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jeudi, 25 juin 2015

Yeats’ heidnisches „Second Coming“

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Yeats’ heidnisches „Second Coming“

English original here [2]

Übersetzung: Lichtschwert

(Auf AdS nachveröffentlicht anläßlich des heutigen 150. Geburtstages von William Butler Yeats.)

William Butler Yeats verfaßte sein berühmtestes Gedicht, „The Second Coming“, im Jahr 1919, in der Zeit des Großen Krieges und der bolschewistischen Revolution, als die Dinge wahrlich „auseinanderfielen“, darunter hauptsächlich die europäische Zivilisation. Der Titel bezieht sich natürlich auf die Wiederkunft Christi. Aber so wie ich es lese, lehnt das Gedicht die Vorstellung ab, daß die buchstäbliche Wiederkunft Christi bevorsteht. Stattdessen bekräftigt es zwei nichtchristliche Bedeutungen von Wiederkunft. Erstens gibt es die metaphorische Bedeutung des Endes der gegenwärtigen Welt und der Enthüllung von etwas radikal Neuem. Zweitens gibt es die Bedeutung der Wiederkunft nicht von Christus, sondern des vom Christentum verdrängten Heidentums. Yeats verkündet eine heidnische Wiederkunft.

Das Gedicht lautet:

Turning and turning in the widening gyre,
The falcon cannot hear the falconer;
Things fall apart; the center cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst
are full of passionate intensity.

Surely some revelation is at hand;
Surely the Second Coming is at hand.
The Second Coming! Hardly are those words out
When a vast image out of Spiritus Mundi
Troubles my sight: somewhere in the sands of the desert
A shape with lion body and the head of a man,
A gaze blank and pitiless as the sun,
Is moving its slow thighs, while all about it
Reel shadows of the indignant desert birds.
A darkness drops again; but now I know
That twenty centuries of stony sleep
Were vexed to nightmare by a rocking cradle
And what rough beast, its hour come round at last,
Slouches towards Bethlehem to be born?

Wenn man dieses Gedicht als eine Allegorie auf den modernen Nihilismus liest, wird eine Menge klar. „Turning and turning in the widening gyre“ – Kreisend und kreisend im sich erweiternden Wirbel. Man stelle sich hier einen Falken vor, vielleicht mit einer an einem seiner Beine befestigten langen Leine, der auf einer immer weiter werdenden Spiralbahn fliegt, während immer mehr von der Leine ausgerollt wird. Im Zentrum des Wirbels steht, die Leine haltend, der Falkner, der Herr des Falken. Während die Leine ausrollt und der Wirbel weiter wird, kommt ein Punkt, an dem „der Falke den Falkner nicht hören kann.“

Vermutlich ist das, was der Falke nicht hören kann, der Falkner, der den Vogel zurück auf seinen Arm ruft. Nicht länger in der Lage, die Stimme des Falkners zu hören, zieht der Falke weiter nach außen. An irgendeinem Punkt jedoch wird seine Leine zu Ende sein, an welchem Punkt sein Flug entweder mit einem heftigen Ruck enden und er erdwärts stürzen wird – oder der Falkner die Leine loslassen und der Falke seinen Flug nach außen fortsetzen wird.

Aber ohne die Leine zum Zentrum – eine buchstäbliche Leine, oder nur die Stimme seines Herrn – wird der Weg des Falken seine Spiralform verlieren, die durch die Leine zwischen dem Falken und dem Falkner festgelegt wird, und der Falke wird seine Flugbahn selbst bestimmen müssen, eine Flugbahn, die zweifellos im Zickzack mit den Luftströmungen und den vorübergehenden Wünschen des Falken verlaufen wird, aber keine erkennbare Struktur aufweisen wird – außer vielleicht irgendwelche restlichen Echos ihrer ursprünglichen Spirale.

Der Falke ist der moderne Mensch. Die motivierende Kraft des Fluges des Falken ist das menschliche Verlangen, sein Stolz, seine Lebendigkeit und sein faustisches Streben. Die Spiralstruktur des Fluges ist das allgemein verständliche Maß – die Mäßigung und Moralisierung des menschlichen Verlangens und Handelns -, das durch das moralische Zentrum unserer Zivilisation auferlegt wird, verkörpert durch den Falkner, den Herrn des Falken, unseren Herrn, den ich in nietzscheanischen Begriffen als die höchsten Werte unserer Kultur interpretiere. Die Leine, die uns vom Zentrum aus hält und ihm ermöglicht, unserem Flug ein Maß aufzuzwingen, ist die „Stimme Gottes“, d. h. der Anspruch der Werte unserer Zivilisation an uns; die Fähigkeit der Werte unserer Zivilisation, uns zu bewegen.

Wir, der Falke, sind jedoch spiralförmig zu weit hinausgeflogen, um die Stimme unseres Herrn zu hören, die uns zurück zum Zentrum ruft, daher fliegen wir spiralförmig nach außen, während unsere Bewegung zunehmend exzentrischer (ohne Zentrum) wird, unsere Wünsche und Handlungen zunehmend weniger maßvoll werden…

Daher: „Die Dinge fallen auseinander. Das Zentrum kann nicht halten.“ Wenn das moralische Zentrum der Zivilisation sie nicht mehr in der Hand hat, fallen die Dinge auseinander. Daß die Dinge auseinanderfallen, hat mindestens zwei Bedeutungen. Es bezieht sich auf Auflösung, aber auch darauf, daß die Dinge voneinander weg fallen, weil sie auch von ihrer gemeinsamen Mitte wegfallen. Es bezieht sich auf den Zusammenbruch von Gemeinschaft und Zivilisation, den Zusammenbruch der Beherrschung menschlichen Verlangens durch Moral und Gesetz, daher…

„Bloße Anarchie wird auf die Welt losgelassen.“ Anarchie, das heißt, das Fehlen von arche, griechisch für Ursprung, Prinzip und Ursache; metaphorisch das Fehlen einer Mitte. Aber was ist „bloß“ an Anarchie? Es heißt nicht „bloße“ Anarchie, weil sie harmlos und unbedrohlich sei. In diesem Zusammenhang bedeutet „bloße Anarchie“ Anarchie in uneingeschränktem Sinne, schlicht und einfach Anarchie. Daher:

The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.

Warum sollte Nihilismus dazu führen, daß den Besten jegliche Überzeugung fehlt, und die Schlechtesten mit leidenschaftlicher Intensität füllen? Ich denke, daß Yeats uns hier seine Version von Nietzsches Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Nihilismus darbietet. Der passive Nihilist erlebt – weil er sich in gewissem Maß mit den zentralen Werten seiner Kultur identifiziert – die Abwertung dieser Werte als enervierenden Verlust von Bedeutung, als die Niederlage des Lebens, als den Verlust aller Überzeugungen. Im Gegensatz dazu erlebt der aktive Nihilist – weil er die zentralen Werte seiner Kultur als Einschränkungen und Hindernisse für das freie Spiel seiner Fantasie und seiner Wünsche erlebt – die Abwertung dieser Werte als Befreiung, als die Freiheit, seine eigenen Werte festzusetzen, daher erfüllt der Nihilismus ihn mit einer leidenschaftlichen kreativen – oder destruktiven – Intensität.

Diese Charakterisierung von aktivem und passivem Nihilismus hält den Kampf zwischen den Konservativen und der Linken fest. Konservative sind die „Besten“, denen jede Überzeugung fehlt. Sie sind die Besten, weil sie an den zentralen Werten des Westens hängen. Ihnen fehlt jede Überzeugung, weil sie nicht länger an sie glauben. Daher verlieren sie jedesmal, wenn sie der leidenschaftlichen Intensität der Linken gegenüberstehen, die den Nihilismus als erfrischend erleben.

Die zweite Strophe von Yeats’ Gedicht zeigt genau, welche zentralen Werte abgewertet worden sind. Die apokalyptische Beklemmung der ersten Strophe läßt einen glauben, daß vielleicht die Apokalypse, die Wiederkunft Christi, bevorsteht:

Surely some revelation is at hand;
Surely the Second Coming is at hand.

Aber dem folgt der Ausruf: „The Second Coming!“, den ich als Äquivalent zu „Die Wiederkunft Christi? Ha! Ganz im Gegenteil“ interpretiere. Und das Gegenteil wird dann enthüllt, nicht durch den christlichen Gott, sondern durch den heidnischen Spiritus Mundi (Weltgeist):

Hardly are those words out
When a vast image out of Spiritus Mundi
Troubles my sight: somewhere in the sands of the desert
A shape with lion body and the head of a man,
A gaze blank and pitiless as the sun,
Is moving its slow thighs, while all about it
Reel shadows of the indignant desert birds.
A darkness drops again; but now I know
That twenty centuries of stony sleep
Were vexed to nightmare by a rocking cradle
And what rough beast, it hour come round at last,
Slouches towards Bethlehem to be born?

Zwei Bilder werden hier miteinander verbunden. Erstens ist die Gestalt mit dem Körper eines Löwen, dem Kopf eines Menschen und einem ausdruckslosen Starren eine ägyptische Sphinx – vielleicht die Große Sphinx von Gizeh, vielleicht eine der vielen kleinen Sphinxe, die über Ägypten verstreut sind. Zweitens gibt es da die Geburtsszene, die Geburt Christi in Bethlehem. Die Verbindung zwischen Bethlehem und Ägypten ist die sogenannte „Flucht nach Ägypten“. Nach der Geburt Jesu floh die Heilige Familie nach Ägypten, um König Herodes’ Massaker an den neugeborenen Knaben zu entkommen.

Yeats ist nicht der erste Künstler, der die Bilder der Sphinx und der Geburt Christi miteinander verband. Zum Beispiel gibt es ein Gemälde eines französischen Künstlers aus dem 19. Jahrhundert, Luc Olivier Merson, mit dem Titel „Rast auf der Flucht nach Ägypten“, das eine Nacht „vor zwanzig Jahrhunderten“ darstellt, in der Maria und der kleine Jesus zwischen den Pranken einer kleinen Sphinx schlafen.

Dieses Gemälde war zu seiner Zeit so beliebt, daß der Künstler drei Versionen davon schuf, und eine davon, die sich im Boston Museum of Fine Arts befindet, ist so populär, daß es Reproduktionen davon als gerahmte Drucke, Puzzlespiele und Weihnachtskarten noch heute zu kaufen gibt.

Ich weiß nicht, ob Yeats an dieses bestimmte Gemälde dachte. Aber er dachte an die Flucht nach Ägypten. Und das Gedicht scheint auf eine Umkehrung dieser Flucht hinzudeuten, und auf eine Umkehrung der Geburt Christi. Könnte Maria während der Rast auf der Flucht nach Ägypten, Jesus zwischen den Pranken einer Sphinx wiegend, die steinerne Bestie in einen Alptraum geärgert haben? Könnte sie sich endlich in ihrem unruhigen Schlaf geregt haben, den Propheten eines neuen Zeitalters schwer in ihrem Schoß, und die Suche nach einem geeigneten Platz zum Gebären begonnen haben? „Und welche rauhe Bestie, deren Stunde endlich gekommen ist, latscht nach Bethlehem hinein, um geboren zu werden?“ Und was gäbe es für einen besseren Platz als Bethlehem, nicht um die Geburt Christi zu wiederholen, sondern um sie umzukehren und ein post-christliches Zeitalter einzuleiten.

Man kann sich jedoch fragen, ob das Gedicht im Sinne des Schreckens oder der Hoffnung endet. So wie ich es lese, gibt es in Yeats’ Narrativ drei Stadien. Das erste ist das Zeitalter, als die christlichen Werte der unangefochtene Kern der westlichen Zivilisation waren. Dies war eine vitale, blühende Zivilisation, aber nun ist sie vorbei. Das zweite Stadium ist der Nihilismus, sowohl der aktive als auch der passive, der durch den Verlust dieser zentralen Werte bewirkt wird. Dies ist die Gegenwart für Yeats und für uns.

Das dritte Stadium, das erst noch kommt, wird auf die Geburt der „rauhen Bestie“ folgen. Genauso wie die Geburt Jesu die christliche Zivilisation einleitete, wird die rauhe Bestie eine neue heidnische Zivilisation einleiten. Deren zentrale Werte werden sich von den christlichen Werten unterscheiden, was natürlich Christen entsetzt, die ihre Religion wiederzubeleben hoffen. Aber an die neuen heidnischen Werte wird, anders als an die christlichen, tatsächlich geglaubt werden, was der Herrschaft des Nihilismus ein Ende setzen und eine neue, vitale Zivilisation schaffen wird. Für Heiden ist dies eine Botschaft der Hoffnung.

Source: https://schwertasblog.wordpress.com/2015/06/13/yeats-heidnisches-second-coming/ [3]

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