Le Bon wendet darin die zuvor entwickelten massenpsychologischen Erkenntnisse auf die Parlamente an und ergänzt sie um einige Annahmen, die speziell auf diese besondere Form der Versammlung zutreffen. Neben den das Buch durchziehenden massenpsychologischen Beobachtungen der Einseitigkeit der Anschauungen in Form einer Aversion gegen das Komplexe, der Erregbarkeit der Massen und ihrer Beeinflussbarkeit durch ihre Führer kommt laut Le Bon beim Parlament noch die Angst vor dem Wahlbürger als zusätzlicher Faktor hinzu. Der sonst bei Massen alles überwältigende Einfluss von Führungspersönlichkeiten, die sich herauskristallisieren, muss im parlamentarischen Alltag stets mit der Angst des Abgeordneten vor dem Bürger in seinem Wahlkreis und seiner künftigen Stimmabgabe konkurrieren.
Auch im Parlamentarismus regieren Führer
Jedoch sei auch im Parlament der Einfluss der Führer bestimmend. Und in der Tat dürfte jeder Leser nur einige wenige Bundestagsabgeordnete aller Parteien kennen, die letztlich die großen Gefechte austragen und den Ton angeben. Die restlichen – es dürften über 600 sein, die keine Führer sind – folgen meist dem Fraktionszwang und treten kaum in Erscheinung. Damit entlarvt Le Bon auch die demokratietheoretische Annahme, die Entscheidungen großer, repräsentativer Gruppen seien tendenziell besser als die kleiner Gruppen, als Schimäre. Die wenigen guten Gesetze, so der notorische Pessimist spöttisch, die von Parlamenten gemacht würden, seien schließlich auch nicht von der Vielzahl der Abgeordneten, sondern von einer Handvoll Fachmänner in Hinterzimmern geschrieben worden.
Zwei Grundprobleme der Demokratie
Trotz allem hält Le Bon die Demokratie für die beste Regierungsform, die existiert. Sie müsse sich lediglich zweier substantieller Gefahren erwehren, die in ihrem Grundwesen angelegt seien: Der Verschwendungssucht und der Eindämmung der Freiheit durch die Parlamente. Erstere sei der Bindung an den Wähler geschuldet: Trotz der zweifelsohne vorhandenen Vernunft der Bürger sind Wahlversprechungen und soziale Wohltaten immer ein unverzichtbares Mittel, um Stimmen zu gewinnen. Auch die Gegenseite will sich nicht lumpen lassen und so streiten meist Steuersenkungsversprechungen gegen Erhöhungsversprechungen bei Sozialleistungen. Nicht selten wird dann von beidem ein bisschen eingelöst und es besteht nicht einmal ein stimmiges Gesamtkonzept.
Le Bon als Liberaler
Auf der anderen Seite suche sich der Staat gerade durch die sozialstaatlichen Versprechungen auch selbstständig immer neue Aufgaben, die den Bürger lästige Eigenverantwortung aber auch Freiheit und Selbstständigkeit kosteten. Dadurch sänken die Widerstandskräfte und letztlich werde der Bürger immer mehr das umsorgte Kind einer Nanny namens Staat. An diesem Punkt angelangt habe die Zivilisation in ihrem Lebenszyklus das Greisenalter, welches der Entartung vorangehe, erreicht, so Le Bon.
Den Lebenszyklus von Völkern stellt er wie folgt dar: Zunächst existiere kein Volk, sondern nur eine Masse von Menschen, die durch sich herauskristallisierende Anführer, Familienbande, Kreuzungen und historische Ereignisse langsam aber sicher ein Gemeinschaftsgefühl entwickle und sich als Volk aus der Barbarei der bloßen Masse erhebe. Dieses Volk suche sich durch lange Kämpfe, innere Streitigkeiten und Debatten letztlich ein abstraktes „Ideal“: Das kann beispielsweise der „American Way of Life“ oder auch die Pharaonen-Herrschaft sein.
Mit der Entdeckung und Verankerung dieses Ideals beginne der Aufstieg eines Volkes – die Entwicklung von Glaube, Kunst, Kultur und der Volksseele. Doch an einem gewissen Punkt stagniere dann eines Tages die Entwicklung und das Ideal verliere an Einfluss. In den USA ist es besonders gut zu bemerken, wo der „American Dream“ längst rissig und spröde geworden ist und das Land seit einigen Jahren wie aus den Fugen gehoben völlig orientierungslos wirkt. In Deutschland dürfte der alte deutsche Geist seit den 68ern zum sinkenden Stern geworden sein.
Nur eine Rückbesinnung kann uns retten
Konsequenz sei, dass sich die Entfaltung des Einzelegos über die des Gemeinschaftsegos erhebe und das Volk sich langsam aber sicher zersetze. Auch der Hedonismus als Phänomen des Individualegoismus sei hier als aktuelles Beispiel genannt. Am Ende steht laut Le Bon der unweigerliche Verlust der Existenz als Volk und letztlich verbleibe nur der Haufen von egoistischen Barbaren, aus dem das Volk einst hervorgegangen sei.
Der Kreislauf könne nun von Neuem beginnen und ein neues Volk entstehen. Einen Ausweg aus diesem Kreislauf zeigt Le Bon nicht auf. Er könnte jedenfalls nur in der Rückbesinnung auf die Identität der Volksgemeinschaft gesehen werden und in der Bekämpfung der individualistischen Bilderstürmerei. Die aktuell beliebte Frage der Zeitgeistjünger, die wohl auf dem besten Weg zurück in die Barbarei sind, was denn eigentlich deutsch sei und wie man es definieren wolle, lässt einem angesichts dieser Thesen Le Bons einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen.
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