mardi, 30 mars 2010
Russlands Energie-Strategie für Nord- und Westeuropa
Russlands Energie-Strategie für Nord- und Westeuropa
Wenn sich Russlands Nachbarland Ukraine neutral verhält und sich die innenpolitische Lage dort stabilisiert, bedeutet das für Moskau weit mehr, als dass die militärische Bedrohung durch Washington entschärft wird. Denn jetzt kann Russland den einen besonderen Hebel nutzen, der dem Land neben der verbliebenen und noch immer schlagkräftigen Atomstreitmacht verblieben ist, nämlich den Export von Erdgas. Während Russland über die weltweit größten Reserven verfügt, herrscht in Westeuropa, ja sogar in Großbritannien, lebhafte Nachfrage, da die Vorräte in der Nordsee allmählich zur Neige gehen. Der Ostsee-Pipeline von Russland nach Norddeutschland kommt deshalb besondere Bedeutung zu.
Nach Schätzungen westeuropäischer Industriekreise wird die Nachfrage nach Erdgas in den Ländern der Europäischen Union in den kommenden 20 Jahren im Vergleich zu heute um etwa 40 Prozent wachsen. Der Anstieg geht vor allem auf das Konto der Stromerzeugung, weil Erdgas hierfür als saubere und sehr effiziente Energiequelle gilt. Während der Bedarf also steigen wird, geht die Förderung auf den Gasfeldern in Großbritannien, den Niederlanden und anderen EU-Ländern allmählich zurück. (1) Wenn die Ukraine nun von ihrer feindseligen Haltung Moskau gegenüber auf eine »blockfreie« Neutralität – um einen Ausdruck von Janukowytsch zu gebrauchen – umschwenkt, die zunächst auf die Stabilisierung der russisch-ukrainischen Erdgas-Geopolitik konzentriert, eröffnen sich für Russland plötzlich weit stabilere wirtschaftliche Optionen, mit denen der versuchten militärischen und wirtschaftlichen Einkreisung durch Washington begegnet werden kann.
Als Juschtschenko und Saakaschwili in der Ukraine bzw. in Georgien das Zepter übernahmen und gemeinsam mit Washington auf einen NATO-Beitritt hinarbeiteten, konnte Russland unter Putin praktisch nur noch die Energiekarte spielen, um zumindest den Anschein wirtschaftlicher Sicherheit aufrechtzuerhalten. Russland verfügt über die mit Abstand größten Erdgasreserven der Welt. Die zweitgrößten Reserven befinden sich übrigens nach Schätzung des amerikanischen Energieministeriums im Iran, den Washington ja ebenfalls im Visier hat. (2)
Heute verfolgt Russland erkennbar eine faszinierende, äußerst komplexe Energiestrategie. Die Energievorräte werden als diplomatischer und politischer Hebel benutzt, um »Freunde zu gewinnen und die Menschen (in der EU) zu beeinflussen«. Dmitri Medwedew, Putins Nachfolger im Präsidentenamt, ist geradezu prädestiniert für diese Gaspipeline-Geopolitik, denn er war zuvor Vorsitzender des staatlichen Gazprom-Konzerns.
Hoher Einsatz beim eurasischen Schachspiel
In gewissem Sinne ähnelt die eurasische Landmasse heute einem dreidimensionalen geopolitischen Schachspiel zwischen Russland, der Europäischen Union und Washington. Bei dem Spiel geht es für Russland um das Überleben als funktionierende Nation, was Medwedew und Putin offensichtlich auch bewusst ist.
Zu der versuchten militärischen Einkreisung Russlands durch die USA gehörten nicht nur die Rosen- und die Orangene Revolution in den Jahren 2003 und 2004, sondern auch die höchst provokative Pentagon-Politik der Raketen-»Verteidigung«, in deren Rahmen von den USA (nicht von der NATO) befehligte Raketenbasen in Schlüsselländern des ehemaligen Warschauer Pakts, an der unmittelbaren Peripherie errichtet wurden. Als Reaktion verfolgt Moskau jetzt eine eindrucksvolle und hochkomplexe Pipeline-Strategie, die man der amerikanischen Militärstrategie der Einkreisung durch die NATO, der Stationierung von Raketen und der »Farbenrevolutionen«, einschließlich der versuchten Destabilisierung des Iran im vergangenen Sommer durch eine »Grüne Revolution«, oder auch »Twitter Revolution«, wie Hillary Clinton sie salopp nannte, entgegensetzt. Die USA zielten darauf ab, Russland zu isolieren und die potenzielle strategische Allianz in ganz Eurasien zu schwächen.
Für Russland, das erst kürzlich Saudi-Arabien von der Position als größter Erdölproduzent und -exporteur der Welt verdrängt hat, bedeutet der Erdgas-Verkauf im Ausland einen bedeutenden Vorteil, denn Moskau kann den Preis und den Markt für Erdgas besser bestimmen. Anders als beim Erdöl, dessen Preis der strikten Kontrolle von Big Oil (und dessen Mittätern von der Wall Street, wie Goldman Sachs, Morgan Stanley, JP MorganChase) unterliegt, ist es für die Wall Street viel schwieriger, den Preis für Erdgas zu manipulieren, schon gar nicht durch kurzfristige Spekulation wie beim Erdöl.
Da Erdgas anders als Erdöl vom Bau kostspieliger Pipelines oder LNG-Tanker und LNG-Terminals abhängig ist, wird der Preis normalerweise in langfristigen Lieferabkommen zwischen Verkäufern und Kunden festgelegt. Das bietet für Moskau einen gewissen Schutz vor Preismanipulationen wie 2008/2009 beim Ölpreis durch die Wall Street, als dieser von einem Rekordhoch von 147 Dollar pro Barrel auf unter 30 Dollar nur wenige Monate später gedrückt wurde. Diese Manipulationen hatten verheerende Folgen für Moskaus Einkünfte aus dem Erdölexport, und das genau zu dem Zeitpunkt, als die weltweite Finanzkrise auch russische Banken und Unternehmen von weiteren Krediten abschnitt.
Mit Janukowytsch als ukrainischem Präsidenten scheint nun der Weg frei für geregelte Verträge mit der russischen Gazprom über die Erdgasversorgung in der Ukraine und die Durchleitung nach Westeuropa. Genau die Hälfte der in der Ukraine verbrauchten Energie wird aus Erdgas erzeugt und der größte Teil davon, ca. 75 Prozent, stammt aus Russland. (3)
Jetzt scheint eine tragfähige Einigung zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung über den Preis für das importierte russische Gas erreicht worden zu sein. Im Januar 2010 hat die Ukraine einem Gaspreis zugestimmt, der ähnlich hoch ist wie der in Westeuropa, gleichzeitig erhält sie jedoch von der russischen staatlichen Gazprom deutlich höhere Gebühren für die Durchleitung russischen Gases nach Westeuropa. Etwa 80 Prozent der russischen Gasexporte liefen bisher über die Ukraine. (4)
Das wird sich allerdings unter Russlands langfristiger Pipeline-Strategie drastisch ändern, die darauf abzielt, das Land in Zukunft weniger verwundbar durch politische Umwälzungen wie die Orangene Revolution 2004 in der Ukraine zu machen.
Die politische Bedeutung von Nord Stream
Nach der Orangenen Revolution in der Ukraine 2004 verfolgt Moskau die Strategie, die Pipelines nach Westen langfristig nicht mehr durch die Ukraine oder Polen zu führen. Deshalb wird die durch die Ostsee verlaufende Gaspipeline Nord Stream von Russland direkt nach Deutschland gebaut. Der polnische Außenminister Radek Sikorski ist ein in Washington ausgebildeter Neokonservativer. Als Verteidigungsminister war er zuvor maßgeblich an dem Abkommen über die Stationierung der amerikanischen Raketenabwehr beteiligt. Unter Sikorski ist Polen heute eng an die NATO gebunden, ein Aspekt davon ist die Zustimmung zu Washingtons einseitig provokativer Politik der Raketenstationierung. Außerdem versucht er immer wieder, bislang allerdings ohne Erfolg, den Bau der Nord Stream zu blockieren.
Nord Stream war für Russland besonders wichtig, so lange es so aussah, als ob es Washington gelänge, die Ukraine nach der Orangenen Revolution in die NATO zu ziehen. Heute ist die alternative Ostseepipeline für Russland aus anderen Gründen wichtig.
Die Nord-Stream-Gaspipeline verläuft von dem russischen Hafen Vyborg nahe St. Petersburg nach Greifswald in Norddeutschland durch die Ostsee in internationalen Gewässern, sie umgeht also sowohl die Ukraine als auch Polen. Als Nord Stream als Joint Venture der beiden deutschen Gasgesellschaften E.ON und BASF und der russischen Gazprom angekündigt wurde – mit dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder als Vorstand –, verglich Sikorski, damals polnischer Außenminister, das deutsch-russische Gasabkommen mit dem Pakt zwischen Molotow und Ribbentrop, dem 1939 geschlossenen Pakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion, die damals Polen unter sich aufteilten. (5)
Sikorskis Logik war vielleicht nicht so ganz präzise, das emotionale Bild dagegen sehr.
Ende 2009 genehmigten auch Schweden und Finnland nach Dänemark die Trassenführung für die Pipeline durch ihren Teil der Ostsee. Mit dem Bau des milliardenschweren Projekts soll im April dieses Jahres begonnen werden, die erste Gaslieferung ist für 2011 vorgesehen. Nach Fertigstellung einer zweiten Parallelpipeline, mit deren Bau 2011 begonnen werden soll, wird Nord Stream voraussichtlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr durch die Pipelines leiten, nach Angaben auf der Website von Nord Stream genug, um 25 Millionen Haushalte in Europa mit Gas zu versorgen.
Da Nord Stream dann als wichtigste Lieferroute direkt von Russland zu den wichtigsten Kunden in Deutschland verläuft, und da ein stabiles Transitabkommen durch die Ukraine ausgehandelt worden ist, wird eine Unterbrechung der Gazprom-Lieferungen nach Nordeuropa sehr unwahrscheinlich. Durch Nord Stream wird Gazprom in die Lage versetzt, eine flexiblere Gas-Diplomatie zu betreiben, und Störungen der Lieferung, zu denen es in den vergangenen Jahren in der Ukraine wiederholt gekommen war, werden dann weniger Probleme bereiten.
Ende 2009 hat sich der russische Präsident Dmitri Medwedew in Minsk mit Vertretern aus Belarus (Weißrussland) getroffen, genau zu der Zeit, als Nord Stream die letzten politischen Hürden nahm. Medwedew sagte, Russland denke über den Bau eines zweiten Strangs der großen Jamal-Europa-Pipeline durch Belarus nach, falls es die Nachfrage in Europa erforderlich mache: »Ich bin überzeugt: je mehr Möglichkeiten für die Lieferung von russischem Gas nach Europa bestehen, desto besser für Europa und Russland.« (6)
Darüber hinaus hat Großbritannien soeben einen langfristigen Vertrag mit Gazprom für den Import von Gas über die Nord Stream unterzeichnet – auch das ist eine bedeutsame geopolitische Veränderung. Mehr als vier Prozent der Gasnachfrage sollen 2012 durch diese Lieferung gedeckt werden. Großbritannien wird damit von einem Netto-Gasexporteur zu einem Netto-Importeur. Gegenwärtig bestehen zusätzlich zu den Verträgen der Gazprom mit Deutschland und Großbritannien noch Lieferverträge mit Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Frankreich, sie wird dadurch auf dem Energiemarkt der EU zu einem maßgeblichen Faktor.
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(1) »Eurogas (Europand Union of the National Gas Industry), Natural Gas Demand and Supply: Long-Term Outlook to 2030«, Brüssel 2007, unter: www.eurogas.org/.../Eurogas%20long%20term%20outlook%20to%202030%20-%20fina.
(2) Jim Nichol u.a., »Russia’s cutoff of Natural Gas to Ukraine: Context and Implications«, US Congressional Research Service Report for Congress, Washington, D.C., 15. Februar 2006.
(3) US Energieministerium, »Ukraine Country Analysis Brief, Energy Information Administration«, August 2007, Washington DC, unter http://www.eia.doe.gov/cabs/Ukraine/Full.html.
(4) »International Energy, Russia to supply 116 bn cm of gas to Europe via Ukraine in 2010«, Peking, 19. November 2009, unter http://en.in-en.com.
(5) Simon Taylor, »Why Russia's Nord Stream is winning the pipeline race«, 29. Januar 2009, EuropeanVoice.com, unter http://www.europeanvoice.com/article/imported/why-russia%E2%80%99s-nord-stream-is-winning-the-pipeline-race/63780.aspx.
(6) RIA Novosti, »Russia pledges 30–40% discount on gas for Belarus in 2010«, 23. November 2009, unter http://en.rian.ru.
Freitag, 26.03.2010
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