„Aufklärung ist kein Erwerb von Schätzen, sondern eine Verschwendung von Dummheit, bis sie nicht mehr für den eigenen Bedarf reicht.“
In der Tat ist es nicht einfach, in der Gegenwart Denker zu finden, die diesen Namen auch verdienen. In der Mehrheit erschöpft sich ihre Aufgabe darin, den theoretischen Überbau der New World Order zu liefern und aggressiver Massenmenschhaltung mit dekonstruktivistischen Geschwurbel den akademischen Anstrich zu verleihen.
Die offenbar seit längerem ausgebliebene morgendliche Masturbation einer Judith Butler oder der adonishafte Drang zur selbstherrlichen Ich-Performance eines schier allwissenden Richard David Precht prägen den philosophischen Pseudodiskurs unserer Tage; jedoch sollte schnell klar werden, daß die verbalen Ausdünstungen, die solcherlei fürstlich alimentierte Schwätzer regelmäßig auf das rotweinbesoffene Bildungsbürgertum ablassen dürfen, nur wenig mehr sind als die legitimierenden Theoreme zu psychosozialen Erkrankungen. Vielmehr lassen sich die Denkfabriken der Gegenwart mit einem Labor vergleichen, in dem aus einem Periodensystem der Elemente die Erreger stinkender Geschwüre entwickelt und von anzugtragenden Assistenten in die Versuchsmenschenmasse eingeimpft werden.
Der Mangel an überhaupt diskursfähigen Positionen erklärt sich also daraus, daß die geisteswissenschaftlichen Thinktanks eigentlich nichts weiter sollen (!) als Erklärungen für gesellschaftlich gewollte Prozesse unter dem Deckmäntelchen wissenschaftlicher Philosophie zu produzieren (!), ihre Gleichschaltung also das exakte Gegenteil des von ihnen so gern postulierten herrschaftsfreien Dialogs ist. Daraus folgt vor allem für diejenigen, die eine Gegenposition zur vorherrschenden einzunehmen versuchen, sich zumeist auf Theoretiker vergangener Zeiten berufen und oftmals Schriften aus einer Zeit bemühen, deren Inhalt noch womöglich nachvollziehbar und bloß aufgrund seiner chronologischen Distanz zum Jetzt nicht minder falsch sein muß, in den wenigsten Fällen aber konkret auf die Herausforderungen der Gegenwart anwendbar ist.
Moderne Modernismuskritik
Zweifelsohne haben die Vordenker der Konservativen Revolution einen unersetzbaren Beitrag zur später auch von der marxistisch inspirierten wie faschistischen oder anarchistisch motivierten Modernismuskritik geliefert; schwer aber nur lassen sich ihre Positionen überhaupt noch aufgreifen, ohne nur für eine spezielle kleine Gruppe ihrer Anhänger faßbar zu sein. Zweifelsohne haben auch Intellektuelle wie der Spanier Ortega y Gasset oder der kolumbianische Philosoph Nicolås Gomez Davila einen wertvollen Beitrag zur Wiedereinbringung nicht-weltlicher Ebenen geleistet, ebenso der britische Sozialwissenschaftler Anthony Giddens, der in „Konsequenzen der Moderne“ stocknüchterndie Auswirkungen des Fortschritts seziert. Nicht weniger nennenswert sollen auch Martin Heidegger und Ernst Jünger sein, letzterer insbesondere mit seinem „Waldgang“ auch in ganz praktischer Natur, aber es bleibt bei gegenwärtiger Anwendung notwendigerweise bei allen immer noch der Hauch eines rückwärtsgewandten Apologeten des konkreten Fortschrittsverlierers.
Positiv aus dem Stall der Gegenwartstheoretiker sticht der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hervor. Der eigenwillige Vielschreiber hat mit Arbeiten wie „Weltfremdheit“, „Zorn und Zeit“ oder auch seinem schmalen aber fulminanten Essay „Die Verachtung der Massen“ wichtige Beiträge über, gegen oder aus dem Zeitgeist gebracht. zuletzt mit „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ eine Breitseite gegen Liberalismus, traditionslose Amerikanisierung und förmliche Verhausschweinung des modernen Menschen geschossen.
Kritiker sehen in Sloterdijk einen Schwätzer, der vor allem sich selbst gern reden hört; zugegebenermaßen ist er kein Autor, der „easy reading“ verspricht, er fordert eine gewisse Aufmerksamkeit des Lesers. Er kann geradezu prosaisch fabulieren, seine Leidenschaft zum Erzählen drückt sich in jeder Zeile aus, der Klang der Worte ist ihm genauso wichtig wie ihre Botschaft. Sloterdijk hat den Anspruch, möglichst genau zu arbeiten und beleuchtet wirklich jedes kleinste Detail in verschachtelten Abschweifungen, dazu neigt er zu Latinisierungen und Fremdwörtern, die seine Lektüre nicht immer einfach und den Vorwurf der Selbstinszenierung des arroganten Elfenbeintürmers durchaus verständlich machen. Andererseits aber macht gerade seine Lust am Detail und seine spürbare Freude am Schreiben seine Texte zu einer eben nicht nur hochintellektuellen, sondern auch in höchsten Maße vergnüglichen Lektüre.
Selber durch eine schwierige Kindheit gegangen, zwischen den Zwängen der „Gluckenmutti“ und dem „lieben fernen Papa mit den Seemannstätowierungen auf den ungeheuer starken Armen“ brach der Philosoph bereits in frühen Jahren mit seiner Vergangenheit und machte sich auf die Suche nach dem eigenen, aber auch dem kollektiven Wesen der abendländischen Identität. Von Linken stets durch seine messerscharfen Traktate gegen Habermas, die Frankfurter Schule und die Vermassung des „Menschenstalls“ verhaßt, bekam er auch bei Konservativen durch arrogante Pöbeleien und öffentliche Brüskierungen keinen Fuß auf den Boden. Gerade aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Schwebezustands lohnt es sich besonders sein Frühwerk unter ideengeschichtlichen Aspekten der Gegenwart kritisch zu studieren.
Abwendung von der Gegenwart zur Abwendung des Scheußlichen
Entgegen der Vermutung soll nicht etwa „Die Verachtung der Massen“ als wichtigste Grundlage zur Stütze gegenwärtiger Metapolitik näher betrachtet sein, sondern sein weniger beachteter Band „Weltfremdheit“. Weniger als konkrete Anleitung wie Jüngers „Waldgang“ konzipiert, legt Sloterdijk in „Weltfremdheit“ von frühester Kulturgeschichte an, wenngleich nicht so ausufernd wie in „Sphären“, die Motivationen zur Abkehr von der Welt dar.
Wenn wir uns die Welt, in der wir sind, unseren Idealen folgend als die scheußlichste aller denkbaren Scheußlichkeiten vorstellen, dann fassen wir uns ein Herz und das Kultbuch rechtsintellektueller Pfadsucher, Ernst Jüngers „Waldgang“. Dessen Überlegungen zur Systemflucht sind zunächst praktischer Natur und gewinnen, unter dieser Prämisse gelesen, mit Sloterdijks „Weltfremdheit“ ein metapolitisches Fundament zeitgenössischer Philosophie. Fremd ist uns die Welt, weil wir ihren Anforderungen nicht entsprechen wollen oder können. Vice versa gilt dasselbe; als Fremdkörper werden wir von der Welt wahrgenommen und abgestoßen, als Störenfriede, die unterworfen gehören oder bestenfalls (schlimmstenfalls?) ignoriert. Am Scheideweg nach der Selbsterkenntnis der Scheußlichkeit stehen wir zwischen „futuristischem Utopismus“ und den „depressiven Formen des Lebens in der Zeit“. Auf dem wenngleich überholten politischen Spektrum beobachten wir auf der Linken den euphorischen Sturz in traumtänzerischen Utopismus, zur Rechten dagegen die zumeist weinerliche Beschreitung des zweiten Weges ins Jammertal konservativer Unzufriedenheit. Die Auswege nach innen oder in die Zeit vorwärts hinein sind jedoch nur die Horizontalen menschlicher Weltflucht.
„Der Mensch in der Revolte bleibt die Ausnahme“ stellt Sloterdijk folgerichtig fest und skizziert die Majorität als Patienten, als Kranke, die gelernt haben mit der Krankheit Scheußlichkeit zu leben. Sloterdijk entwickelt eine Ontologie der Selbsterhärtung des Seins in widrigen Welten, dessen Konsequenz sich bei Mißerfolg in Depressionen äußert: „Depressiv wird, wer Gewichte trägt, ohne zu wissen wozu.“ Nicht ohne Grund steigt die Zahl der psychischen Erkrankungen mit zunehmender Belastung durch den Zwang der alltäglichen Selbsterhaltung und zeitgleich äquivalent sinkender Sinnerkenntnis des routinierten Tuns. Genau dieses sich darin bergende Potenzial des Depressiven aber bildet die Grundlage zum Waldgang; die Unzufriedenheit mit dem Dasein als seinsbestimmendes Element des Wesens setzt entweder die Erkenntnis der Scheußlichkeit voraus oder zieht sie nach sich. Der postmoderne homo patiens als mit der Welt Überforderter ist also nichts mehr als ein mißlungener Revolutionär.
Gegen die Welt, gegen ihren Totalitarismus
Revolte soll im Zusammenhang des In-der-Welt-Seins aber keinesfalls nur als Aufbegehren gegen die Welt verstanden werden, sondern vollzieht sich zumeist vor allem aufgrund des zu erwartenden Mißerfolgs gegen die Welt als stille Revolte aus der Welt. Besonders spannend und zum weiteren Verständnis unabdingbar ist dabei der kulturhistorische Abriß der Weltabgewandheit der frühen Mönche und die daraus folgende ideengeschichtliche Herleitung der Sucht als Krankheit. Zunächst unzusammenhängende Probleme werden spätestens nach dem Kapitel „Das Prinzip Wüste“ zu einem klaren Kreis. Sloterdijk sieht im spätantiken Aufkeimen des Mönchtums die „rationale Organisierung der Probleme“, die aus dem recht schnell hereinbrechenden Gesellschaftswandel resultieren, und adaptiert diese in die Gegenwart, wo der Workaholic genauso wie der Karrierist und der Suchtkranke zu einem weltflüchtigen Einsiedler abzüglich religiöser Motivation wird. Das Problem Gegenwart wird statt transzendental weltimmanent zu lösen versucht; diejenigen Probleme, die das Individuum mit seinem In-der-Welt-Sein erfährt, sucht es durch Alternativprobleme aus der selben Welt zu lindern, nachdem ihm die Moderne alternative Ebenen der Weltabgewandtheit genommen hat. Die stetige Suche nach einer möglichst individualisiert erfahrbaren als auch möglichst weit im schwammigen Kosmos des sogenannten Jenseits beziehungsweise vielmehr einer individuell erdachten Form eines Jenseits schließt den Kreis zwischen den zunächst widersprüchlichen aber doch kohärenten Vorgängen der Säkularisierung, Spiritualisierung und Suchterkrankungen.
Revolte gegen die Zumutung
„In der Sucht begegnet uns eine individualisierte, das heißt vom Mitwissen der Kulturmitglieder abgespaltene Revolte gegen die Zumutung des Daseins“, woraus Sloterdijk die Konsequenz zieht, daß die Süchtigen „zu souverän sind, um sich die Plumpheit des Daseins zumuten zu lassen“. Nach Sloterdijk ist also der entspiritualisierte Mensch eine notwendige Folge aus dem regelrechten Totalitarismus Freiheit, der dem geistig-seelisch vollkommen unterforderten Individuum keinen anderen Weg zur Inexistenz läßt als der Weltflucht im Inneren durch das Äußere. Die unbefriedigte Sehnsucht nach Welten jenseits der alltäglichen Wahrnehmung des Immergleichen, die Suche nach einem unökonomischen Erleben des Ichs gestatten ihm das Entrinnen aus der Sklaverei des Selbsterhaltungstriebes. Die vom Ritual losgelöste Sucht bedeutet ein pseudometaphysisches Experiment unter dem Wunsch, das Zwangskontinuum einer schlechten Realität unterbrechen zu können und projiziert gleichzeitig den Wunsch nach zumindest zeitweiser Erlösung daraus.
Die kulturelle Verwurzelung der Erlösungsreligionen verankerte schon früh den Gedanken der Weltabgewandtheit in manifestierter Form; einer „heiligen Verneinung, die sich vom Trug des profanen Daseins abzustoßen versucht.“ Erst durch diesen metaphysischen Bezug zu einer Welt jenseits der als real erlebten macht sich der Suchende daran, diese Welt als eine in ihren Grundfesten schon als falsch erlebte zu entkräften: „Wer mit dem Erlösungsfeuer spielt, steht immer in der Versuchung dem Weltgebäude den Rücken zu kehren und es seinem Ruin zu überlassen – die Apokalyptik geht sogar so weit, seine Zerstörung herbeizupredigen und es, wenn es möglich wäre, von eigener Hand in Brand zu setzen.“
Die Herausarbeitung der Sucht als weltimmanentes Mittel zur Weltflucht nimmt im anthropologischen Exkurs zur Dialektik von Weltflucht und –sucht den Löwenanteil ein. War der Gebrauch von dem, was man heute Drogen nennt, in vormoderner Zeit einer Klerikerkaste vorbehalten oder war es ein gemeinsames Ritual religiöser Bewandtnis, so transformierte die Säkularisierung den Gebrauch in einen Mißbrauch und projizierte die jeweiligen kulturellen Sakrilege als Wesensumkehr des Konsumenten in die Droge. Interessant ist dabei die Feststellung, daß im Islam Alkohol verboten, der Haschischkonsum dagegen erlaubt ist, was in christlich-heidnisch geprägten Kulturen genau anders herum ist. Die Wirkung der Droge spült also das jeweils durch die jeweilige Kultur verschmäht-unterdrückte Wesenselement an die Oberfläche, ohne aber dabei das konkrete Ziel spiritueller Bewußtseinserweiterung zu haben. Sloterdijk spannt einen leicht nachvollziehbaren und vor allem im alltäglichen Erleben allseits bekannten Bogen vom Gebrauch über den Mißbrauch bis hin zur Sucht, die alles zur Droge werden lassen kann.
Gefängnis Gegenwart
Die Droge als Weltflucht – unter der in moderner Interpretation zugleich Daseinsflucht verstanden werden kann – analysiert er treffend als wechselseitigen Entzug aus dem Alltag durch die Flucht in diesen hinein wie nicht minder exzessiv aus ihm hinaus. Nur allzu bekannt ist die förmliche Sucht nach Fleiß, nach Arbeit und Studium mit ihrem Derivat der wochenendlichen Sauf- und Sex-Orgien. Wozu also soll man sein Dasein als da sein, als In- der-Welt-Sein begreifen, wenn man die Welt als Mittel gegen sie selbst und das In-ihr-Sein einsetzen kann?
Die Herleitung vom einst rituell-religiösen pharmazeutischen Eskapismus in den Wechsel zwischen zwei nicht am Wesen, sondern am bloßen Sein orientierten Süchten ist nur die Ablösung des religiösen Erlösungsgedankens an einen weltlichen, in dem die Erlösung nicht mehr im Wesen des Suchenden, nicht mehr im Kosmos außerweltlicher Kräfte und Energien, sondern in der Welt selbst, der man mit ihr grundimmanent innewohnenden Optionen wiederum zu entfliehen versucht. Richtig erkannt und so klar in ihrer Kritik an der pseudospirituellen und wesenlosen Seinsform der Moderne ist der Fluchtversuch mit Hilfsmitteln aus dem Gefängnis Gegenwart der „Ernstfall der Privatreligion“.
Die Leere der Freiheit
In seinem opus magnum „Sphären“ knüpft Sloterdijk an diesen philosophischen Topos an, nach dem der Mensch immer auf der Suche nach seiner verlorenen Hälfte sei, auf dieser er sich stets in unterentwickelten, weil zumeist weltlichen, sprich aus seiner ihm vertrauten Hälfte stammenden Ergänzungserfahrungen übt. Drogen, genauso aber wie Arbeit, Sekten oder deren Derivate auf der leeren Innenseite bürgerlicher Selbstrepräsentation entsprechen solchen Ergänzungsversuchen, die Sloterdijk als „Schäume“ bezeichnet, die aber zugleich das Einheitsdenken überwinden, indem sie die Vielheit der Eigenwelten eines jeden Einzelnen ausdrücken. Im Medium der modernen Sozialarchitektur werde nämlich explizit, wie der Mensch heute in der Welt ist: nicht mehr in einer metaphysischen Einheitssphäre, nicht mehr in eine Kollektivunternehmung eingespannt, sondern als “koisolierte Existenz”. Einzelne zelluläre Weltblasen sozusagen, die sich über unterschiedliche Medien wie Massenmedien und Marktbeziehungen integrieren und strukturell zu Schaum verdichten. Zugleich aber ist nur wenig einheitlicher und über einen Kamm scherbarer, als der zusammenhanglose kollektive Zwang zum Individualismus, was als Phänomen die Überwindung des Einheitsdenkens wiederum ad absurdum führt. Die Wahrnehmung des Einzelnen als Subjekt führte zum Umbau der Gemeinschaft in die Gesellschaft, die wiederum durch die fortgeschrittene Subjektivierung ihrer Individuen die Objektivierung des Ganzen zur Folge hatte: Die Masse einzelner frei entscheidender Ichs wird also zu einem kollektiv funktionierenden Menschenschaum aus den Simulacren subjektiver Freiheit. Moderne Gesellschaften funktionieren als jeweils individuelle Reproduktion von Vielheiten, deren Resultat eine pluralistische Ontologie von Einzelumwelten ist – Schaum eben.
Sloterdijks Sphärologie mündet in einem gepfefferten Traktat gegen das „Verwöhnungstreibhaus“, das die Wohlstandsgesellschaft sich als „riesigen Brutkasten für die allumfassend abgesicherte Existenz“ errichtet hat. Mit dabei ist eine unterschwellige aber nicht minder eindeutige Kritik an der Denkweise der Frankfurter Schule: Seitdem wirkliche Armut und Not in unserer Kultur eher die Ausnahme geworden sind, täten sich Gesellschaftskritiker zunehmend schwer als „Anwalt des Realen“ aufzutreten, sondern ordnen die Realität vielmehr ihrer Theorie unter. Wenn nicht sein kann, was nicht sein darf, rückt die – eine der berühmten Sloterdijk’schen Wortneuschöpfungen – „Luxusviktimologie“ in den Mittelpunkt, gipfelnd in Toleranzexzesse, Kampf gegen Rechts und den saturierten Wutbürger und deren kuriose Formen der „Absicherung des Wohlbefindens“ auf Kosten direkter menschlicher Solidarität; ein Anspruchsdenken, das aus dem Verschwinden realer und organischer Sozialumgebungen resultiert. Kurz gesagt: Solange er noch zu fressen und zu ficken hat, wird der konsumverwahrloste Gegenwartsmensch aus seiner Schaumblase nur selten hervorlugen, ohne Sloterdijk Marinettis utopische Dystopie vom reinigenden Krieg unterstellen zu wollen.
Gleichheit als Herrschaftsinstrument
Diesen Gedanken unterzieht Sloterdijk in „Die Verachtung der Massen“ seiner anthropophilosophischen Untersuchung, wenn er die Prämisse moderner Staatsführungen beschreibt, sowohl in der nationalistischen als auch der „alternativlosen sozialdemokratischen“ Ausprägung, daß alle Macht nicht mehr von den durch Geburt oder Befähigung Qualifizierten sondern von den Vielen ausgehe. Mit Elias Canetti steht gleich zu Anfang sein weiterer Kurs fest: Wohin der Weg führt, weiß die Masse nicht, es ist ihr auch egal. Ziel ist, möglichst schnell dorthin zu gelangen, wo die meisten bereits schon sind. In diesem Ausdruck kollabiert die demokratieromantische Vision beziehungsweise das demokratische Ideal vom kollektiven Subjekt, das weiß, was es will.
Bezugnehmend auf Canetti verleiht die distanzlose Nähe der Einzelnen in der Masse, in der alle Unterschiede schwinden – „alle Trennungen abgeworfen sind“ – Sloterdijks Schaummetaphorik ganz besonderen Nachdruck. So denkt die Massensoziologie den Gedanken der Gleichheit Aller eben nicht von der Voraussetzung der Gleichberechtigung her, sondern vom „gleichzeitigen Sichgehenlassen“. Selten nur hat ein populärtauglicher Intellektueller die Falschheit, die Verlogenheit und die Perfidität der ständigen Gleichheitsmantras präziser unter Feuer genommen! Nun stammt Canettis Untersuchung der Massen aus einer Zeit, als diese sich noch wirklich physisch versammelten; der Sog, die „Menschenschwärze“ ist haptisch erlebbar gewesen. Der „Massenindividualismus“ der Postmoderne dagegen fußt auf der „lonely crowd“, der individuellen Masse ohne sie als Einzelner als solche erfahren zu müssen, sondern als jeweils Einzelner wie Millionen jeweils andere Einzelne auch durch Medien, Diskurse oder Popkulturphänomene eine Masse zu bilden, die dadurch als Ansammlung vieler Subjekte zum Objekt selbst wird – zum „Rohstoff totalitärer und medialer Herrschaft“. Die simple Steuerbarkeit der sich als frei fühlenden Massen setzt Sloterdijk im seinem winzigen Essay „Letzte Ausfahrt Empörung“ mit dem römischen Brot-und-Spiele-System gleich; noch unverhohlener hat durch „eine Junta von imperialen Berufspolitikern“ das Feld übernommen.
Ekel vor der Vernunft
Die „unversammelbare und unversammelte Masse“ der Postmoderne hat also keinen gemeinsamen Aufschrei mehr, keine Marschrichtung, sondern versammelt sich im Virtuellen oder im wiedergekäuten Konsum, dessen Offerten bereits durch den Pansen der steuernden Eliten vorverdaut worden sind, und macht sich somit nicht nur anfällig für Manipulation, sondern regelrecht führbar wie eine abgerichtete Herde, eine „Masse ohne Potenzial“.
In seinem jüngsten Opus „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ analysiert der Philosoph diese planmäßige Entwicklung weiter und kreiert einen westlichen Universalismus des Nichts-Seins. Europa als jahrhundertelang tonangebender Kontinent ist überflügelt worden von einer „amerikanischen Filial-Kultur“, die sich unter den ökonomischen Tarnkappen blutleerer Mantras, wie Freiheit und Demokratie, wie ein giftiger Oktopus über den Planeten spinnt und außer wirtschaftlicher Urbarkeit verschiedener Böden lediglich das Erbe weitergibt, das Sloterdijk aus „multikulturellem Kapitalismus oder gemeinschaftlichem Individualismus“, aus „globalem Nationalismus und globalem Nomadentum“ erwachsen gesehen hat, die schlußendlich zum „Scheitern Europas“ geführt und dieses in einen amerikanischen Satelliten transformiert haben. Das daraus wuchernde Erbe sei das Paradoxon kein Erbe zu haben; verspritzt in alle Welt werden marionettenhafte Menschlinge gezüchtet, gleichgeschaltet im „Bastardentum ihrer Hybrid-Identität.“
Wären nur alle an ihrer Stelle geblieben, so Sloterdijk, den der SPIEGEL „einen Freiheitsfeind in deutscher Tradition“ nennt, hätten sich nur alle an den – im Zweifelsfall göttlichen – Plan gehalten, wäre nur, das ist das ultimative Klischee jedes ernsthaften Reaktionärs, die verdammte französische Revolution nicht gewesen, die alles durcheinanderbrachte, weil sie dem Menschen den Kopf verdrehte und ihm suggerierte, er habe bestimmte Rechte, die ihm niemand verweigern dürfe – dann wäre die Welt heute nicht so knietief im Desaster. “Wir sind Vertriebene, fast von Anfang an”, schreibt Sloterdijk. “Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier, in der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben.” Die Freiheit also – oder: “Freiheit”, wie er es nennt – ist das Problem; sie ist das Exil, in die Freiheit sind wir “Geworfene”, wie Sloterdijk es mit Heidegger hält, schuldig sind “die Modernen”, unwürdig und illegitim: Niemand hat es je gewagt mit solch radikaler antiuniversalistischer Radikalität gegen die geifernde Götzin „Demokratie“ und ihre pervertierten Scheußlichkeiten anzugehen, niemand je gewagt, ihr schlichtweg jedwede Legitimität abzusprechen oder wie er bereits in „Sphären“ schreibt: “Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.”
Obgleich sich der „philosophierende Schriftsteller“, wie sich Sloterdijk selbst gern nennt, politisch nicht positioniert und erst recht nicht vor den Karren spannen lassen will, so wächst gerade deshalb aus der Lektüre seiner Texte ein hochspannender Unterbau metapolitischer Feldforschung und Theoriebildung. Seine Kritik der Masse, ihrer Phänomenologie, ja der gesamten so verhaßten Gegenwart läßt sich genauso reaktionär wie progressiv lesen, wie Granaten schlagen sie bei Linken ein wie bei Bürgerlichen, die Glockenschläge eines hochnäsigen Elfenbeintürmers.