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vendredi, 24 décembre 2010

Die ungewöhnliche Beziehung von Ernst Jünger und Erich Mühsam

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Kreuzweiser Austausch
Die ungewöhnliche Beziehung von Ernst Jünger und Erich Mühsam

Von Lars-Broder Keil (Friedrichshagen)

Ex: http://www.friedrichshagener-dichterkreis.de/


"Mühsam lernte ich bei Ernst Niekisch kennen, den ich häufig aufsuchte. Ich glaube, auch Toller war an jenem Abend dabei. Sie kannten sich aus der Zeit der Münchener Räterepublik, mit der sich die Linke eine ähnliche Absurdität wie später die Rechte mit dem Kapp-Putsch leistete. Wir kamen in ein angeregtes Gespräch, Mühsam begleitete mich auf dem Heimwege. Er war Bohemien vom Schlage Peter Hilles, weltfremder Anarchist, verworren, kindlich-gutmütig. (...) Er redete in flatterndem Mantel wild, beinahe schreiend auf mich ein, so daß sich die Passanten nach der seltsamen Erscheinung umwandten, die an einen großen unbeholfenen Vogel erinnerte. Wir tauschten einige Briefe, bis kurz vor seiner Verhaftung; schreckliche Gerüchte sickerten bald über sein Schicksal durch." (1)
Diese Schilderung seiner ersten Begegnung mit Erich Mühsam (1878-1934), die um 1930 herum stattfand, hielt Ernst Jünger (1895-1998) am 24. August 1945 in seinem Tagebuch fest. Glaubt man Jüngers Eintrag, blieb es nicht bei dieser Begegnung. Es ist eine Beziehung, die ungewöhnlich, fast unwahrscheinlich anmutet: der linke Anarchist Erich Mühsam und der bis heute umstrittene konserverative Schriftsteller und Käferforscher Ernst Jünger.

Schwierige Spurensuche

Erich Mühsam wurde 1878 in Berlin geboren, wuchs aber in Lübeck auf. Nachdem er dort eine Glosse über den Direktor seiner Schule in einer SPD-Zeitung veröffentlicht hatte, flog er wegen "sozialistischer Umtriebe" von der Schule und begann eine Apothekerlehre. 1900 zog er nach Berlin, fand Anschluss an die Neue Gemeinschaft der Gebrüder Heinrich und Julius Hart sowie an die Literatur-Bohemeszene und freundete sich mit Gustav Landauer an. In Friedrichshagen arbeitete er ab 1902 für die anarchistische Zeitung "Armer Teufel", bis er 1904 zu seinen Wanderjahren durch Europa aufbrach. Diese führten ihn schließlich nach München, wo sich Mühsam ab 1909 niederließ. 1918 beteiligte er sich führend an der Gründung der Münchener Räterepublik und musste nach deren Niederschlagung ins Gefängnis, wo er bis Ende 1924 einsaß. Anschließend zog Mühsam wieder nach Berlin und gab dort die Monatzeitschrift "Fanal" heraus. 1933 von der SA verhaftet, wurde er nach schweren Misshandlungen 1934 im KZ Oranienburg ermordet.
Ernst Jünger wurde 1895 in Heidelberg geboren. Wie ein Großteil seiner Generation meldete er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. Er wurde mehrfach verwundet und ausgezeichnet. Mehr als das prägte ihn die Materialschlacht an der Front, die er in Büchern, wie "In Stahlgewittern" (1920), verarbeitete. Auffallend dabei: zum einen die nüchternen Schilderungen des Grauens, andererseits die Begeisterung für den militärischen Kampf. Dieser Stil sowie die Mitarbeit in nationalistischen und militanten Gruppierungen wie Zeitschriften brachten ihm den Ruf des demokratiefeindlichen Reaktionärs und Kriegsverherrlichers ein. Dabei war auch der junge Jünger, wie viele seiner Generation, jemand, der sich erst durch den Krieg verändert hatte und der auch ein Suchender war: "Mein Weltbild besitzt durchaus nicht mehr jene Sicherheit, wie sollte das auch möglich sein bei der Unsicherheit, die uns seit Jahren umgibt", schrieb er über seine Kriegserlebnisse im Buch "Der Kampf als inneres Erlebnis" (1922). Mitte der 20er-Jahre begann er Philosophie und Zoologie zu studieren, brach das Studium aber 1926 ab und lebte seitdem als Schriftsteller - unterbrochen durch seinen Militäreinsatz im zweiten Weltkrieg, den er unter anderem im Stab des Militärbefehlshabers in Paris verbrachte. 1944, nach dem missglückten Attentat auf Hitler, wurde Jünger aus der Armee entlassen. Der Autor zahlreicher Bücher, Tagebücher und Essays starb 1998 im Alter von 103 Jahren.
Leider sind die Briefe Mühsams an Jünger vernichtet - unter welchen Bedingungen dies geschah, soll zu einem späteren Zeitpunkt beschrieben werden. Daher lässt sich auch nichts über den Inhalt sagen. Neben dem etwas ausführlicheren Eintrag von 1945 tauchen nur wenige kurze Hinweise auf Mühsam in Jüngers Tagebüchern auf. Im Eintrag vom 10. September 1943 schrieb er über Mühsam, dass dieser "eine kindliche Neigung zu mir gefasst hatte" und dass man ihn "auf so schauerliche Weise ermordete". Am Ende findet sich die Einschätzung: "Er war einer der besten und gutmütigsten Menschen, denen ich begegnet bin." (2). Kurz erwähnte Jünger ihn noch am 20. Oktober 1972 und 20. Mai 1980 (3). Am 19. November 1989 notierte Jünger: "Hans Jürgen Frh. von der Wense (1894-1955). Ich lese in seinen Tagebüchern Notizen über die Novemberrevolution von 1918 und deren Folgen bis zur Niederschlagung der Münchner Räterepublik; sie erinnern mich an Gespräche mit Beteiligten wie Niekisch, Toller und Mühsam." (4)
Mühsam wiederum erwähnte weder in seinen Erinnerungen noch in Briefen seine Beziehung zu Jünger. Von der Bekanntschaft kündet lediglich der Eintrag im Notizkalender von 1930: "15.1. Begegnung mit Ernst Jünger bei Rudolf Schlichter" (5). Das Aussparen der Beziehung zu Jünger mag daran liegen, dass sie nur lose war und er ihr keine so große Bedeutung beigemesssen hat - was angesichts der verschiedenen Weltbilder der beiden nicht verwunderlich sein dürfte. Doch offenbar hinderte sie das nicht, Gespräche zu führen. Mehr Aufschluss könnte Mühsams Nachlass geben, doch der ist zu einem großen Teil zerstört. Chris Hirte, ein Mühsam-Biograf und -kenner, wundert sich über die Beziehung nicht. Zum einen habe sich Mühsam in seiner Zeitschrift "Fanal" ausführlich mit Kriegsliteratur befasst, und Jünger war einer der wichtigsten Vertreter. Zum anderen habe Mühsam viel Wert auf Kontakte quer durch alle Gruppierungen gelegt und mit diesen ausführlich kommuniziert, besonders gern mit prominenten Zeitgenossen, zu denen Jünger damals schon gehörte. Unter Mühsams Bekannten stammten laut Hirte viele aus dem bürgerlichen Lager. Ideologische Barriere gab es für den Anarchisten Mühsam hier offenbar nicht.
Auffallend an Jüngers knappen Überlieferungen der Kontakte ist der wohlwollende Ton, mit dem er über den "Friedrichshagener" Mühsam spricht. Daher scheint es interessant, das Klima zu beschreiben, das damals Treffen zwischen linken und rechten Intellektuellen möglich machte. Verzichtet wird, vor allem aus Platzgründen, auf eine Analyse der relevanten Werke Jüngers, die aber genannt werden sowie auf eine tiefere Analyse der nationalistischen Strömungen, die in der Beziehung eine Rolle spielen. Zu diesen gibt es eine erschöpfende Literatur.

Niekisch als Bindeglied der Beziehung

Wie in Jüngers Tagebuch angedeutet, war Ernst Niekisch (1889-1967) das Bindeglied in dieser ungewöhnlichen Beziehung. Niekisch, Sohn eines Feilenhauermeisters und in Schlesien geboren, las in seiner Jugendzeit neben Klassikern auch die Werke der Moderne von Gerhart Hauptmann, Henrik Ibsen, Frank Wedekind und Max Halbe, die zum Teil prägend für die "Friedrichshagener" waren. Er lernte Erich Mühsam zusammen mit Gustav Landauer 1918 während der Zeit der Räterepublik in München kennen, an der sich alle drei aktiv mitwirkten. Niekisch beschreibt Mühsam in dieser Zeit als sprudelnden, witzigen Geist, "ein guter Mensch, aber so ausgesprochen literarischer Bohemien, daß sich niemand ihn in einer würdigen Amtsposition vorstellen konnte" (6). Letztere Bemerkung zielt auf einen Versuch von Mühsam, sich selber als Volksbeauftragter für das Auswärtige im Kabinett der Räterepublik vorzuschlagen. Landauer war für Niekisch eine "geistig überlegene Persönlichkeit" (7), ein außerordentlicher und gedankenvoller Redner (8).
Die Zusammenarbeit lockerte sich mit dem Rücktritt von Niekisch vom Posten des Präsidenten des Zentralrats der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Bayerns. Trotzdem unterzeichnete er einen Aufruf zugunsten des seit 1919 inhaftierten Mühsam, der ärztliche Hilfe brauchte. Kurze Zeit später trafen sich beide wieder - in der Festungshaft. Dort zettelte Mühsam unter den Häftlingen einen Streik an, bei dem Essenreste auf die Gänge geworfen wurden. Niekisch, der angesichts der Lebensmittelknappheit dieser Zeit eine "schlechte Presse" für diese Aktion befürchtete, brach den Streik und säuberte am dritten Tag mit Hilfe anderer Häftlinge die Flure (9). Mühsam zeigte sich verbittert über die Streikbrecher und nannte Niekisch und dessen Umfeld in seinen Tagebüchern verächtlich die "Intellektuellen" (10).

Niekisch trat nach seiner Entlassung in den Schuldienst ein, war Landtagsabgeordneter der USPD und folgte im November 1922 dem Ruf in den Hauptvorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes nach Berlin, schied aber 1926 im Streit mit der SPD aus dem gewerkschaftlichen Verband aus und ging nach Dresden. Dort schloss er sich der Alten Sozialdemokratischen Partei (ASP) an und gab die Zeitschrift "Widerstand. Blätter für sozialistische und nationalrevolutionäre Politik" heraus.
Über diese Herausgeberschaft und die ASP bekam er zunehmend Kontakt zu bündischen Kreisen, zu reaktionären Gruppierungen, beispielsweise zum Jungdeutschen Orden, zu Konservativen, wie den ehemaligen Korpsstudenten Friedrich Hielscher, der zum Thema "Nietzsche und der Rechtsgedanke" promoviert hatte und sich später diffusen sozialrevolutionär-nationalistischen Tendenzen näherte, sowie zu bürgerlichen Intellektuellen, etwa zu Friedrich Georg Jünger, ein Bruder von Ernst Jünger (11).
Auf die Jünger-Brüder war Niekisch durch den Philosophen Alfred Baeumler gestoßen, der zugleich Mitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur von Alfred Rosenberg war. Baeumler lobte Ernst Jünger als einen Mann, "der die technischen Tendenzen der Zeit in vollem Umfange begriffen habe" und nicht mehr in rückständiger Bürgerlichkeit stecke (12). Dies war wohl der Anlass, Jünger 1926 zur Mitarbeit am "Widerstand" aufzufordern, wie aus einem Brief Ernst Jüngers an seinen Bruder hervorgeht (13). 1927 erschien der erste Artikel.
Im Herbst des gleichen Jahres, so berichtet Niekisch in seinen Erinnerungen, sei er mit Baeumler nach Berlin gereist, der dann einen Besuch bei Jünger angeregt habe. Jünger habe beide freundlich in seiner Wohnung in der Nähe der Warschauer Brücke empfangen. "Wir tranken Kaffee und unterhielten uns über politische Vorgänge jener Tage", erinnert sich Niekisch (14).

Allerdings scheint er sich im Jahr geirrt zu haben, da Baeumler die Jüngers erst 1928 kennenlernte und auch die Briefe erst aus diesem Jahr stammen (15). Ob nun 1927 oder 1928, nach dem ersten Treffen entwickelte sich jedenfalls ein, laut Niekisch, freundschaftlicher Verkehr, gelegentlich schrieb Jünger für den "Widerstand" Aufsätze, und als Niekisch wieder nach Berlin zog, trafen sich beide, etwa bei einer Besprechung des Kreises "Neuer Nationalisten" mit dem Verleger Ernst Rowohlt oder bei Niekisch zu Hause. Bei einem dieser Besuche kam es dann zum Kontakt zwischen Mühsam und Jünger.
Jünger in Berlin

Rund sechs Jahre, von 1927 bis 1933, lebte Ernst Jünger in Berlin. Nach seinen Büchern über den Ersten Weltkrieg war er zum Hoffnungsträger und Wortführer der Gegner der Weimarer Republik im rechten Spektrum geworden.
Die unter dem Begriff "Neuer Nationalismus" zusammengefassten Gruppierungen bekannten sich einmütig zur Nation und einem wehrhaften Staat. Doch Jünger begann schnell, sich von den radikal-militanten Kreisen zu lösen. Wie schon die jungen Intellektuellen zur Jahrhundertwende zog Jünger das Geschehen der pulsierenden Hauptstadt an. Jünger versuchte sich in bohemhaftem Lebensstil, wohnte in möblierten Zimmern, wanderte nachts durch die Straßen, hielt seine Beobachtungen fest, nahm gelegentlich an Trinkfesten teil. Er suchte Kontakt zu Vertretern aller Couleur, zu Nationalisten und Rechten, beispielsweise zu Friedrich Hielscher und Otto Strasser, zu Linken, wie Bertolt Brecht, Erich Mühsam, Ernst Toller und zu Rudolf Schlichter, der Jünger 1929 und noch einmal 1937 porträtierte (16).
Der Maler, Zeichner und Schriftsteller Rudolf Schlichter (1890-1955), bei dem Mühsam laut seinem Notizkalender auch Jünger traf, erregte Anfang der 20er-Jahre mit seiner Plastik des an der Decke schwebenden "Preußischen Erzengels" in Uniform und Schweinskopf Aufsehen. Etwa 1927 wurde der kommunistische Künstler als genauer Zeichner der Berliner Halbwelt bekannt, war unter anderem mit George Grosz und Bert Brecht befreundet. Durch die Begegnung mit seiner späteren Frau Speedy wandte sich Schlichter jedoch dem Katholizismus und Nationalismus zu. In dieser Phase lernte er auch Ernst Jünger kennen, der den Maler sehr schätzte. Die erste Begegnung fand wahrscheinlich beim Verleger Rowohlt statt, der, wie Jünger notierte, "sich ein Vergnügen daraus machte, pyrotechnische Mischungen auszutüfteln, besonders an seinen Geburtstagen" (17).

Links-Rechts-Dialoge

Für die Weimarer Jahre war ein Wirrwarr von rechten und linken Gruppen, Bünden, intellektuellen Zirkeln und Sammlungsbewegungen kennzeichnend, die weniger in festen Organisationsformen oder gar Ortsverbänden agierten. Meist handelte es sich um Mitarbeiter einer Zeitschrift, die sich um den Herausgebe scharrten. Die Akteure waren oft junge, unzufriedene Kriegsteilnehmer, die nach einer Neuorientierung, einem "neuen politischen Leitbild eines nationalen Selbstbewusstseins" suchten - und zwar jenseits vom Parteiengezänk. (18). Die Frontgeneration der 1890-1905 Geborenen kritisierte und bekämpfte die Ideen des Liberalismus und des Parteiensystems. Sie stellten die Bindung an eine fast mystisch anmutende Nation in den Mittelpunkt, grenzten sich aber vom Nationenbegriff patriotischer Prägung ab.
Was bewegte die "rechten" Strömungen, die unter Begriffen wie Nationalrevolutionäre zusammengefasst wurden, zum gemeinsamen Vorgehen? Jürgen Danyel nannte auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin 1990 über den so genannten "Gegner"-Kreis drei wesentliche Handlungsanreize: Zum einen werden die Aktivitäten als Reaktion auf die Modernisierungprozesse der 20er-Jahre verstanden und auf die Erkenntnis, Anschluss an politische Massenbewegungen gewinnnen zu müssen. Allerdings waren die Vertreter des Nationalismus zumeist Einzelgänger und stolz auf ihre Isolierung. Geradezu mit Verachtung wiesen sie die Möglichkeit ab, sich von den großen politischen Strömungen tragen zu lassen. Sie sahen sich in Opposition, als Individualisten und auf dem Weg, für sich den Begriff Konservatismus neu zu definieren. Zweitens prägten die Strömungen das "Gemeinschaftserlebnis Krieg" und die revolutionären Nachkriegsauseinandersetzungen sowie das "Unvermögen zur sozialen Integration in eine ihnen fremde bürgerliche Welt". Drittens schließlich führte die nationale und soziale Problemlage Deutschlands nach 1918 zu einer Politisierung, verbunden mit dem Aufbegehren gegen die eigene bürgerliche Herkunft - gerade im letzten Punkt finden sich verblüffende Parallelen zu den "Friedrichshagener Dichtern" und den Motiven ihres Handelns um die Jahrhundertwende.
Die nationale Problematik bildete das Dach der oft gegensätzlichen Strömungen. Betont wurde der Charakter der "Bewegung", favorisiert eine "Verbindung von Nationalismus und Sozialismus", in der die Arbeiterschaft eine historische Trumpfkarte im Rahmen einer umfassenden Gesellschaftsveränderung werden sollte. "Rechte" wie "Linke" fanden auch eine gemeiname Basis in der Ablehnung des westlichen Imperialismus, dessen Hauptsymbol für sie der Versailler Vertrag war (19). Im Unterschied zum Marxismus bekannten sich die Nationalrevolutionäre, und besonders deren nationalbolschewistische Strömung, zu Nation und Staat (20).
In der außenpolitischen Betrachtung sympathisierten die Strömungen mit der nicht am Versailler Vertragswerk beteiligten Sowjetunion - mit einer häufig diffusen Zuneigung und Verklärung. So nutzte auch Jünger die Einladungen der "Gesellschaft zum Studium der russischen Planwirtschaft". Im Ergebnis entstand seine 1932 erscheinende theoretische Schrift "Der Arbeiter", die Unverständnis im rechten Lager und heftige Kontroversen auslöste.
Wechsel zwischen den Lagern und Kontakte waren nicht selten. In Gesprächszirkeln aller Art trafen sich offizielle und oppositionelle Kommunisten, sozialistische und konservative Intellektuelle, parteitreue bis parteifeindliche Nationalsozialisten. Bei allen Unterschieden, ja Hass zwischen den Flügeln, zog die gemeinsame Radikalität des Gefühls und des Denkens an.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Kontakte zwischen Jünger und Mühsam zu sehen. Nach Ansicht des Jünger-Biographen Heimo Schwilk fühlte sich der nationalrevolutionäre Autor zu Personen hingezogen, die die herrschende Verhältnisse in Frage stellten, zu einem Radikalismus der Tat neigten, um aus der beengten Sphäre des Bürgerlichen auszubrechen. Auch Jünger verspürte früh diesen Drang, meldete sich als Jugendlicher in der Fremdenlegion, "ein früher, instiktiver Protest gegen die Mechanik der Zeit", nannte er diesen Schritt später. Eine mehr selbst-analytische Verarbeitung des ersten Ausbrechens lag jahrelang als unveröffentlichtes Manuskript in seinem Schreibtisch. Es trug den bezeichnenden Titel "Die letzte sentimentale Reise oder die Schule der Anarchie" (21) und wurde 1936 als "Afrikanische Spiele" veröffentlicht.
Mühsam wiederum suchte in seiner Vorstellung, die Regierung durch eine Revolution abzulösen, nach tatbereiten Leuten, um sie gegen die Weimarer Republik zu mobilisieren. Die meinte er offenbar auch unter den Vertretern der Nationalrevolutionäre zu finden, deren Wille zu Aktionen ihm näher lag, als das abwartende Verhalten der Funktionäre von SPD und KPD, die auf Parlamentarismus setzten, schätzt Mühsam-Forscher Hirte ein. Jünger zählte sich selbst zu den Nationalrevolutionären, bezeichnete sich öffentlich aber erst Anfang der 80er-Jahre so.
Das mag daran liegen, dass Jünger, der sich auf besondere Weise als elitärer Einzelkämpfer verstand, Distanz zu den Gruppen gewahrt hatte, weil er Zuordnung als Vereinnahmung verstand. Bereits als der "Arbeiter" erschien, hatte er sich aus dem aktiven Geschehen zurückgezogen, "in die Innerlichkeit", wie Niekisch das bezeichnete.
Trotzdem hielt er weiter Kontakt. Als das NS-Regime an die Macht kam, nahm Jünger beispielsweise Niekisch kurzzeitig bei sich auf und kümmerte sich nach dessen Verhaftung um die Niekisch-Familie.

Vernichtung der Mühsam-Briefe

Die Beschreibung der Kontakte zwischen Ernst Jünger und Ernst Niekisch hätte ergiebiger ausfallen können, wenn Jünger nicht so vorsichtig gewesen wäre. Als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland ergriffen und ihre Gegner zu verhaften begannen, vernichtete er in einer hektischen Aktion einen Teil seiner umfangreichen Briefsammlung und Tagebuchaufzeichnungen. Darunter auch die wenigen Briefe von Mühsam, die laut Jünger "harmlos waren wie der Mann selbst" und später die Briefe von Ernst Niekisch, bei dem Jünger Mühsam kennengelernt hatte. Mehrfach bedauerte er die Lücken, "die vor allem dadurch entstanden sind, daß ich in Anfällen von Nervosität Papiere verbrannt habe". Aber Jünger wusste um die Sprengwirkung, wenn sie bei ihm gefunden worden wären. "Wenn meine Bekannten durch mich Schwierigkeiten hatten, so galt das auch umgekehrt, es fand kreuzweis ein Austausch statt. Der Umgang mit Niekisch, Mühsam, Otto Strasser, Hofacker, Schulenburg, Heinrich von Stülpnagel und anderen warf ein ungünstiges Licht auf mich", schrieb er rückblickend in seinem Tagebuch am 24. August 1945. Wie recht er mit dieser Annahme hatte, musste Jünger kurze Zeit nach dem Vernichten der Briefe erfahren. Eines Abends, er saß in seiner Steglitzer Wohnung und las Beardsleys "Venus und Tannhäuser", klingelte es an der Tür. Zwei Gestapo-Beamte traten ein, überhörten Jüngers Frage nach den Ausweisen und begannen in den Zimmern nach Waffen und verbotenen Papieren zu wühlen. Jüngers Buch "Der Arbeiter" im Regal schien ihr Misstrauen zu fördern. Dann kamen sie zu ihrem Anliegen und fragten nach den Briefen von Erich Mühsam. Jünger reichte ihnen seine Briefmappe "H-M", in denen die Briefe Mühsams fehlten, aber nicht die von Hitler und Hess, und hielt die Reaktion der Beamten in seinem Tagebuch fest: "Sie begannen zu blättern, stießen dabei gleich auf einige Namen, die hoch im Kurs standen, und brachen ihr Unternehmen ab." (22)

Im nächsten Heft: Jünger und der Individualanarchismus von John Henry Mackay und Max Stirner

Quellen:

  1. Ernst Jünger: Die Hütte im Weinberg, Jahre der Okkupation, In: Strahlungen II., Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 1979, S. 516 f.)
  2. Ernst Jünger: Das zweite Pariser Tagebuch, In: Strahlungen II..., S. 146
  3. Ernst Jünger: Siebzig verweht II, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 1981, S. 97 und S. 610ff.
  4. Ernst Jünger: Siebzig Verweht IV, Verlag, Stuttgart, 1981, S. 383
  5. Chris Hirte: "Erich Mühsam", Verlag Neues Leben Berlin, 1985, S. 419
  6. Ernst Niekisch: Gewagtes Leben, Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, S. 43
  7. ebenda, S.68
  8. ebenda, S.78
  9. ebenda, S.96
  10. Erich Mühsam: Tagebücher 1910-1924, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1994, S.240f.
  11. Ernst Jünger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt Verlag, S.41
  12. Ernst Niekisch: Gewagtes Leben, S. 187
  13. Friedrich Georg Jünger: Briefwechsel mit Rudolf Schlichter, Ernst Niekisch und Gerhard Nebel, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2001, S. 59
  14. Ernst Niekisch: Gewagtes Leben..., S.187
  15. F.G. Jünger, S.59f.
  16. Horst Mühleisen: Ernst Jünger in Berlin, Frankfurter Buntbücher 20, S. 5
  17. Ernst Jünger und Rudolf Schlichter, Briefe 1935-1955, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 1997, S. 307f.
  18. Jürgen Danyel: Alternativen nationalen Denkens vor 1933, In: Der "Gegner"-Kreis im Jahre 1992/33, Evangelische Akademie Berlin, 1990, S. 76
  19. ebenda, S.69
  20. Das Projekt Ernst Jünger, In: Forum Wissenschaft, I/95, S. I ff.
  21. Ernst Jünger in Selbstzeugnissen..., S. 12
  22. Ernst Jünger: Die Hütte im Weinberg..., S. 516 f.