mardi, 21 décembre 2010
Der Monismus und Bruno Wille
Der Monismus und Bruno Wille
von Erik Lehnert (Friedrichshagen)
Ex: http://www;friedrichshagener-dichterkreis.de/
Man muß es so hart sagen: Bruno Wille war weder ein originärer Denker noch ein Philosoph. Damit könnten seine Veröffentlichungen beiseite gelegt und die Person den Lokalhistorikern überlassen werden. Aber die Beschäftigung mit dem Denken Willes ist trotz alledem aufschlußreich. Was seine Schriften erinnernswert macht, ist die Tatsache, daß sie an den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Zeit teilgenommen und so den Zeitgeist gleichzeitig reflektiert, mitgeformt und bekämpft haben. Dabei war Wille Teil einer zeitbedingten Denkströmung, die sich, trotz "fortschrittlicher" Gesinnung, dem Materialismus der Zeit entgegenstellte, wenn auch oft mit zweifelhaften Positionen und Erfolgen. Wille läßt sich aber in einen ewigen Zusammenhang der Philosophie bringen. Er gehört, wenn auch lediglich rezipierend, zu den Bemühungen um eine einheitliche Weltanschauung, die das Denken von Anfang an begleiteten.
Der Monismus ist eines von jenen Schlagwörtern, denen keine eindeutige Definition mehr zukommt, die im Laufe ihrer Begriffsgeschichte manigfaltige Umdeutungen ertragen haben, die sie heute nicht mehr ohne weiteres anwendbar machen. Das griechische "monon", das Eine, ist die Wurzel des Monismus, das durch die Erweiterung zu einem "Ismus" den Charakter einer Lehre von der Einheit bekommt. Bei vielen "primitiven Kulturen" ist die Wahrnehmung monistisch: die Welt ist von Kräften regiert, denen alles unterworfen ist. Auch der Brahmanismus und der Taoismus sind von einem metaphysischen Monismus bestimmt. Das philosophische Ringen um eine solche Weltanschauung ist als Gegenstück und Ergänzung zum Dualismus ebenso alt wie die Philosophie selbst, der Begriff hingegen ist ein Kind der Aufklärung. Beide kommen menschlichen Grundbedürfnissen nach: Der Leib/Seele und Gott/Welt Dualismus ist die Folge des menschlichen Erwachsens aus seinem unbewußten Einssein mit Gott und der Welt (Sokrates). Seit dieser Erkenntnis ist das Gebot und Bestreben in der Welt, hinter der Vielheit die Einheit zu erkennnen (Platon). Der Monismus trägt der Tatsache Rechnung, daß das im Dualismus getrennte von einem einheitlichen verbindenden Prinzip regiert wird, das überhaupt erst die Wahrnehmung der Gegensätze begründet. "Der Dualismus ist eine psychologische Tatsache, aber der Monismus ist sein zureichender Grund. Der Dualismus ist nach alledem nur das vorletzte, der Monismus aber ist das letzte Wort der Philosophie." (Ludwig Stein) Der Begriff "Monismus" ist nicht zuletzt deshalb so belastet, weil seine erste Verwendung (in der Schulphilosophie Chr. Wolffs) in ablehnender Form erfolgte. Monisten sind danach Anhänger der Lehre, die besagt, daß nur eine Grundsubstanz, beispielsweise die Materie, existiert und die restlichen Erscheinungen bedingt. Als Monismus werden deshalb vereinfachend so unterschiedliche Anschauungen wie Materialismus und Idealismus bezeichnet, da beide die Welt aus einem Prinzip erklären. Eine weitere Abwertung erfuhr der philosophische Begriff durch die Verwendung bei Ernst Häckel, der ihn zu einem einseitigen Kampfbegriff popularisierte, um seine diesseitige, materialistisch-naturwissenschaftliche Weltanschauung zu verbreiten. Im "Deutschen Monistenbund" versammelten sich diejenigen, die die Materie oder die Energie (bzw. die Kraft) als die eine grundlegende Substanz ansahen. Seitdem ist der Begriff nicht mehr ohne umständliche Erläuterungen zu gebrauchen. Aber er zeigt beispielhaft ein menschliches Grundbedürfnis: die Gegensätze durch einen oftmals fragwürdigen, und nur selten "goldenen" Mittelweg zu überwinden. Insbesondere über die Problemlage der Jahrhundertwende im weitesten Sinne kann er uns Auskunft geben. Es gab ja nicht nur den Häckelschen Monismus, d.h. den wissenschaftlichen Materialismus. Der Begriff wurde in zahlreichen Ausdeutungen und Neudefinitionen zum Gegenstand des denkerischen Diskurses des Kaiserreichs. Es erschienen unzählige Bücher zum Thema: von Rosenthal "Die monistische Philosophie" (1880) bis Seidel "Das Wesen des Monismus" (1920). Einen Höhepunkt an wissenschaftlicher Intensität wie auch übler Polemik erlebte die Diskussion allerdings erst, nachdem Häckel den Begriff für sich entdeckt hatte - nun wurde die Geschichte des Monismus erforscht und seine zeitgenössischen Vertreter zu Wort gebeten, so daß sich scheinbar mehr als 16 verschiedene Arten des Monismus unterscheiden ließen. In der 1892 erstmals veröffentlichten und bis 1929 in 42 Auflagen verbreiteten "Einleitung in die Philosophie" von dem Berliner Philosophie-Professor Friedrich Paulsen heißt es: "Die Anschauung, der nach meiner Ansicht die Entwicklung des philosophischen Denkens zustrebt, die Richtung, in der die Wahrheit liegt, bezeichne ich mit dem Namen des idealistischen Monismus." Dieser soll die religiöse Weltanschauung (supranaturalistischen Dualismus) und die wissenschaftliche Naturerklärung (atomistischer Materialismus) einander verträglich machen.
Diesem Bemühen hat sich auch Bruno Wille angeschlossen, der dieses Modewort wohl zunächst, durch seinen Freund Bölsche vermittelt, von Häckel übernahm, es aber anders verwendete. Zuvor jedoch promovierte sich Wille nach einem Studium der Philosophie und Theologie 1888 über den "Phänomenalismus des Thomas Hobbes", einer besseren Hauptseminararbeit, und war seitdem als freier Schriftsteller tätig, dessen lyrisches und belletristisches Schaffen nicht ohne Grund vergessen ist. Sein organisatorisches Talent auf kulturellem und sozialpolitischem Gebiet ist hingegen unbestritten. Philosophie im akademischen Sinne hat Wille nicht betrieben, ihm ging es um Moral und Ethik, um eine Weltanschauung für den Menschen des Fortschrittzeitalters. Die Ansichten und Themen Willes variieren deshalb im Laufe seiner Publikationstätigkeit nur wenig. Die Situation seiner Zeit hatte Wille, wie im Grunde auch Häckel (dessen Schluß allerdings darin bestand, den Glauben an etwas Transzendentes ganz abzulehnen), erkannt: die Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften machten die christliche Religion scheinbar überflüssig, die Religion durfte keine eigene Geltungsebene mehr beanspruchen - es schien, als könne der Mensch sich selbst erlösen. Damit ging ein geistig-moralischer Verfall einher, die christliche Religion wurde als Heuchelei um der Konventionen Willen aufrechterhalten: man gab vor, an Erlösung und die zehn Gebote zu glauben und fand (und findet) doch im täglichen Leben genügend spitzfindige Ausreden. Die Religion befand sich also im Umbruch. Die Kirche konnte den Kampf gegen diesen Atheismus in den Augen der sozialreformerisch orientierten Vordenker nicht wirkungsvoll genug führen, so daß sich eine außerkirchliche Religiösität organisierte, zu der sich auch Wille zählte. Seine Beschäftigung mit religiösen Themen fand u.a. Ausdruck in seiner Tätigkeit als Lehrer und Sprecher der freireligiösen Gemeinde in Berlin. (Da wundert es einen auch nicht mehr, daß Wille Bruder der Loge "Zur aufgehenden Sonne" und Haupt einer "Allgemeinde" war.) Der theoretische Schluß aus der aktuellen Situation heraus war für Wille, da eine Ethik/Moral naturalistisch schwer zu begründen ist, vor allem die christliche Religion ihrer Besonderheit, der Erlöser und Herr Jesus Christus, zu berauben, um so einen vernüftigen Glauben zu erhalten: eine für jedermann verständliche Universalreligion, die die scheinbaren Unterschiede der Religionen überwindet und so das Menschengeschlecht beglückt. Vorbild hierfür ist indirekt der "Positivistische Katechismus" Auguste Comtes aus dem Jahre 1852 (und natürlich der Kult des "Höchsten Wesens" in der französischen Revolution). In Anlehnung an D.F. Strauß erklärt Wille die Evangelienberichte über Jesus zu Mythendichtungen. Jesus ist nur noch ein Gleichnis für das sittliche Streben des Menschen. In der monistischen Neulektüre der Bibel wird das Christentum zur Tradition, christliche Rituale und Symbole zu allgemein-menschheitlichen Mythen und Ideen. Auch aus der deutschen Mystik, insbesondere von Jakob Böhme, nimmt Wille das Material für seine Bemühungen. Man fühlt sich dabei zuweilen an die moderne Esoterik erinnert, die Mystik als eine esoterische Disziplin versteht, und dabei vergißt, daß das Ablegen der Selbstvergottung, durch das der Mensch erst in der Lage ist, Gott zu erkennen, das Wesen der Mystik ist ("Cogitor, ergo sum." Ich werde -von Gott- erkannt, deshalb bin ich. Franz v. Baader), und nicht eine Selbsterkenntnis oder ein sich Gehenlassen und "Einsfühlen" mit den Elementen. (Auch nicht "Teetrinken", wie es in unserem letzten Heft hieß.) Jesus hatte gesagt: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." (Joh 8,32) In der "Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel", Willes Auseinandersetzung mit Nietzsche und Stirner, heißt es programmatisch: "ein Jeder erarbeite mit Eifer seine eigene Erlösung". Der Übermensch Nietzsches wird zum freien Vernunftmenschen und Stirners Solipsismus hält Wille die "Menschheit" als moralische Kategorie entgegen. Eine merkwürdige Nähe Willes zu den nordamerikanischen "pragmatischen Idealisten" Emerson und Trine, bei denen insbesondere letztgenannter den Pantheismus als Universalreligion zur Selbsterlösung des Menschen predigte, zeichnet sich dort ab. Mit der Feststellung, daß "unsere Erlösung durch den Stellvertreter ... eigentlich unsere Selbsterlösung, wenn diese auch durch Christus bedingt wird" bedeute, kann Wille seine Nähe zum Buddhismus, der ja keine Erlösung in unserem christlichen Sinne kennt, nicht verleugnen. Ebenso ist Willes Abneigung gegen die Geheimlehre Helena Blavatskys, nur aus seiner unbewußten Nähe zu dieser zu verstehen. Sie propagierte eine innere Einheit der Religionen und ein monistisches Gott-Welt-Verständnis, konnte aber die Berechtigung der Naturwissenschaften nicht anerkennen. Willes Motto für seine Spielart des Monismus lautet im postum veröffentlichten Spätwerk "Der Ewige und seine Masken": "Im Ewigen verschmelzen alle Besonderheiten, Bestimmungen und Gegensätze zum Ganzen." Also eher ein Monopluralismus. Zunächst aber erhob Wille die Forderung Goethes "Materie nie ohne Geist" zum Programm, das als Selbstverständnis seiner Weltanschauung im "faustischen Monismus" gipfelt, um sich von den materialistischen Monisten zu unterscheiden, die auch Wille sehr schön als metaphysische Nihilisten entlarvt. "Faustischer Monismus" bedeutet praktisch, in Vorwegnahme der "faustischen Kultur" Spenglers, daß sich "dieser Gottmensch durch die Hingabe des männlichen Tatendranges...an das Reich der ewigen Werte" zeugt. Ein weiterer geistiger Vater, auf den sich Wille offen bezieht, ist Fechner, der als Begründer der Psychophysik, einer exakten Lehre der Abhängigkeiten zwischen Körper und Seele, den Weg für einen zumindest relativen Dualismus und damit relativen Monismus ebnete. "Ich sehe keinen andern Ausweg...als die ausnahmslos psycho-physische Deutung der Natur", sagt Wille deshalb gegen Häckel und dessen Verehrer. Wille hatte erkannt: um Monist sein zu können, muß man Metaphysiker sein, der "Materialismus ist philosophische Gedankenschwäche" (O. Spann). Vorbild wird deshalb auch die Philosophie Brunos, der einen monistischen Pantheismus lehrte, aber an der Transzendenz Gottes festhielt. Der "Giordano-Bruno-Bund" (1900-1908) war das Organisationsforum der idealistischen Monisten, die, um Einigung bemüht, "Naturwissenschaft, Philosophie, Kunst und Andacht harmonisch zusammmenschließen" wollten.
Die monistisch-pantheistische Frömmigkeit die Wille uns zeigt, ist ein ästhetisch geprägter Synkretismus, der Basis für eine einheitliche Ethik sein soll. Das ist problematisch und hat sich nicht in der Lage gezeigt, den Siegeszug des Materialismus aufzuhalten. Man wollte Religion, ohne konservativ oder gar reaktionär zu sein, das war das eigentliche Dilemma. Die Beweggründe, zu solch einer Weltanschauung zu gelangen, sind edler Natur. Es ist das Bestreben, die Entfremdung zwischen Religion und Kultur zu überwinden. Dabei fällt die alte Weisheit, daß der Mensch die Rolle eines "Mitstreiters, ja Mitwirkers Gottes" (Scheler) übernehmen muß, neu auf. Die Einheit ist also noch nicht da, sie muß erst errungen werden. Hegel: "Erst das Christentum hat durch die Lehre von der Menschwerdung Gottes und von der Gegenwart des Heiligen Geistes in der gläubigen Gemeinde dem menschlichen Bewußtsein eine vollkommen freie Beziehung zum Unendlichen gegeben und dadurch die begreifende Erkenntnis des Geistes in seiner absoluten Unendlichkeit möglich gemacht. Nur eine solche Erkenntnis verdient fortan den Namen einer philosophischen Betrachtung." Kierkegaard: "1800 Jahre ist es her, daß Christus lebte, er ist also vergessen / nur seine Lehre besteht: ja das heißt, man hat das Christentum abgeschafft."
Anmerkung: Das hier aus Platzgründen nur angerissene Thema soll in einem Vortrag im "Kulturhistorischen Verein Friedrichshagen" voraussichtlich im Oktober 1999 ausführlicher besprochen werden.
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lundi, 20 décembre 2010
Bruno Wille und die Freidenkerbewegung
Bruno Wille und die Freidenkerbewegung*
von Erik Lehnert (Friedrichshagen)
Ex: http://www.friedrichshagener-dichterkreis.de/
Das Freidenkertum entstand im 17. Jahrhundert in England und gelangte im Laufe des 18. Jahrhunderts auf den europäischen Kontinent, v. a. nach Frankreich. Das ursprüngliche Ziel der Bewegung war die Religionsfreiheit. Das "freie Denken" sollte die Evidenz aller Gegenstände aus der Sache ableiten, nicht aus der Autorität. Erst im "eigentümlichen Freiheitsraum des 19. Jahrhunderts" (Friedrich Heer) vollzog sich innerhalb der Freidenkerbewegung ein Wandel: man organisierte sich, versuchte die ursprünglich elitäre Idee zu popularisieren und so politischen Einfluß auszuüben - man wollte das Denken allgemein von religiösen Vorstellungen befreien. Ein Resultat war, daß die Bezeichnung Freidenker, jetzt zu Recht, synonym für Atheisten gebraucht werden konnte. 1881 wurde der Deutsche Freidenker-Bund (DFB) durch Ludwig Büchner gegründet. 1905 bzw. 1908 folgten sozialdemokratische bzw. proletarische Abspaltungen, die sich 1927 vereinigten. Ihren Höhepunkt hatte die Bewegung am Anfang der 30er Jahre. Am Zweiten Weltkrieg zerbrach der Fortschrittsglaube, mit dem Einflußverlust (und der blutigen Unterdrückung) der Kirchen kam der Hauptfeind abhanden und die Naturwissenschaft stieß v. a. in der Atom- und Astrophysik an Grenzen, die einen weltanschaulichen Materialismus unglaubwürdig machen.
Nietzsche, ein ganz anders gearteter "freier Geist" (Im Nachlaß finden sich sogar "Die zehn Gebote des Freigeistes", von denen das zweite lautet: "Du sollst keine Politik treiben."), war bemüht, sich gegen die organisierten Freidenker abzugrenzen: "Sie gehören, kurz und schlimm, unter die Nivellierer, diese fälschlich genannten 'freien Geister' - als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner 'modernen Ideen'; allesamt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Mut noch achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur daß sie eben unfrei und zum Lachen oberflächlich sind, vor allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für alles menschliche Elend und Mißraten zu sehn: wobei die Wahrheit glücklich auf dem Kopf zu stehn kommt!" (Jenseits von Gut und Böse II, 44) Nicht die Umstände sondern die Unvollkommenheit des Menschen ist die Ursache. Ein "freier Geist" wie Nietzsche glaubt nicht einmal an die Wahrheit und demzufolge auch nicht an die Wissenschaft, die natürlich ebenfalls metaphysische Voraussetzungen hat. (Zur Genealogie der Moral III, 24)
Wille tritt erstmals im Oktober 1892 öffentlich im Zusammenhang mit dem DFB in Erscheinung. Er schreibt im Correspondenzblatt des Bundes: "was mich bisher vom Freidenker-Bunde zurückhielt, war die Meinung, hier werde das soziale Problem mit seinen bedeutsamen Konsequenzen für unsere Taktik, Moral und Pädagogik ungenügend oder unrichtig betrachtet und angefaßt." (1. Jg.,1892/93, S. 31) Bereits ein Jahr später übernimmt Wille die Redaktion des "Freidenkers" (bekommt dafür eine Aufwandsentschädigung von 300 Mark jährlich) und wird Vorstandsmitglied des DFB. Ab dem 1. März 1916 ist Wille Herausgeber der Zeitschrift und bleibt dies bis zur Einstellung des Erscheinens 1921. Rückblickend schreibt er 1920: "Zu den Geistesbewegungen, die ich mit besonderer Arbeitsamkeit fördere, gehört neben der Freireligiosität das Freidenkertum. Seit Anfang der neunziger Jahre gehöre ich zur Leitung des Deutschen Freidenkerbundes, redigiere dessen Blatt ("Der Freidenker") und habe auf vielen Kongressen des Bundes gewirkt, auch auf internationalen (Rom und München). Die anfangs im deutschen Freidenkertum vorherrschende Richtung des Materialisten Ludwig Büchner habe ich durch meine idealistische Weltanschauung ergänzt, damit das Freidenkertum sich nicht beschränke auf rationalistischen Volksaufkläricht."
Die Geschichte der Zeitschrift soll hier nicht das Thema sein. Obwohl diese sehr interessante Aufschlüsse über die Organisationstrukturen der freigeistigen Bewegungen etc. geben könnte, da der "Freidenker" im Laufe seines Bestehens zahlreiche Wandlungen vollzog, die sich u. a. in Zusammenschlüssen mit anderen Bünden und deren Zeitschriften zeigen. Die Zeitschrift erschien am 1. Juli 1892 erstmals als "Correspondenzblatt des Deutschen Freidenker-Bundes" und wurde mit der Ausgabe vom 1. Juli 1893 umbenannt in "Der Freidenker. Correspondenzblatt und Organ des Deutschen Freidenker-Bundes". Die Erscheinungsweise war bis zum 1. Juli 1894 vierwöchentlich, danach zweiwöchentlich. Die Verlagsorte wechselten oft, je nachdem welcher Ortsverband mit der Herausgabe betraut war. Von Mitte 1895 an war es für kurze Zeit Friedrichshagen (Berlin). In der Juniausgabe 1906, die rückblickend das 25jährige Jubiläum des Freidenkerbundes feiert, wird ein Ansteigen der Auflage der Bundeszeitschrift von 800 (1892) auf 3600 (1906) Exemplare verzeichnet.(14. Jg., 1906, S. 84-86).
In der September-Ausgabe des "Correspondenzblattes" erschien 1892 ein anonymer Beitrag: "Die Scheidung der Geister". (1. Jg., 1892/93, S. 19-22). Darin versucht der Autor den Idealismus vom Materialismus, der seiner Meinung nach einzig richtigen Weltanschauung, zu scheiden: "Hie Materialismus, dort Idealismus: es giebt keine Ueberbrückung." Die materialistische Position wird auf den Einzelnen und die Gesellschaft angwandt. Der bekannte Schluß lautet, daß alles Geschehen "dem Zwang äußerer und innerer Verhältnisse" unterliegt. Jede Handlung eines Menschen sei, durch seine soziale Lage oder weil ihm der freie Wille fehlt, determiniert. Dieser Beitrag löste eine interessante Debatte aus, die dem Verfasser Widersprüche in seiner Argumentation aufzeigte, insbesondere wie man politisch oder kulturell wertsetzend wirken wolle, wenn man keinen freien Willen hat. Wille beteiligt sich an dieser Diskussion und hebt lobend hervor, daß "die materialistische Geschichtsauffassung [...] den gebührenden Einzug" bei den Freidenkern gehalten hat. (1. Jg., 1892/93, S. 31f.). Wille ist der Auffassung, daß der Determinismus keinen Einschränkungen unterworfen ist und begründet das mit der Definition von Freiheit, als Möglichkeit, zu können was man will. Das Wollen ist allerdings motiviert, d. h. von einer oder mehreren auslösenden Ursachen abhängig bzw. determiniert. So artet die Diskussion in Wortklaubereien aus.
Wille stieß in einer Zeit zur Freidenkerbewegung, als diese an Einfluß verlor. Seit 1890 war den Arbeiterparteien die Versammlungsfreiheit wieder gewährt worden, so daß die Arbeiterschaft ihre eigenen Versammlungen besuchte. Der Gegensatz zwischen der Führung der Freidenker, die aus dem liberalen Bürgertum hervorging, und der Masse der Arbeiter trat jetzt deutlich zu Tage. Eine vermutlich von Wille auf dem Kölner Freidenkerkongreß 1894 eingebrachte Resolution sah zwar die Lösung der sozialen Frage als dringendes Problem, stellte die Wahl der Mittel jedoch dem Einzelnen frei. Der Gegensatz zur marxistischen Sozialdemokratie war offensichtlich. Hinzu kam der beginnende Einfluß Nietzsches und der verschiedener Ersatzreligionen, der nach und nach weite Teile der Bevölkerung erfaßte. Erst die Bestseller Haeckels, ermöglicht durch den "'pathologischen Zwischenzustand' einer philosopischen Anarchie" der Jahrhundertwende (Oswald Külpe), und die internationalen Freidenkerkongresse in Rom und Paris (1904/05) brachten einen neuen Aufschwung der Bewegung. Die Macht der Orthodoxie in der Arbeiterbewegung, die das Freidenkertum als bürgerliche Ideologie ablehnte, ging zunächst zurück. Später jedoch folgte die Auseinandersetzung mit dem 1908 in Eisenach gegründeten "Zentralverband Deutscher Freidenker", einer proletarischen Abspaltung. (Vgl. 16. Jg., 1908, S. 153-156). Wille versuchte sich insbesondere des Vorwurfs, der DFB sei unter seiner Federführung zunehmend sozialliberal und damit (in den Augen der Abspaltung) reaktionär geworden, zu erwehren. Anlaß war eine Äußerung von Wille, in der er ein Zusammengehen von Sozialdemokraten und linksliberalen Freisinnigen ("Linker Block" als sozialliberaler Übergang) in der Kulturpolitik gefordert hatte. (16. Jg., 1908, S. 21). Die Person Willes war oft Ziel solcher Art von Vorwürfen. (Vgl. 3. Jg., 1894/95, S. 3-5, 58-62). Wohl auch weil er kategorisch feststellte: "Parteifanatismus ist nicht minder wie religiöser Fanatismus ein Erbfeind des Freidenkertums." (Ebd. S. 58). Das sollte sich im Laufe der Geschichte bewahrheiten.
Was Freidenkertum seiner Meinung nach sei, schreibt Wille in einer Ausgabe der Zeitschrift "ohne Verbindlichkeit für unseren Bund". (15.Jg.,1907, S. 41f). Dem Namen nach (also bloß oberflächlich?) tritt Freidenkertum für "grundsätzlich freies Denken" und "für schrankenlose Entwicklung der höchsten Geisteskräfte in Persönlichkeit und Volksleben ein". Unterdrückung im geistigen Kampf wird abgelehnt, da die Wahrheit durch "ungehemmten Wettbewerb" (natürliche Zuchtwahl) hervortreten soll. Die Wahrheit müßte demzufolge stärker als die Lüge sein. Heißt es noch sehr frei, der Einzelne ist für die Bildung seiner Überzeugungen selbst verantwortlich, werden wenige Zeilen später letztlich dogmatisch "gewisse Weltanschauungen" abgelehnt: "Wer an ein höchstes Wesen glaubt, das als ein persönlicher Herrscher das Weltall regiert und den Menschen absolut gültige Vorschriften gegeben hat, kann kein Freidenker sein, da ihn seine Unterordnung unter die geglaubte Autorität zur Intoleranz verführt." Gemeint ist hier natürlich v.a. das Christentum, das durch eine "natürliche Weltanschauung" ersetzt werden soll. Damit meint Wille in jedem Fall einen Monismus, sei er nun "idealistisch, materialistisch oder mechanistisch". Der Freidenker kann nach Wille ruhig einer "religiösen Stimmung" nachgeben, da dies auch die alten Ägypter, Babylonier etc. getan hätten. Scheinbar fallen deren Ansichten nicht unter "gewisse" sondern unter "natürliche Weltanschauungen". Eine Unterscheidung, die Wille nicht erläutert. Religion sei nicht das "Glauben an übernatürliche Dinge" sondern: "Hingabe an das Höchste, das ein Mensch erlebt, gleichviel welche Begriffe er damit verbindet." Um den Einfluß der Bewegung zu erhöhen, schlägt Wille die Gründung eines Kartells aller mit den Freidenkern gleichgesinnten Geistesrichtungen vor. 1909 kam es dann tatsächlich zur Gründung des "Weimarer Kartells", in dem Monistenbund, "Bund freireligiöser Gemeinden" und DFB zusammenarbeiteten. Der DFB und der Bund bildeteten 1921 den "Volksbund für Geistesfreiheit" mit der monatlich erscheinenden Zeitschrift "Geistesfreiheit" statt des "Freidenkers" als Organ. Im Nachruf dieser Zeitschrift auf Willes Tod heißt es u. a., daß Wille sich "mit der Richtung des Volksbundes für Geistesfreiheit nicht befreunden" konnte. Aber: "In der Geschichte des Freidenkertums nimmt er eine hervorragende Stelle ein." (37. Jg.,1928, S. 147)
Wie oben angedeutet, sieht Wille die Entwicklung der Wahrheit (für ihn gleichbedeutend mit Wissenschaft) in Analogie zur Entwicklung der Wirtschaft. In beiden solle "freies Spiel der Kräfte" herrschen. Der positive Lauf, den die Wirtschaft seit dem Liberalismus genommen habe, zeige die Möglichkeiten, die in der Wissenschaft ruhen. Durch gleiche Bedingungen für alle soll brachliegendes geistiges Potential freigesetzt werden. (17. Jg.,1909, S. 17-19). Der Wirtschaftsliberalismus setzte tatsächlich ungeheure Energien frei, den notwendigen Konkurrenzkampf gewinnen jedoch die Stärkeren wie in der Natur auf Kosten der Schwachen (Monopolbildung). Eine andere interessante Frage schließt sich daran an: Gehören Darwinismus und Sozialismus zusammen? Bebel sagte ja, Haeckel nein. (2. Jg.,1893/94, S. 65-68) Also: Befördert die Selektionstheorie den Sozialismus oder widerspricht sie ihm? Haeckel bezog das darwinistische Prinzip auf den Einzelnen, Bebel auf die Gesellschaftsform. Auf den ersten Blick scheint eher der Liberalismus dem Darwinismus zu entsprechen, in dem sich der Tüchtigste o.ä. durch setzt. Wille führt dagegen an, daß es in der Natur Schutzbündnisse gebe. Ob aber, wie er behauptet, "gerade der Kampf ums Dasein [...] solche Solidarität" auch in der Menschheit herbeiführen wird, ist zweifelhaft, da Wille nur den Zusammenhalt innerhalb einer Klasse meint. Der Sozialismus nach seiner Definition "sucht die Existenz-Bedingungen nicht etwa durch Abtragung ihrer sonnigen Höhen, sondern durch Zuschüttung ihrer grauenvollen Schluchten zu nivellieren." Er ist davon überzeugt, daß sich die unzweckmäßigen Einrichtungen der Gesellschaft zurückbilden und sich die Volkswirtschaft den Bedürfnissen des Volkes anpaßt. Also kommt der Sozialismus zwangsläufig? Wozu braucht man dann den "Umstürzler" Wille? Die Widersprüche sind dem darwinistischen Dogmatismus geschuldet.
Mit seiner Kritik an Haeckels nationalökonomischer Einstellung zeigt Wille nur einen Teil der unterschiedlichen politischen Auffassungen, die im Freidenkertum nebeneinander existierten. Generell kann man für die Beiträge Willes im "Freidenker" sagen, daß er im wesentlichen die Themen seiner Bücher behandelt und teilweise wörtlich daraus zitiert. Weiterhin nahm er zu aktuellen Fragen in der Regel kurz Stellung und redigierte die Zeitschrift mit einem m. E. erstaunlich hohen Maß an Meinungsfreiheit - getreu dem idealistischen Motto: "Das Freidenkertum ist eine Methode, eine Art zu denken, weniger ein bestimmter Inhalt des Denkens; es betont weniger das Was, als das Wie." (3. Jg.,1894/95, S. 5)
* Anmerkung: Der Text stellt einen Auszug aus einem Vortrag dar, den der Autor am 26. März 2001 auf Einladung des Berliner Landesverbandes der Deutschen Freidenker im Rahmen der philosophisch-weltanschaulichen Gespräche zur 120jährigen Geschichte der Freidenker in Deutschland gehalten hat.
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