Die letzte seiner „9 Thesen“ lautet: „Der Zweck des menschlichen Lebens ist nicht Fortschritt, d.h. eine Vergrößerung des Wohlergehens der Masse und des individuellen Glücks der Person, sondern die geistige Vervollkommnung zur Verwirklichung des Reiches Gottes.“
Seine reaktionäre Gestalt ist es wohl auch, die, trotz der strengen Orthodoxie des Russen, das Bindeglied zwischen ihm und dem kolumbianischen Philosophen und Reaktionär Dávila darstellt. Dávila zeigte sich sehr fasziniert von Leontjew. Mit ihm teilt er auch noch einige andere philosophische Eigenheiten, die an späterer Stelle noch erwähnt werden sollen.
Geburt eines Adligen
Leontjew kam am 13. Januar 1831 als siebtes und letztes Kind der Familie Leontjew auf dem Landsitz Kudinowo südlich von Moskau zur Welt. Deren Landeigentum ging jedoch wegen des aufkommenden Kapitalismus und der Abschaffung der Leibeigenschaft langsam ein. Diese beiden historischen Umstände führten dazu, dass die Familie in den Bankrott getrieben wurde.
Sein Vater, ein eher wenig gebildeter Mann, der früh den Dienst quittierte, damit er sich um das Gut kümmern konnte, und seine Mutter, die Tochter eines Generals, die in einem Institut für adlige Mädchen ihre Ausbildung genoss, erzogen den Jungen. Die Mutter wirkte jedoch stärker auf ihn ein, weil sie ihn bis zu seinem zehnten Lebensjahr zu Hause ausbildete. 1841 trat Leontjew ins Gymnasium in Smolensk ein, das er bis zum Herbst des Jahres 1843 besuchte. Im selben Jahr wechselte er ins Kadettenkorps des Adelsregiments. Durch eine Krankheit musste er jedoch die Militärlaufbahn aufgeben und wechselte anschließend wieder auf ein normales Gymnasium in Kaluga. Dieses schloss er 1849 ab und immatrikulierte sich darauffolgend, ohne Aufnahmeprüfung, im Herbst an der Universität in Jaroslaw, wo er ein Medizinstudium aufnahm. Im Winter desselben Jahres zog es Leontjew jedoch an die Universität von Moskau. Dort setzte er sein Studium fort.
Als Arzt im Krimkrieg
Wegen des Russisch-Türkischen Krieges in der Krim und dem dort herrschenden Ärztemangel bot die Regierung allen Medizinstudenten, die bereits im achten Semester waren, an, sie beim sofortigen Übertritt auf den Kriegsschauplatz zum Arzt zu ernennen. Außerdem wollte der Staat ihnen dort das doppelte Gehalt zahlen. Am 1. August des Jahres 1854 erhielt Leontjew den Posten eines Assistenzarztes im Kriegslazarett in der Festung Jenikale im nordwestlichen Teil des ukrainischen Kertsch.
Als der Krieg 1856 mit der russischen Niederlage endete, verbrachte Leontjew zunächst eine unbeschwerte Zeit auf der Krim, bis der russische Staat ihn im August des Jahres 1857 aus dem Kriegsdienst entließ.
Erste Versuche in der Schriftstellerei, Arbeit als Übersetzer aus dem Deutschen
Im Frühling 1858 wurde er bei der Familie des Barons Dimitrij von Rosen Hausarzt, blieb dort aber nur bis Ende 1860, weil er zu einem seiner Brüder nach St. Petersburg ging. Dort widmete er sich der berufsmäßigen Schriftstellerei, welche ihm jedoch keine sicheren Einnahmen einbrachte. Aus diesem Grund übersetzte er Artikel aus der deutschen Sprache und unterrichtete als Lehrer, damit er sich mit liquiden Mitteln versehen konnte.
Heirat und diplomatisches Leben am Rande zum Orient
1861 heiratete er im Herbst die aus einfachen Verhältnissen stammende Halbgriechin Julia Politof. Nach einem neunmonatigen Dienst als Kanzleibeamter im Asiatischen Departement des Ministeriums des Äußeren, wurde er im Herbst 1863 als Sekretär und Dolmetscher ins russische Konsulat auf der Insel Kreta beordert. Dort lernte er das orientalische Leben und dessen Kultur schätzen. 1867 beförderte der Staat Leontjew sogar zum Vize-Konsul der Donauprovinzen.
1868 war ein weiteres einschneidendes Jahr für ihn, denn er wurde Konsul in Saloniki und es gab erste Anzeichen dafür, dass seine Frau an einer Geisteskrankheit litt. In diese Zeit fällt auch Leontjews Abwendung vom Liberalismus hin zum religiösen Konservatismus.
Rettung durch die Gottgebärerin
1871 besuchte er den Mönchsberg Athos, weil er dies geschworen hatte, als er an einer sehr schweren Krankheit litt. Damals rief er die Gottgebärerin an und versprach ihr diesen Besuch im Falle seiner Genesung. Er bat dann auf dem Athos um die Mönchsweihe, welche ihm jedoch die Mönche aufgrund vermuteter Unreife verweigerten. Ab 1873 lebte Leontjew in Konstantinopel, kehrte jedoch im Frühling 1874 bereits wieder nach Moskau zurück und ging ins Kloster Optina Pustyn bei Koselsk.
Leontjews erstes Treffen mit dem wesentlich jüngeren Wladimir Solowjew, einem bekannten Philosophen und Befürworter der Vereinigung der wahren Kirchen, der Orthodoxie und der Katholizität, fand im Jahre 1878 statt, aus dem eine fruchtbare Freundschaft entstand, die beide positiv prägte.
Zensorposten, Mönchsweihe und Tod eines Reaktionärs
Aus Warschau erhielt er 1879 eine Einladung von Fürst Golitzin, der ihn darum bat nach Warschau zu kommen, um ihm dort bei der Arbeit an der Zeitschrift Warschawskji Westnik zu helfen. Bald musste sie aber wegen finanzieller Problemen eingestellt werden. Leontjew selbst hatte ebenfalls große finanzielle Probleme, was ihn dazu nötigte einen Regierungsposten als Zensor anzunehmen, welchen er von 1880 bis 1887, dem Jahr seiner Pensionierung, bekleidete. Am 23. August 1891 war es dann trotzdem soweit für ihn und man gewährte ihm die Teilnahme an der geheimen Mönchsweihe in Optina Pustyn.
Er akzeptierte den Rat eines für ihn zum geistigen Führer und manchmal auch Geldgeber gewordenen Starez Amworsijs, der ihm sagte, dass er in das Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad bei Moskau gehen solle. Hier verbrachte er dann noch seine letzten Tage, denn er starb bereits am 12. November 1891 im Alter von 60 Jahren an einer Lungenentzündung. Seine körperlichen Überreste wurden auf dem Klosterfriedhof in einer Mönchskutte beigesetzt.
Konstantin Nikolajewitsch Leontjew,
„Kassandra des Zarentums” II:
Der „ästhetische Amoralist”
Wenn Konstantin Nikolajewitsch Leontjew schreibt, schlagen Bomben ein, die Schläfer wachrütteln und das Hässliche als Ziel haben: „O verhasste Gleichheit, o gemeine Gleichmacherei! O dreimal verfluchter Fortschritt! O furchtbarer, mit Blut getränkter, doch malerischer Berg der Weltgeschichte! Vom Ende des 18. Jahrhunderts an liegst du in den Wehen einer neuen Entbindung, aber aus deinem gequälten Schosse kriecht eine Maus hervor.“ Er war wohl einer der wenigen, neben Peter Ernst von Lasaulx oder Carl Friedrich Vollgraff, die im 19. Jahrhundert eine eigene pessimistische Geschichtsphilosophie entwarfen.
Der kolumbianische Katholik und Reaktionär Nicolás Gómez Dávila war im Besitz der russischen Originalausgabe Leontjews, konnte sie aber, gegen seine Gewohnheit Schriften im Original zu lesen, nicht verstehen, da er der russischen Sprache nicht mächtig war. Er kannte Leontjews Theorien jedoch aus Übersetzungen. Dávila veröffentlichte über Leontjews Werken folgenden Spruch Petrarcas, der Homer nicht in der Originalsprache lesen konnte: „Ich freue mich an dem blossen Anblick des Buches, drücke es oft an mein Herz und seufze: du grosser Mann, wie begierig hätte ich dir zugehört!“
Vom liberalen Demokraten zum „schwärzesten Reaktionär“
Leontjew war geprägt von der orthodoxen Christlichkeit: „Dem Christentum müssen wir helfen, selbst auf Kosten unserer geliebten Ästhetik, aus transzendentem Egoismus, aus Furcht vor dem jenseitigen Gericht, zur Erlösung unserer eigenen Seelen. Dem Fortschritt aber müssen wir uns, wo nur möglich, widersetzen; denn er ist ebenso für das Christentum wie für die Ästhetik schädlich.“ Dies erkannte er jedoch erst nachdem er einen Wandel gemacht hatte, vom liberalen Demokraten zum „schwärzesten Reaktionär“. Selbst zwei der größten literarischen Geister seiner Zeit, Tolstoj und Dostojewski, kritisierte er und warf ihnen vor, dass sie ein philanthropisches „Rosenwasser-Christentum“ predigen, das mehr Häresie als wahrer Glaube sei.
Ein orthodoxer Anhänger des Papstes
Leontjew wurde von seinem Freund Solowjew davon überzeugt, dass es überaus wichtig sei, dass sich die katholische und die orthodoxe Kirche wieder verbinden. Im Gegensatz zu Solowjew hatte Leontjew jedoch nie seinen Glauben gewechselt und blieb orthodox, trotz solcher Aussagen: „Ich verheimliche Ihnen meine Schwäche nicht, die päpstliche Unfehlbarkeit gefällt mir persönlich enorm. Der Starez der Starzen!“ In der Ostkirche werden die mönchisch lebenden Lehrer und spirituellen Begleiter der Novizen und Laien Starzen genannt. „Wäre ich in Rom gewesen, hätte ich nicht gezögert, nicht nur die Hand Leos XIII., sondern auch seinen Fuss zu küssen. Der römische Katholizismus gefällt meinem aufrichtigen despotischen Geschmack wie auch meiner Zuneigung zum geistlichen Gehorsam, und wegen vieler anderer Gründe zieht er mein Herz und meine Vernunft an“, jubelte Leontjew.
Die Theorie der sekundären vermischenden Vereinfachung
Leontjew könnte als ein „Spengler vor Spengler“ gelten, denn es bestehen einige Ähnlichkeiten zwischen beiden Geschichtsphilosophien. Zum Beispiel bemisst Spengler die Existenzdauer einer Kultur auf circa 1000 Jahre, Leontjew dagegen die eines Staatsgebildes auf die gleiche Zeit. Die Gedankengänge des russischen Reaktionärs beruhen auf seinen, von der studierten medizinischen Wissenschaft geschulten, Ansichten der Pathologie und Embryologie. Diese Ansichten übertrug er sogar auf nicht-organische Körper, beispielsweise ganze Planeten. Seine Geschichtsphilosophie gliedert die Entwicklung in drei Stadien, hier direkt mit dem Beispiel eines Planeten:
- die primäre Einfachheit, solange er sich in Gestalt von gasartiger oder feuerflüssiger Masse befindet
- ein mittleres Stadium der Kompliziertheit, wenn er zu einem feuerflüssigen Kern mit fester Kruste geworden ist, auf der sich Wasser und trockenes Land scheiden und Pflanzen und Lebewesen gedeihen
- die sekundäre vermischte Einfachheit, wenn er sich in eine kalte, leere Stoffmasse verwandelt hat, die fortfährt, um die Sonne zu kreisen
Diese Theorie übertrug er auf die Menschheitsgeschichte, wobei er aber zwischen einer Kultur, ihrem Volk und ihrem Staat unterschied:
- Die Kultur an sich lebe länger als das Volk, das sie hervorgebracht habe, insbesondere der unzerstörbare geistige Keim. Er gehe in andere Völker über, die aus dem Untergang einer Kultur entstanden seien.
- Die Völker würden eine geraume Zeit als ethnographische Masse bestehen. Seiner Meinung nach würden Völker existieren, bevor sie in die Arena der Geschichte eintreten und noch sehr lange zwischen anderen Völkern bleiben, nachdem ihre staatliche Form zerstört wurde.
- Am kürzesten existiere die Staatsform eines Volkes, die die äußere Umhüllung und das innere Gewebe dieser ethnographischen Masse bilde. Die Staatsform werde nicht auf einmal geschaffen, sondern enthülle sich erst im Verlauf des mittleren Stadiums der wachsenden Komplexität.
Dies kann nur ein grober Abriss seiner Geschichtsphilosophie sein, deren Analyse wohl einen ganzen Band füllen könnte ? insbesondere mit Querverweisen zu anderen Personen. Es ist jedoch anzunehmen, dass er diese Theorie unbeeinflusst aufgestellt hatte und wohl auch wegen seiner Unbekanntheit niemanden damit beeinflusste.
Nichtgleichberechtigung als Grundlage von Kulturen
Nach Leontjew könne man in allen Staatswesen qualitativ verschieden soziale Elemente erkennen. Außerdem verrate dies, dass die Trennung der Bürger in nichtgleichberechtigte Gruppen der natürliche Zustand des Menschen sei. Aus seiner oben beschriebenen Theorie leitete er ab, dass die Kulturschöpfung erst in der zweiten Phase der Verkomplizierung eintrete. Diese gehe von einem Stand aus, der privilegiert sei und über mehr Kraft verfüge als die anderen. Der Niedergang dieses Standes, bei der sekundären vereinfachenden Vermischung, führe ebenfalls zum Absinken des Wertes einer Kultur. Der Staat sei wie ein Baum, der zu seiner maximalen Größe heranwächst, Blüten und Früchte trage sowie einer inneren Idee unterliege, die in ihm despotisch herrscht.
Leontjew erkannte durch seine Theorie, dass man bis zur mittleren Epoche Fortschrittler sein müsse, ab der mittleren jedoch zum Konservativismus übergehen sollte. Die Progressiven würden in dieser Zeit nur zerstörerisch wirken. In der letzten Epoche jedoch triumphieren die Progressiven. Aber die Reaktionäre seien mit ihrer Meinung im Recht, dass man den sozialen Organismus stärken und heilen sollte. Leontjew warnte vor einem bloßen Festhalten an der Vergangenheit: „Jetzt bloß konservativ sein, wäre nicht der Mühe wert. Man kann die Vergangenheit lieben, aber man darf nicht daran glauben, dass sie auch nur in ähnlicher Form wieder aufleben wird.“ Da sich der Lauf der Geschichte nicht aufhalten lasse, bleibe nur übrig, an den „Fortschritt“ zu glauben. Jedoch solle diesem mit Pessimismus, nicht mit Optimismus begegnet werden, weil er lediglich eine Umformung der Bürden des menschlichen Leidens hervorbringe.
Leontjew prophezeite den Bolschewisten als „den Typ eines unschädlichen, fleißigen, jedoch gottlosen Durchschnittsmenschen“
Leontjew sagte eine „entsetzliche föderative Arbeiterrepublik“, die nach dem Zusammenbruch Russlands aus dessen Trümmern erstehen würde, voraus. Dazu meinte er: „Zur Stunde erscheinen die Kommunisten (und vielleicht die Sozialisten) als extreme, schrankenlose Liberale (die vor Rebellion und Verbrechen nicht zurückschrecken).
Sie verdienen hingerichtet zu werden.“ Das Ziel dieser Revolution sei jedoch nicht die Schreckensherrschaft, sondern die allgemeine Vermischung, die „den Typ eines unschädlichen, fleißigen, jedoch gottlosen Durchschnittsmenschen“ hervorbringen werde. Er wusste, dass eine vollkommene Anarchie, die die Revolution zuerst gebäre, niemals von Dauer sein könne. Eine volle Gleichheit der Rechte, des Besitzes etc. sei von Natur aus unmöglich. Vielmehr führe dieser Irrglauben dazu, dass die Praxis des Sozialismus diesen umwandeln werde und eine neue Ordnung erschaffe, inklusive einer neuen „Ungleichheit“.
Dahingehend würden die Kommunisten unbewusst an der reaktionären Neuordnung der Geschichte arbeiten, worin ihr indirekter Nutzen bestehe. Jedoch bestehe darin eben nur ihr Nutzen, nicht der Verdienst. Denn weil das neue Haus vielleicht schöner werden würde, heiße das noch lange nicht, dass es rechtmäßig sei, wenn der unvorsichtige Bewohner oder der Brandstifter es anzünden würden.
Ästhetischer Amoralismus
„Ihr müsst verstehen, es kommt nicht darauf an, dass man durch väterliche Fürsorge das Böse beseitige, sondern dass man ihm die gesammelte Kraft des Guten gegenüberstellte“, schrieb er. Gewisse Menschen schockiert Leontjew trotzdem, wenn er behauptet, dass man das Böse in der Gesellschaft brauche, das Leid der Menschen, die Sklaverei, die Armut und den Hunger. Er differenzierte das Leiden: in das von Rechtsverletzung, Schlaffheit und schmutziger Bestechung erzeugte sowie jenes Leiden einer höheren Art, das auf Grund leidenschaftlicher, menschlicher Triebe geschehe. Er begründete aber diese Ansichten damit, dass es nur Gutes geben könne, also Barmherzigkeit, Opferbereitschaft und Nächstenliebe, wenn das Böse vorhanden sei, gegen das sich die christlichen Tugenden wenden könnten.
Erst das Leid rufe den Heroismus wach. Aber in einem utilitaristisch-bourgeoisen Zeitalter, wo man das Leid aus der Gesellschaft verschwinden lasse, gehe alles in die sekundäre vereinfachende Vermischung über und werde so zu einem Klumpen aus Menschenfleisch ohne Differenzierung. Leontjew empfand den Triumph des spießbürgerlichen Ideals als Verspottung der menschlichen Geschichte. Wie Dávila verband er die Ästhetik mit der Ethik und beschrieb das Hässliche, der undifferenzierte Planetenklumpen, als das Böse und das Schöne, die Differenzierung und Buntheit des Lebens, mit allen Übeln und Schrecknissen, als das Gute. Damit erfasste der russische Reaktionär die Welt in ihrer ganzen Komplexität ? ohne Scheuklappen und Augenwischerei.