Faustische Suchbewegung
Kritik der Globalökonomie: Was uns vor intellektueller Zahnlosigkeit bewahrt
Wolfgang Saur
Vor wenigen Tagen konnte man eine kleine Schar beobachten, die angeregt das Weserbergland durchstreifte. Man schlenderte die Höhenzüge entlang, durchmaß mit Blicken die weit sich hinziehende Landschaft und versammelte sich zu Gespräch und Debatte.
Eine alte Dame hält plötzlich inne und spricht nachdenklich über Heidegger, der engagierte Anthroposoph erläutert Steiners Modell vom dreigliedrigen Sozialorganismus, vorneweg strebt der rüstige Greis, er streut ironische Lichter und macht vieldeutige Anmerkungen zur Lage Rußlands; schließlich verblüfft die literarische Lebensreise des Althippies von Charles Bukowski zu Céline. Neben mir geht ein genialischer Junge, dessen sprühender Idealismus exotisch wirkt bei einem Angehörigen der Hip-Hop-Generation. Als sei der sagenhafte "deutsche Jüngling" zurückgekehrt, entrollt er leidenschaftlich das Weltbild von Ludwig Klages. Wir sprechen von Stefan George, vom "geheimen Deutschland" und der "kosmischen Runde".
Die Rede ist von den Teilnehmern der 10. Synergon-Sommerakademie, die fünf Tage lang, vom 23. bis 28. August, auf einem ländlichen Gutshof tagte. Der Studienzirkel, dessen europäisches Zentrum in Brüssel, dessen deutscher Kristallisationspunkt im Kreis um den Dresdener Verlag Zeitenwende und das Esoterikmagazin Hagal liegen, tagt abwechselnd in den verschiedenen europäischen Regionen. Diese platonische Akademie unserer Zeit ist nicht ortsgebunden, sondern ebenso beheimatet unter provenzalischen Bauern wie zwischen den Kunstdenkmälern Umbriens. Sokratischer Kopf des Unternehmens: der Brüsseler Robert Steuckers, der als intellektueller Trapezkünstler moderierend und übersetzend diese mehrsprachigen Tagungen überhaupt erst ermöglicht.
Deren Horizont umfaßte in diesem Sommer 16 Vorträge von 11 Experten aus Deutschland und Frankreich mit einer thematischen Streuung von der aktuellen weltpolitischen Lage bis zur Symbolkunde. Eingebettet waren alle Referate in umfangreiche Diskussionen im Plenum; sie wurden dann in zahlreichen Privatgesprächen fortgeführt bis in die späte Nacht. Angesichts der Funktionalisierung von Wissen in der Informationsgesellschaft kann solch eine gemeinschaftliche Besinnung für die größtmögliche Freiheit gelten, die es heute überhaupt gibt. Völlig zweckfrei konnte sich der Geist hier ungehindert entfalten, weit hinaus über den interdisziplinären Spielraum des akademischen Betriebs. Trotz divergierender Themen besaß man Spannkraft genug, jedes Detail energisch festzuhalten, um ebenso leidenschaftlich zu fahnden nach dem verlorenen Ganzen. Diese faustische Suchbewegung erwies sich als die eigentliche Triebkraft der Tagung.
Nachdem die Linke gleichgeschaltet ist und ihre vormaligen Symbolfiguren zu "Systemstützen" wurden, geht die Ideologiekritik zur Rechten über. Dieser obliegt es nun, den seifigen Politsprech der neototalitären "Metasprache" der Demokratie mit ihren neuen Götzen und Fetischen kritisch zu sondieren und hinter den obszönen "Sakralisierungen" von Globalität, Markt, Moral etc. den tristen Funktionalismus der Macht aufzuweisen.
Dazu gehört die Dekonstruktion von Segensformeln des westlichen Heilswissens, wie sie in der Herrlichkeit individueller Freiheit oder dem gnadenbringenden Universalismus der USA täglich um uns weben und schweben. Deren Schlüsselrolle darf nicht nur als politischer Unilateralismus und kulturökonomischer Imperialismus interpretiert, sondern muß auch philosophisch erfaßt werden. Entgegen der fortgeschrittenen "Depression" Europas (Neujahr) sind nämlich Amerikas Optimismus und säkular-mythische Phantasie ungebrochen. Die "einzige aktuelle primitive Gesellschaft" erkennt hier Jean Baudrillard: "Die idyllische Überzeugung der Amerikaner, der Nabel der Welt, Weltmacht und absolutes Modell zugleich zu sein, ist nicht ganz falsch. Sie gründet sich ... auf die seltsame Behauptung, die reine Utopie zu verkörpern." Mit größter "Naivität hat sich diese Gesellschaft auf die Idee versteift, die Verwirklichung all dessen zu sein, wovon andere immer geträumt haben: von Gerechtigkeit, Überfluß, Recht, Reichtum und Freiheit; sie weiß es, sie glaubt es, und zuletzt glauben es alle anderen auch."
Auch der Individualismus als liberales Dogma ist heute eine Ubiquität. In Frage stellt ihn allerdings die Einsicht, daß sich "Freiheit" qua Autonomisierung modern in Systemen, nicht über die Person vollzieht. Diese wird, gerade umgekehrt, depotenziert zum disponiblen Sozialatom. Als leere Subjektivität mag sie sich aufblähen. Abgelöst von Natur, Geschichte und Transzendenz muß sie die, für den Widerstand in der Gegenwart notwendige Tiefenstruktur entbehren. Damit sind zwei Leitmotive genannt, die den Tagungsverlauf perspektivisch durchstrukturierten.
Nach grundsätzlichen Überlegungen Martin Baluses' ("Das vielfältige Selbst des Menschen") gab Robert Steuckers in Referaten zur kulturellen Münchner Frühmoderne und Berliner Zwischenkriegszeit historische Anwendungen. Als Beispiele von ideologischem Nonkonformismus konnten das Satiremagazin Simplicissimus (1896-1944) und der deutsch-russische Dialog zur Geopolitik gelten. Die rote Bulldogge des Simplicissimus symbolisiert für Steuckers das Modell einer Kunst als Waffe und den "wahren Sinn der Metapolitik".
Anders die Kultur der französischen Moralisten des grand siècle, die den Hintergrund bildeten für zwei Beiträge zur Postmoderne. Der kroatische Politologe Tomislav Sunic zeigte Schopenhauers Epistemologie als Wurzel postmodernen Denkens auf, dessen Pessimismus und Perspektivismus im "normativen Notstand" besonders gut der Wahlpariser Emile Cioran (1911-1995) verkörpert hat.
Einem Hauptthema Mircia Eliades widmete sich Markus Fernbach ("Das Wesen der Mitte - Kaisertum und Königtum in der Tradition"), besonders dem metaphysischen Aspekt nach. Vor dem leuchtenden Hintergrund platonischer Urbilder nehmen sich heutige Monarchisten mit ihrem Konstitutionalismus allerdings naiv aus, im tieferen Sinn unfähig, dem waste land der "schrecklichen, kaiserlosen Zeit" substantiell etwas entgegenzustellen. Wichtig in Fernbachs Erörterung: der anthropologische Hinweis auf das initiatische Projekt einer Selbst-Zentrierung als persönliche Lebensaufgabe. Dies beschäftigt auch Oliver Ritter, der erst kürzlich eine Monographie über Männlichkeit in initiatischer Sicht im Verlag Zeitenwende vorgelegt hat. Auf der Tagung philosophierte er am Leitfaden der Metaphysik-, und Technikkritik Heideggers tiefgründig über "Die Magie des Wortes und der Sprache". Von einer Theorie der Weltgründung durch Sprache aus, arbeitete er gegenüber dem semantischen Aspekt des Wortes dessen Lautgestalt als lebensspendenden Ursprung, als heilige Schwingung heraus, was Leopold Zieglers Grabinschrift treffend ausdrückt: "Ich habe gehorcht."
Sven Henklers Beitrag zur Spiritualität des Kriegers in West und Ost rückte auch die verzerrte Vorstellung vom "Djihad" zurecht. Wörtlich heißt das: "Anstrengung", wobei nur der "kleine Krieg" den militärischen Kampf, der "heilige, große" indes die asketische Anstrengung gegen das niedere Ich meint.
Politkritisch dagegen fiel die Perspektive Hermann Jungs auf den subkontinentalen Islam aus. Sein Vortrag über die indischen Massenmedien kam zu dem verblüffenden Befund einer, gegenüber der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung feindlichen Intellektuellenposition.
Daß solche Konstellationen auch von außen induziert sein können, wurde in den scharfsinnigen Beiträgen von Philippe Banoy klar, deren erster sich mit psychologischer Kriegsführung, Manipulation etc. befaßte und einige Mittel der Subversion analysierte, die als komplexe Realitätsfaktoren im Hinblick auf den eigenen Standort diskussionsweise auch Heiterkeit auslösten. Daran schloß sich sein Porträt des klassischen Strategen und Kriegstheoretikers Antoine Jomini (1779-1869) an, des französischen Clausewitz, und dessen Hauptwerks: "Abriß der Kriegskunst" (1838). Historisch weitblickend dabei Jominis Analyse der napoleonischen Ära. Er begreift sie als Abschied von der Vergangenheit, als Paradigmenwechsel, der dem Adel als Kriegerkaste ein Ende setzt und die Kriegsführung professionalisiert, industrialisiert und totalisiert, sich damit als Keim des Ersten Weltkrieges entpuppt.
Den totalitären Charakter der modernen Diktaturen bekamen auch "Hitlers rechte Gegner" zu spüren. So der Titel einer zeitgeschichtlichen Studie von JF-Autor Claus-M. Wolfschlag (1995). Sein Referat nun stellte den im Herbst ebenfalls im Verlag Zeitenwende erscheinenden neuen Interview-Band: "Augenzeugen der Opposition. Gespräche mit Hitlers rechten Gegnern" vor, eine lebendige Dokumentation als Supplement zur systematischen Untersuchung.
Kritik der heutigen Globalökonomie erwies sich als konstitutives Motiv aller Beiträge. Ein Vorläufer, zumal Gegner der klassischen Dogmen war John Maynard Keynes (1883-1946), der von Frédéric Valentin präsentiert wurde, einer guten Synergon-Tradition folgend, die jedes Jahr einen Klassiker der Ökonomie aufarbeitet. Besonders hellsichtig erscheinen seine Kritik an Versailles (1919) und in Bretton Woods (1945), wo die USA seine Beschränkungswünsche ablehnten und sich mit dem Prinzip der totalen Freiheit für Kapitalbewegungen durchsetzten. Valentin gehörte auch das letzte Wort mit einem Vortrag über Entwicklungen der heutigen Weltökonomie (Ausbreitung der informellen Sphäre und mafioser Strukturen, Bedeutungszuwachs der Diaspora).
Robert Steuckers, fern aller Betulichkeiten, ist ein begnadeter Vollblutintellektueller, wuchtig und zupackend im Denken, das bei ihm gleichsam als körperlicher Vorgang von ursprünglicher Vitalität erscheint. Sein kreativer Imperativ, "aggressiv und pfiffig statt muffig", artikuliert den anarchischen Impuls aller Nonkonformisten seit 200 Jahren.
Zeitschrift "Simplicissimus" (1908): "Mag der Wind von rechts blasen oder von links, für meine Mühle weht er immer günstig"
Weitere Informationen im Internet: www.verlag-zeitenwende.de .