor für Römische Geschichte, hat 2013 in Frankreich einen vieldiskutierten Bestseller zur Zukunft Europas veröffentlicht. Ein Gespräch über historische Parallelen.

 

Blaue​Narzisse​.de: Ihre These vom Niedergang des Westens und seinen Analogien zum Niedergang Roms erinnert stark an Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Doch der große Kollaps blieb aus. Warum sollte er ausgerechnet jetzt, in einer doch recht stabilen Phase des Friedens, eintreten?

David Engels: Spengler zählt tatsächlich, neben Friedrich Nietzsche, Thomas Mann und C. G. Jung, zu den Denkern, denen ich am meisten verdanke. Seine Geschichtsmorphologie halte ich jedoch auch in vielen Punkten für korrekturbedürftig und ausbaufähig. Wenn wir vom Niedergang oder gar Untergang reden, sollten wir uns allerdings daran erinnern, dass Spengler einmal ausdrücklich erklärt hat: „Es gibt Menschen, welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln. Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Worte nicht enthalten. Sagt man statt Untergang ‚Vollendung’ (…), so ist die ‚pessimistische’ Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne dass der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.”

Es geht also nicht um einen spektakulären „Kollaps”, der sich auf Jahr und Tag berechnen ließe. Stattdessen bleibt die Annahme entscheidend, dass auch Europa, wie jede andere Kultur, den morphologischen Vorgaben einer etwa tausendjährigen Kulturentwicklung unterliegt. An deren Ende stehen unweigerlich Verflachung, Entgeistigung, Niedergang und Rückfall in frühzeitlichen Atavismus.

Übrigens: Von „Frieden“ würde ich nicht wirklich sprechen wollen. Bedenken Sie, dass es gerade einmal 20 Jahren her ist, dass der Kalte Krieg beendet wurde, der uns nur im Rückblick fälschlicherweise als langer „Frieden“ erscheint. Und wenn ich an die schrecklichen Kriege zwischen den jugoslawischen Teilstaaten und an den momentan sich in der Ukraine abzeichnenden Bürgerkrieg denke, kann unser Kontinent kaum als wirklich befriedet gelten. Freilich führen die wichtigsten Staaten, die heute die EU ausmachen, seit 1945 keine Kriege mehr gegeneinander. Dass sie dies jedoch fast jeden Tag erneut als einzige Legitimation ihrer Existenz feiern, und das bis zum Abwinken, halte ich für geradezu grotesk. Auch die USA haben den nordamerikanischen Kontinent seit 1865 „befriedet” ohne hierin ihre historische Aufgabe als erschöpft zu betrachten.

Wie könnte sich der Untergang der EU real gestalten?

Zum Glück sind wir ja noch nicht so weit, dass schon vom „Untergang” die Rede sein muss. Es handelt sich vielmehr, in Analogie zu den Ereignissen des 1. Jahrhunderts v. Chr., um den „Übergang” einer demokratisch verbrämten, scheinhumanistisch unterfütterten und ultraliberalen Oligarchie in eine imperiale Staatsform. Erstere erweist sich als immer unbeweglicher, instabiler und unbeliebter; letztere dagegen stellt einen vielversprechenden Kompromiss zwischen den scheinbar unvereinbaren Extremen technokratischen Managements und plebiszitärer Radikaldemokratie dar.

Und wenn wir ehrlich sind, hat dieser Prozess ja schon lange begonnen, bedenkt man, wie überall in der EU die demokratische Maske fällt: Volksabstimmungen werden entweder ignoriert oder wiederholt, wenn das Resultat politisch unerwünscht ist, denken Sie nur an die Skandale um die europäische Verfassung, defizitäre Staaten werden, wie Griechenland, unter Provinzialverwaltung gestellt, und die EU-​Verträge sehen noch nicht einmal ein klares demokratisches Prozedere für die Ernennung des Präsidenten der Kommission vor.

Was noch fehlt, um die Analogie zu Rom perfekt zu machen, ist lediglich die konservative Wertewende und die Rückkehr eines in der Geschichte gründenden europäischen Sendungsbewusstseins. Und schon werden wir erneut in einem quasi augusteischen Staatswesen leben. Ob sich diese Wende, die sich ja schon überall im Bedeutungsanstieg traditionalistischer Parteien abzeichnet, nun freilich von innen heraus vollziehen wird, oder es erst einer jahrzehntelangen schweren Krise bedarf, ist offen. Um unseren Kontinent steht es jedenfalls äußert schlecht, denken wir etwa an Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Überalterung, Bevölkerungsschwund, Masseneinwanderung, Kapitalflucht, explodierenden Sozialbudgets und die chronische Unfähigkeit unseres politischen Systems, über eine einzige Legislaturperiode hinaus wirklich langfristig und umfassend angelegte Reformplänen zu realisieren. Deshalb tippe ich eher auf eine jahrzehntelange, schwere Krise – leider.

Spengler prognostiziert, ja fordert im Untergang des Abendlandes die Herrschaft neuer Caesaren, der Diktatoren auf Zeit. Diese Hoffnung ist in Rom und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fatal gescheitert. Wer könnte uns jetzt noch demokratisch retten?

Diktatur, Caesarismus und Kaiserreich sind für Spengler untrennbar verbunden. Und in Rom ist der Caesarismus ja nicht gerade gescheitert. Er etablierte sich vielmehr nach den verschiedensten kurzlebigen Versuchen der Konstruktion autoritärer Herrschaft durch die Gracchen, Marius, Sulla, Pompeius und Caesar dauerhaft seit der Machtergreifung des Augustus. Letzter errichtete dann eine neue Regierungsform, welche im Westen 500 Jahre, im Osten 1.500 Jahre Bestand haben sollte. Keine schlechte Erfolgsbilanz, wie ich finde.

Heute ist es kaum eine Generation her, dass die letzten autoritären Regime in Europa verdrängt wurden. Ich denke dabei nicht nur an den Ostblock, sondern auch an Griechenland oder Spanien. Die Forderung nach dem „starken Mann“, der uns aus der Krise führt, bleibt trotzdem aktueller denn je. Einer Umfrage der Le Monde Diplomatique zufolge erklärten sich 2013 32,3 Prozent der Deutschen, 38,2 der Italiener, 41,8 der Engländer, 43,2 der Franzosen, 56,6 der Ungarn, 60,8 der Polen und 62,4 der Portugiesen mit der Aussage einverstanden: „Was mein Land am meisten braucht, ist ein starker Mann an der Spitze, der sich weder um das Parlament noch um die Wahlen schert”. Wer will also heute überhaupt noch „demokratisch” gerettet werden? Die Demokratie – oder das, was wir heute unter ihr verstehen, und dem ein Athener des 5. Jahrhunderts v. Chr. nur mit Kopfschütteln begegnet wäre – ist weitgehend gescheitert. Sie lässt das Abendland von Tag zu Tag tiefer in die Krise sinken.

Blaue Narzisse​.de: Prof. Engels, ist unsere moderne Demokratie einfach nur ein historisches Missverständnis im Vergleich zur Antike?

David Engels: Nun, im Gegensatz zu dem, was heute überall verbreitet wird, lassen sich Ideale und Staatsformen nicht einfach per Dekret exportieren. Alles hängt auch von der dazugehörigen Mentalität ab. Von daher ist es ohnehin fast unmöglich, einen Begriff wie „Demokratie” in Antike und Abendland zu vergleichen. Insgesamt allerdings lässt sich beobachten, dass unsere Demokratie eine starke Tendenz aufweist, das klassische athenische, schon im 4. Jahrhundert v. Chr. gescheiterte Prinzip regelmäßiger Volksabstimmungen wie auch einer maximalen Einbindung jeden Bürgers in die Staatsverwaltung hinter sich zu lassen. Stattdessen werden vielmehr immer zahlreichere Kontroll– und Mittlerinstanzen zwischengeschaltet.

Das mochte bei außenpolitischer Flaute und wirtschaftlichem Wachstum, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, noch weitgehend folgenlos bleiben, offenbart sich aber heute angesichts der zahlreichen Krisen als fatale Schwäche. Denn die tatsächliche Macht muss sich angesichts der entstehenden Lähmung der Entscheidungsfindung notwendigerweise in andere Bereiche verlagern, um die Gesellschaft handlungsfähig zu halten.

Sie machen auch den Mangel an Ungleichheit und Autoritäten für den Untergang verantwortlich. Wie lässt sich eine Wiedergeburt dieser Werte mit einer demokratischen Gesellschaft verbinden?

Alles hängt davon ab, wie wir „Demokratie” definieren. Heute versucht die Gleichmacherei der „political correctness” jede gesellschaftliche Ausnahme in schon fast pathologischem, vorauseilendem Gehorsam zur gleichberechtigten Regel neben die mehrheitliche Norm zu stellen. Daher wird auch der Volkswille, wenn er sich denn einmal äußert und mit der herrschenden Ideologie nicht vereinbar ist, umgedeutet, korrigiert, zensiert oder glatt ignoriert. Gleichzeitig befindet sich die tatsächliche politische Macht in demokratisch unzugänglichen Zirkel einiger mächtiger Wirtschaftsmanager, Druckgruppen und internationaler Institutionen, welche von der Machtlosigkeit der Demokratie profitieren und das System daher um jeden Preis konservieren wollen. Betrachtet man diese Gegenwart, dann dürfte es tatsächlich schwer werden, eine solche Staatsform mit der Wiedergeburt traditioneller Werte zu verbinden.

Wenn wir uns aber daran erinnern, dass Demokratie im ursprünglichen Sinne einfach nur eine Staatsform bezeichnet, in der der Volkswille in jedem Augenblick so ungeteilt und ungefiltert wie möglich in politisches Handeln umgesetzt wird, sehe ich keinerlei Unvereinbarkeit. Denn die Zahl jener, die sich zu den historischen Werten unserer abendländischen Kultur bekennen bzw. in ungebrochener Kontinuität mit ihnen leben, macht ja immer noch die Mehrzahl der Bevölkerung aus. Unter diesem Blickwinkel wäre also die Rückkehr zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in Europa sogar untrennbar verbunden mit einer vergrößerten Loyalität und Solidarität unserer historischen Identität gegenüber. Und eine solche Kombination war ja gerade das ideologische Aushängeschild der „res publica restituta”, der „wiederhergestellten Republik” des Augustus.

Sie schreiben, ähnlich wie Spengler, Optimismus sei Feigheit. Bleiben uns jetzt nur der Untergang und der resignierte Rückzug ins Private?

Was als „Optimismus” und „Pessimismus” gilt, hängt weitgehend von unserer eigenen Perspektive auf die Geschichte ab. Ich gestehe, dass ich als überzeugter Abendländer wie auch als Historiker das Heraufkommen einer geschichtsverbundeneren Regierungsform und Weltanschauung mit einer gewissen Sympathie begrüße. Als Historiker ist man ja in irgendeiner Weise, offen oder verdeckt, immer Traditionalist.

Eine augusteische Wende für die EU würde aber, trotz aller republikanischen Ummantelung und Popularität der neuen Regierung, doch wesentlich nur die in den letzten Jahrzehnten vollzogene Vereinfachung und Konzentration von Macht in den Händen einiger Weniger definitiv verankern. Der Rückzug ins Private hat sich schon seit nunmehr zwei Generationen weit verbreitet, wie fast mathematisch an der Wahlbeteiligung überall in Europa abzulesen ist. Daran ändert auch die Aufsicht einer plebiszitär akklamierten obersten Instanz nichts. Diese Tatsache kann ich nur bedauern, ohne allerdings die geringste Hoffnung zu haben, dass dieser Prozess umkehrbar wäre.

Auch haben wir ja gar nicht die Wahl, denn ein Rückfall Europas in die Nationalstaaterei 28 kleiner Länder ist keine sinnvolle Alternative. Gegen machtpolitische Giganten wie die USA oder China hätte Europa nicht die geringsten Chancen, auch Deutschland mit seiner schwindenden Bevölkerung und seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von seinen Nachbarn stellt hier keine Ausnahme dar. Wir würden nur Brüssel gegen Washington oder Peking eintauschen, während sich gleichzeitig unsere Nationalstaaten gegenseitig zerfleischen, obwohl sie alle unter denselben Problemen leiden. Die imperiale Lösung ist deshalb vielleicht sogar das geringere Übel für den Kontinent. Das klingt möglicherweise hart. Aber wir sollten uns früh mit diesen Aussichten vertraut machen. Umso eher können wir unsere Zukunft so gut wie möglich gestalten.

Prof. Engels, vielen Dank für das Gespräch!

Anm. der Red: Die französische Originalausgabe (Le Déclin. La crise de l’Union européenne et la chute de la République romaine. Analogies historiques, Paris 2013) erschien dieses Jahr in einer vom Autor erstellten, wesentlich erweiterten deutschen Fassung im Berliner Europaverlag unter dem Titel Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen. Hier gibt es mehr Informationen dazu. Und hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

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