Der Staat in interiore homine: Die Staatskonzeption Giovanni Gentiles
Giovanni B. Krähe
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Giovanni Gentile war bereits in den Jahren um den Ersten Weltkrieg eine Leitfigur des italienischen Geisteslebens. Als der Faschismus zum Regime wurde, wurde er im ersten Kabinett Mussolinis Erziehungsminister (Oktober 1922 – Juni 1924) und führte eine tiefgreifende Reform der Schulen und Universitäten durch (Canistraro 1982; Fossati 1998; Ragazzini 1998). Als persönlicher Vertreter Mussolinis verfasste Gentile die faschistische Staatslehre (Dottrina del Fascismo, 1928-1929) und leitete L’istituto fascista di cultura (1925), so dass er lange Zeit die führende Persönlichkeit der Intellektuellen blieb, die sich für den Faschismus entschieden hatten. Als die militärische Niederlage des Faschismus bereits offensichtlich war, hielt Gentile dem Regime Treue und nahm an der von Mussolini gegründeten Repubblica di Salò (1943-1945) teil, bis er am 15. April 1944 von kommunistischen Partisanen erschossen wurde. Nach Campi (2001) war der gewaltsame Tod von Gentile für die Kommunistische Partei Italiens notwendig, wenn sie eine neue politische Hegemonie nach dem Sturz des Faschismus durchführen wollte. Dieses hegemonische Projekt „era finalizzato ad imprimere al Partito comunista Italiano una base ideologica nazionale ed a sostituire l’egemonia crociano-gentiliana con quella marx-gramsciana …” (Campi 2001: 152). Die theoretische Grundlage der Staats-philosophie Gentiles und damit die Ideen über die Rolle des Staats als politische Institution wurden aber von Gentile formuliert, bevor der Faschismus als solcher existierte. Tatsächlich schrieb Gentile seine ersten politischen Schriften während des Ersten Weltkriegs. Seine Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik hatten damals einen besonderen Stellenwert in Gentiles politischem Denken:
La realtà nota alla filosofia moderna è lo spirito inteso come quella realtà appunto che il filosofo attua filosofando … E però filosofare è precisamente conoscere (e quindi costruire) non una generica personalità politica e il sistema al quale essa può appartenere, ma la propria personalità attuale nel sistema della politica del proprio paese. E soltanto attraverso la determinatezza di questa individualità storica si fa strada l’universalità del concetto, a cui la filosofia oggi aspira (Gentile 1918d: 153-154).
Der Krieg, an dem Italien seit 1915 auf Seiten der Entente teilnahm, wurde von Gentile nicht als der Sieg oder die Niederwerfung konkurrierender Nationen, sondern als symbolisches Ereignis sowie moralische Pflicht aufgefasst, der sich niemand entziehen durfte. Der politische und geistige Zusammenschluss der Italiener, der in Friedenszeiten nicht möglich wäre, wurde nach Gentile durch die außergewöhnliche Anstrengung der Kriegszeit erreicht: „Politisches Endziel bleibt die Verpflichtung aller auf das nationale Interesse und insoweit die Schaffung einer einheitliche Gemeinschaft im Gegensatz zu einer zersplitterten Gesellschaft“ (Schattenfroh 1999: 101). Diese totalisierende Konzeption des Kriegsereignisses, die den Anstoß, so Gentile, zu einer politisch-moralischen Erneuerung des Lebens in Italien gibt, übernimmt eine integrative Funktion, indem das Schicksal jedes Einzelnen mit dem Schicksal der Nation verflochten wurde: Der Bürger wird mit seinem Staat durch den starken Charakter des Kriegserlebnisses politisch identifiziert und der Staat wird gleichzeitig durch Ontologisierung zum Garanten dieses Identitätsprinzips. Darin, dass Gentile dieses Identitätsprinzip mit dem Kriegserlebnis als moralischer Pflicht gleichsetzt, liegt die erste Grundlage des Staatsbewusstseins als Garanten der Einheit zwischen Gesellschaft und Staat, d.h. als Stato etico (ethischer Staat) (vgl. Gentile 1918b: 13). Sowohl die Nationsidee als transzendente Einheit aller politischen Fraktionen (Gentile 1919a, 1919b), als auch die Tendenzen zum aktiven Veränderungswillen als Handlungsmodell setzen sich in den ersten philosophischen Überlegungen Gentiles fort (vgl. Gentile 1918b: 17; 1918c).
In Gegensatz zur klassischen liberalen Staatskonzeption, die in der modernen gesellschaftlichen Entwicklung eine unterscheidbare sowie autonome Zivilgesellschaft sieht, integriert Gentile die Staatlichkeit als organische Leitidee in das Bewusstsein des Individuums. Daraus aber resultiert, dass der faktische Staat als politische Institution und damit sein Machtapparat den Einzelwillen nicht auflöst, insofern als der Staat als verinnerlichte soziale Institution ein Lebenszweck des Individuums wird:
Lo Stato non è inter homines, come pare, ma in interiore homine: non è niente di materiale, ma una realtà spirituale, che è in quanto vale; e vale nella coscienza del cittadino. Il quale non riconosce fuori di sé la società, di cui è parte, se non in quanto la instaura dentro di se medesimo, come parte essa stessa, della sua vita morale (Gentile 1919c: 113 Hervorhebung von mir).
Die These der Identität von Staat und Bürger leitet sich aus den philosophischen Grundlagen der aktualistischen Ethik Gentiles ab. Die „Philosophie des Akts“ bzw. „der aktualistischen Idealismus“, kurz „Aktualismus“, fokussiert das Interesse auf die Struktur des menschlichen Geistes, der als Denkprozess betrachtet wird (Gentile 1987).
Auf einer erkenntnistheoretischen Ebene folgert Gentile tatsächlich alle Wirklichkeit aus der Tätigkeit des Denkens, indem die Außenwelt dem menschlichen Geist in Form des „absoluten Ichs“ zugesprochen wird (Gentile 1987: 18 ff.). Die Außenwelt als Produkt des menschlichen Geists wird aber in einem Subjektivismus nicht aufgelöst, insofern als das Verhältnis zwischen absolutem Ich und Individuum nicht unmittelbar ist. In Gegensatz zu den philosophischen Voraussetzungen des klassischen Idealismus, erweist sich der Aktualismus „als eine totalisierende Philosophie des menschlichen Tuns an sich“ (Schattenfroh 1999: 64), insofern als sich die Tätigkeit des denkenden Ichs nicht auf das Objekt, sondern auf den praktischen Akt des Willens, auf den „pensiero pensante“, stützt (Gentile 1987: 44).
Durch die zentrale Stellung des „reinen“ Akts als philosophisches Prinzip entsteht aber ein spezifisches Verhältnis zwischen dem „absoluten Ich“ Gentiles und dem Individuum: Das „absolute“ Ich kann sich als Tätigkeit des Denkens eines partikulären Individuums nicht erweisen – wenn ja, würde daraus resultieren, dass die Erkenntnis der Außenwelt nicht total durch den Akt, sondern partial durch das relativistische Verhältnis Objekt-Subjekt, wie beim klassischen Idealismus geschehen würde. Im Vordergrund der Begriffsbildung Gentiles steht also der Mensch als solcher, nicht die konkreten Individuen. Gentile nennt individualistische Konzeptionen sowie ihre politischen Erscheinungsformen – Liberalismus und Sozialismus – unterschiedslos „Materialismus“, da sowohl eine abstrakt-theoretische Einheit (die Pluralität von Individuen), als auch ein Telos (der Kommunismus) von beiden Denkströmungen monistisch vorausgesetzt werden:
L’idealismo assoluto e il materialismo storico sono tutti due monismi e per la forma e per la sostanza. Tutto è continuo divenire: monismo della forma. Tutto è essenzialmente idea … o materia, monismo della sostanza (Gentile 1957: 148).
Auf einer sozialphilosophischen Ebene sieht also Gentile nicht im dialektischen Prozess der verschiedenen individuellen Akte, sondern im Moment des menschlichen Willens als Akt des absoluten Subjekts die Entstehung der Gesellschaft. Am Ausgangspunkt der Staatskonzeption Gentiles wird die Pluralität von Personen ausgeklammert, da die Gesellschaftlichkeit mit der Universalität des aktualistischen Willens als überindividueller Wille gleichgesetzt wird. Die Individuen werden durch diesen überindividuellen Willen als Staat in interiore homine aufgelöst, der Spiegelbild des faktischen Staates ist.
Der faktische Staat ist aber für Gentile ständiger Prozess eines nie ganz vollendeten idealen Staates. Auf der Tendenz zur Einheit von Einzel- und Gemeinschaftswillen durch ein normatives Staatsmodell – den ethischen Staat - beruht der politische Charakter der Pädagogik Gentiles und dadurch die Rolle der kulturellen Sphäre in der Gesellschaft (Gentile 1925a, 1927). Der Zusammenhang zwischen Politik und Kultur, zwischen politischen Institutionen und gesellschaftlichen Zeichenpraktiken beruht auf der Möglichkeit, dass ein vollendeter ethischer Staat zu einem Erzieherstaat werden kann. Nach Gentile kann der Staat Bestand haben, wenn er ein kollektiv-einheitliches politisches Bewusstsein durch ein politisch-edukatives Programm ermöglicht (vgl.Gentile 1925b). In Gegensatz zum klassischen Liberalismus, der die freie individuellen Entfaltungsmöglichkeiten betont, hebt Gentile die Überwindung der Trennung von subjektivistisch-individueller sowie entpolitisierter „Kultivierung des Geistes“ und überindividuellem Willen als idealer Kulturstaat in interiore homine hervor:
E noi, in mezzo al popolo italiano e tra le scuole in cui esso ha incominciato a rinnovarsi e temprarsi al nuovo ideale della vita nazionale, vogliamo levare una bandiera che possa richiamare e raccogliere intorno a sé uomini di pensiero e uomini di azione in una società che faccia sentire al pensiero la sua immanente responsabilità pratica e all’azione la sua segreta scaturigine nei sentimenti che il pensiero educa e alimenta (Gentile 1925a: 65; vgl. dazu 1918a).
Im Erzieherstaat als Schöpfer jeder Semantik in der Gesellschaft erschienen klar die hegemonischen Elemente von Gentiles Staatsideen. Durch die Überwindung der Trennung von Kultur und Politik/Staat wurde so das politisch-edukative Programm Gentiles zur Hegemoniekonzeption des italienischen Faschismus.
Fossati, Roberta (1998): Giovanni Gentile. In: Alberto di Bernardi/ Scipione Guarracino (Hrsg.): Il Fascismo. Dizionario di storia, personaggi, cultura, economia, fonti e dibattito storiografico. Milano: Mondadori.
Ragazzini, Dario (1998): Riforma Gentile. In: Alberto di Bernardi/ Scipione Guarracino (Hrsg.): Il Fascismo. Dizionario di storia, personaggi, cultura, economia, fonti e dibattito storiografico. Milano: Mondadori.
Schattenfroh, Sebastian (1999): Die Staatsphilosophie Giovanni Gentiles und die Versuche ihrer Verwirklichung im faschistischen Italien. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag.
Gentile, Giovanni/Mussolini, Benito/ Volpe, Gioacchino (1932): Dottrina del Fascismo. In: Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti. Bd. XIV. Roma: Treccani. S. 847-884.
Gentile, Giovanni (1918a): L’unità della cultura. In: Giovanni Gentile: Fascismo e cultura. Hrsg. von Istituto nazionale fascista di cultura. 1928. Milano: Fratelli Treves Editori. S. 1-15.
- (1918b): Il significato della vittoria. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 5-18.
- (1918c): Lo spettro bolscevico. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 27-30.
- (1918d): Politica e filosofia. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 138-158.
- (1919a): Stato e categorie. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 69-72.
- (1919b): Ordine. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 31-34.
- (1919c): L’idea monarchica. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 108-118.
- (1919d): Liberalismo e liberali. In: Giovanni Gentile: Dopo la vittoria. Opere. Bd. XLIV. 2., erweit. Aufl. 1989. Firenze: Le Lettere. S. 120-131.
- (1925a): Discorso inaugurale dell’istituto nazionale fascista di cultura. In: Giovanni Gentile: Fascismo e cultura. Hrsg. von Istituto nazionale fascista di cultura. 1928. Milano: Fratelli Treves Editori. S. 17-37.
- (1925b): Contro l’agnosticismo della scuola. In: Giovanni Gentile: Fascismo e cultura. Hrsg. von Istituto nazionale fascista di cultura. 1928. Milano: Fratelli Treves Editori. S. 39-43.
- (1927): I propositi dell’istituto. In: Giovanni Gentile: Fascismo e cultura. Hrsg. von Istituto nazionale fascista di cultura. 1928. Milano: Fratelli Treves Editori. S. 77-81.
- (1957): La filosofia di Marx. Studi critici [zuerst 1899]. In: Giovanni Gentile. Opere. Bd. XVIII. Firenze: Sansoni.
- (1987): Teoria generale dello spirito come atto puro [zuerst 1916]. 7., bearb. Aufl. In: Giovanni Gentile. Opere. Bd. III. Firenze: Le Lettere. S. 1-86.
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