Erschienen ist sie 2009 in Paris und 2010 dann auf Deutsch im Passagen Verlag. Sie enthält drei Essays, die inhaltlich nah beieinanderliegen: „Stop-Eject“, „Die Ultrastadt“ und den titelgebenden Aufsatz „Futurismus des Augenblicks“.
Die Beschleunigung des Alltags endet in einer Katastrophe!
Der Franzose Virilio, Begründer der Dromologie, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, welchen Einfluß unser Zeitgefühl und die Geschwindigkeit von Alltag und Ökonomie auf Politik und Kultur haben. In Der Futurismus des Augenblicks geht dies einher mit der Betrachtung der Probleme der totalitären Moderne.
Wer bisher dachte, für eine gute Gegenwartsanalyse reiche es aus, die totalitären Tendenzen der Europäischen Union zu benennen, über Überfremdung und Identitätsverlust zu schimpfen, das Web 2.0 zu erforschen und sich mit Ökologie zu beschäftigen, der wird von Virilio eines Besseren belehrt. Die aktuelle Lage ist viel, viel schlimmer. Virilio zeigt auf, warum und weshalb es nur noch abstruse Auswege aus der Misere gibt.
In „Stop-Eject“ zeigt der Philosoph, wohin die „Migrationsoffensive des dritten Jahrtausends“ führen wird. Reichlich pessimistisch geht Virilio von einer Milliarde Umweltmigranten im Jahr 2050 aus, die dann infolge von Bauprojekten, der Ausbeutung der Natur, demographischen Veränderungen und des Klimawandels ihre Heimat verloren haben werden.
Ständig auf dem Sprung, nirgendwo zu Hause
Mit ihnen beginne eine „Ära des bewohnbaren Verkehrs“. Flüchtlingslager würden nicht die Elendsviertel von einst ersetzen, sondern direkt die Städte. Das, was Virilio prognostiziert, läßt sich vielleicht wie folgt verbildlichen: Wir alle leben in Zukunft in ständiger globaler Mobilität, können uns aber die derzeitigen Methoden der Fortbewegung (z.B. Auto) nicht mehr leisten, weil sie zu teuer geworden sind. Wir leben also ständig auf einer Art Bahnhof und versuchen uns in die übervollen Züge zu drängen. Diejenigen, die diesen Wettlauf um die Plätze im Zug verlieren, bilden das neue Proletariat. Sie gammeln auf den Bahnhöfen herum, die das Stadtzentrum verdrängt haben. Stets virtuell verbunden ist dieses Proletariat trotzdem mit der ganzen Welt, aber es bleibt doch verloren und ziellos.
Gruselig werde diese Ära des bewohnbaren Verkehrs durch die „Rückverfolgbarkeit jeder spezifischen Person“. In Zukunft seien wir „nicht nur ‚registriert‘, sondern auf Schritt und Tritt verfolgt, was die Kenntnis unseres Wohnortes vollkommen unnötig macht“, so Virilio. Um jedoch zu verhindern, daß dann alle Menschen der ärmsten Länder in die „Festung Europa“ und den (bisher noch) reichen Westen umsiedeln, führe kein Weg an einer abartigen Migrationskontrolle vorbei, wobei die Migrationsströme natürlich trotzdem aus den Fugen geraten. Virilio betont: „Der neuartige ‚Krieg gegen die Bürger‘ gibt sich nicht mehr mit Eisenbahnen und Bahnhöfen zur Selektion zufrieden, sondern fügt dem Ganzen jetzt Charterflüge hinzu, um eine massive Entvölkerung zu verhindern, die durch die sowohl ökonomischen als auch ökologischen Missetaten eines unerträglichen Fortschritts erst entstanden ist.“
Geozid folgt auf Genozid
Virilio entwickelt hier einen erschütternden Grundgedanken zur totalitären Moderne: Der Fortschrittsglaube sei nicht nur mitverantwortlich für die Genozide des 20. Jahrhunderts, sondern begünstige im 21. Jahrhundert einen „Geozid der Ortsdämmerung“, der in letzter Konsequenz nur dazu führen kann, daß bald ein neuer Planet bevölkert und ausgebeutet werden müsse.
Der zweite Essay „Die Ultrastadt“ beweist dann, daß Virilio diesen Gedanken tatsächlich ernst meint. Wenn die Menschheit den Weg des „widernatürlichen Fortschritts“, unendlichen Wachstums und der Entwurzelung in der jetzigen Geschwindigkeit weitergehe, stelle sich schon bald die Frage, wo wir eine „Super-Erde“ finden, auf der wir dann einen „doppelt oder dreimal so großen ‚ökologischen Fußabdruck‘“ hinterlassen können.
Die Gedankenwelt von Virilio ist deshalb so mitreißend, weil er anhand von Alltagsbeobachtungen und auf den ersten Blick unwichtigen Entwicklungen wahnsinnig viele Aspekte und Themen zu vereinen weiß. Bleiben wir beim Bahnhof: Was bedeutet es eigentlich, wenn heute die Bahnhöfe zu Einkaufszentren mit Internetcafés, Hotels und allerlei Möglichkeiten zur Vergnügung ausgebaut werden? Virilio sagt: Dies ist ein erstes Anzeichen dafür, daß wir unsere Heimat, unseren festen Wohnsitz, unsere Städte, kurz: unsere Seßhaftigkeit, verlieren. Einher damit gehe der Verfall der Kultur, Nationen und des modernen Staatswesens, weil jeder Bürger irgendwo unterwegs (meistens in einem Transitbereich) ist und sein tägliches Handeln nur noch durch eine elektronische, globale Überwachung zu erfassen sei.
Die Emotionsgemeinschaft des „Gefällt mir“
Begrenzt werde diese scheinbar unbegrenzte Mobilität nur durch die Erschöpfung der finanziellen und natürlichen Ressourcen. Das heißt, wir befinden uns immer auf dem Sprung, können aber nicht ständig reisen und begnügen uns deshalb damit, zumindest virtuell bei allen großen Ereignissen des globalen Dorfs fernanwesend zu sein. Es bilde sich dabei eine „Emotionsgemeinschaft der Individuen als Nachfolgerin der Interessengemeinschaft sozialer Klassen“ heraus. Das Erleben weltweiter Ereignisse in Echtzeit und die Synchronisierung der Emotionen betrachtet Virilio jedoch keineswegs als einen Fortschritt. Vielmehr würde ein „Kommunismus der Affekte“ entstehen. Das tägliche Leben der heimatlosen Menschheit sei davon geprägt, daß sie in einer Art Wartesaal das Unerwartete herbeisehne.
In dem abschließenden Essay „Der Futurismus des Augenblicks“ ordnet Virilio schließlich diesen Verlust des Zeit– und Raumgefühls historisch ein. „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ziehen sich zum allgegenwärtigen Augenblick zusammen, so wie sich die Ausgedehnheit der Erde im Übermaß an Geschwindigkeit und ständiger Beschleunigung unserer Fortbewegung und Telekommunikation zusammenzieht“, schreibt der Dromologe. Virilio zieht eine Analogie zwischen der Eroberung von Lebensraum, propagiert unter anderem durch das Nazi-Regime, und der Eroberung des virtuellen Raums als Ersatz für die Wirklichkeit.
Der Globalitarismus macht die Erde zu klein
Der „Globalitarismus“ konditioniere uns dabei auf das Vergessen alles Identitätsstiftenden. Geschichte spielt keine Rolle mehr. Zeitintervalle zur Reflexion bedeuten ökonomischen Verlust. Und Heimat steht der erzwungenen Mobilität entgegen. Mächtige Gegenkräfte zu dieser Entwicklung sieht Virilio nicht, weil sie einen entscheidenden Fehler begehen: „Seit der Planet Erde für den Fortschritt scheinbar zu klein, und offen gesagt auch zu heruntergekommen ist, hat man es überall dermaßen eilig, daß nicht nur keine Zeit mehr bleibt um Angst zu haben, sondern nicht einmal mehr Zukunft bleibt, um Pläne zu realisieren.“
Was also tun? Diese Frage ist größenwahnsinnig!
Paul Virilio: Der Futurismus des Augenblicks. Passagen Verlag 2010. 80 Seiten. 11 Euro.
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