Der sakrale Charakter des Königtums
Autore: Julius Evola
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Jede große “traditionelle” Kulturform war durch das Vorhandensein von Wesen charakterisiert, die durch ihre “Göttlichkeit”, d.h. durch eine angeborene oder erworbene Überlegenheit über die menschlichen und natürlichen Bedingungen, fähig erschienen, die lebendige und wirksame Gegenwart des metaphysischen Prinzips im Schoße der zeitlichen Ordnung zu vertreten. Von solcher Art war, dem tieferen Sinn seiner Etymologie und dem ursprünglichen Wert seiner Funktion nach, der Pontifex, der “Brücken-” oder “Wege-Bauer” zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen. Weiter identifizierte sich der Pontifex überlieferungsgemäß mit dem Rex, entsprechend dem herrschenden Begriff einer königlichen Göttlichkeit und eines priesterlichen Königtums [Vgl. Servius, Ad Aened., III 268: "Majorum haec consuetudo at rex esset etiam sacerdos et pontifex". Dasselbe läßt sich – wie bekannt – für die urnordischen Stämme sagen.]. Die “göttlichen” Könige verkörperten also im Dauerzustand jenes Leben, welches “jenseits des Lebens” ist. Durch ihr Vorhandensein, vermöge ihrer “pontifikalen” Vermittlung, durch die Kraft der ihrer Macht anvertrauten Riten und der Institutionen, deren Urheber oder Stützen sie waren, strahlten geistige Einflüsse auf die Welt der Menschen aus, die deren Gedanken, Absichten und Handlungen durchdrangen, die einen Schutzwall bildeten gegen die dunklen Kräfte der inferioren Natur; die dem gesamten Leben eine Ordnung gaben, welche es geeignet machte, als fruchtbare Basis für die Verwirklichungen von Höherem zu dienen; die infolgedessen die allgemeinen Voraussetzungen schufen für “Gedeihen”, für “Wohlfahrt”, für “Glück”.
Die Grundlagen der Autorität von Königen und Herrschern, das, wofür sie verehrt, gefürchtet und verherrlicht wurden, war im antiken Weltbild im Wesentlichen diese ihre heilige und übermenschliche Eigenschaft, nicht als leere Redensart verstanden, sondern als Wirklichkeit. Wie man das Unsichtbare als vorausgehendes und höheres Prinzip gegenüber dem Sichtbaren und Zeitlichen empfand, dementsprechend erkannte man solchen Naturen unmittelbar den Vorrang über alle und das natürliche und absolute Herrscherrecht zu. Was allen traditionellen Kulturen fehlt und erst Sache eines darauffolgenden und schon absteigenden Zeitabschnittes wird, ist die laienhafte, weltliche, lediglich politische Idee des Königtums und deshalb auch die eines Vorrangs, der gegründet ist, sei es auf Gewalt und Ehrgeiz, sei es auf natürliche und weltliche Eigenschaften, wie Intelligenz, Stärke, Geschicklichkeit, Mut, Weisheit, Sorge für das materielle Allgemeinwohl und so weiter. Noch fremder ist der Überlieferung die Idee, daß die Macht dem König von denen übertragen werde, die er regiert; daß seine Gesetze und seine Autorität Ausdruck des Volksbewußtseins seien und dessen Billigung unterstellt. An der Wurzel jeder zeitlichen Macht fand sich vielmehr die geistige Autorität eines gleichsam “göttlichen Wesens in Menschengestalt” [Im Mânavadharmçastra (VII, 8) wird der König als "große Gottheit in Menschengestalt" bezeichnet. Der ägyptische König galt als Manifestation von Râ und von Horus. Die Könige von Alba und von Rom personifizierten Jupiter, die urnordischen Odin und Tiuz, die assyrischen Baal, die iranischen den Gott des Lichtes, und so fort. Die Idee einer göttlichen oder himmlischen – wie wir sehen werden, vor allem einer solaren – Abstammung ist allen vormodernen Königstraditionen gemein.]. Bâsileis ieroí: der König – mehr als ein Mensch, ein heiliges kosmisches Wesen – verfügt über die transzendente Kraft, die ihn von jedem Sterblichen distanziert, indem sie ihn befähigt, seinen Untertanen Gaben zu spenden, die außerhalb der menschlichen Reichweite liegen, und ihn imstande setzt, den überlieferungsgemäßen rituellen Handlungen zur Wirksamkeit zu verhelfen, auf die er, wie wir sagten, das Vorrecht besitzt und in denen man die Glieder des wahren “Regierens” und die übernatürlichen Stützen des gesamten traditionsgebundenen Lebens erkannte [Umgekehrt konnte der König in Griechenland und Rom nicht mehr König sein, wenn er sich des Priesteramtes als unwürdig erwies, um dessenwillen er rex sacrorum war. Erster und höchster Vollzieher der Riten für diejenige Wesenheit, deren gleichzeitiger Temporalfall er war.]. Deshalb herrschte das Königtum und wurde für natürlich gehalten. Materielle Macht hatte es nicht nötig. Es zwang sich zuerst und unwiderstehlich durch den Geist auf. “Herrlich ist die Würde eines Gottes auf Erden”, steht in einem arischen Text, “aber für die Unzulänglichen schwer zu erlangen: würdig, König zu sein, ist lediglich der, dessen Sinn sich zu solcher Höhe erhebt”.
In der Überlieferung entsprach der königlichen Göttlichkeit wesentlich das Sonnen-Symbol. Man erkannte dem König denselben “Ruhm” zu, der der Sonne und dem Lichte gehört – Symbolen der höheren Natur –, wenn sie allmorgendlich über die Finsternis triumphieren. “Als König steigt er des Horus (der Sonne) Thron der Lebenden empor, gleich seinem Vater Râ, jeglichen Tag”; “Ich habe bestimmt, daß du dich als König des Südens und des Nordens auf dem Throne des Horus erhebst, gleich der Sonne, ewiglich” – das sind Wendungen, die sich auf das altägyptische Königtum beziehen. Sie stimmen übrigens genau mit den iranischen überein, wo vom König gesagt wird, er sei “vom selben Geschlecht wie die Götter”, er “hat denselben Thron wie Mithra, er steigt mit der Sonne empor”, und wo er particeps siderum genannt wird, “Herr des Friedens, Heil der Menschen, ewiger Mensch, Sieger, der mit der Sonne emporsteigt”.
Dieser solare “Ruhm” oder “Sieg”, der also die Königsnatur und ihr Recht von oben bestimmte, beschränkte sich übrigens nicht auf ein bloßes Symbol, sondern identifizierte sich mit einer realen und schaffenden Kraft, als deren Träger der König als solcher angesehen wurde. Im alten Ägypten wurde der König auch “kämpfender Horus” – hor âhâ – genannt, um diesen Charakter des Siegs oder Ruhms des im König verkörperten solaren Prinzips zu bezeichnen: der König war in Ägypten nicht nur “göttlicher Herkunft”, sondern wurde auch als solcher “eingesetzt” und dann periodisch durch Riten beglaubigt, die eben den Sieg des Sonnengottes Horus über Typhon-Seth, den Dämon des inferioren Bereiches, darstellten. Solchen Riten schrieb man übrigens die Macht zu, eine “Kraft” und ein “Leben” an sich zu ziehen, die auf übernatürlichem Wege die Fähigkeiten des Königs “umschlangen”. Aber das Ideogramm uas, “Kraft”, ist das Zepter, das die Götter und die Könige tragen, ein Ideogramm, das in den älteren Texten für ein anderes Zepter in Zackenform steht, in welchem man den Zickzack des Blitzes erkennt. Die königliche “Kraft” erscheint so als eine Manifestation der himmlischen Blitzeskraft; und die Vereinigung der Zeichen “Leben-Kraft”, ânshûs, bildet ein Wort, das auch die “Flammenmilch” bezeichnet, von der sich die Unsterblichen nähren, seinerseits nicht ohne Beziehung zum uraeus, der göttlichen Flamme, die bald lebenserweckend, bald zerstörerisch wirkt und deren Symbol das Haupt des ägyptischen Königs umgibt. Die verschiedenen Elemente konvergieren also ausschließlich in der Idee einer “nicht irdischen” Macht (oder Fluidums) – sa – , die die sieghafte Sonnenatur des Königs weiht und beglaubigt und die von einem König zum anderen “schnellt” – sotpu – , die ununterbrochene “goldene” Kette des “Königsgeschlechts” bildend, das zum Regieren bestimmt ist [Einer der Namen der ägyptischen Könige ist "Horus aus Gold gemacht", wo das Gold das "solare" Fluidum bezeichnet, aus dem der "unverwesliche Leib" der Unsterblichen entsteht: gleichzusetzen der obengenannten "Flammenmilch" und der "Blitzeskraft", die beide sich ebenfalls an der Sonnenflamme stärken und sich auf den König beziehen. Nicht uninteressant ist der Hinweis, daß der Ruhm in der christlichen Überlieferung als Attribut Gottes figuriert – gloria in excelsis deo – und daß nach der mystischen Theologie in der "Glorie" sich die Vision der "Seligpreisung" erfüllt. Die christliche Ikonographie pflegt sie als Aureole um das Haupt der Heiligen zu breiten, die den Sinn den königlichen ägyptischen uraeus und der Strahlenkrone des iranisch-römischen Königtums wiedergibt.].
Nach der Überlieferung des Fernen Ostens hat der König, der “Sohn des Himmels” – t’ien – tze – , d.h., der nicht nach den Gesetzen der Sterblichen Geborene, den “himmlischen Auftrag” – t’ien – ming – , der gleichfalls die Idee einer übernatürlichen realen Kraft mit einbegreift. Die Art dieser Kraft “vom Himmel” ist nach der Bezeichnung des Lao-tze Tun – ohne – Tun (wei – wu – wei) oder immaterielle Tat durch Gegenwart. Sie ist unsichtbar wie der Wind und hat gleichwohl das Unwiderstehliche einer Naturgewalt: die Kräfte des gewöhnlichen Menschen – sagt Meng-tze – biegen sich darunter wie sich die Halme unter dem Wind biegen [Über die Art der "Tugend", deren Inhaber der König ist, vgl. Dschung-yung, XXXIII, 6, wo es heißt, daß die geheimen Aktionen des "Himmels" den äußersten Grad des Immateriellen erreichen – "sie haben weder Klang noch Geruch", sie sind zart "wie die leichteste Feder". Zum Tun – ohne – Tun vgl. ebd. XXVI, 5 – 6: "Es gleichen sich die im höchsten Grade vollkommenen Menschen durch die Weite und die Tiefe ihrer Tugend der Erde an; durch die Höhe und den Glanz derselben gleichen sie sich dem Himmel an; durch die Ausdehnung und die Dauer gleichen sie sich dem Raum und der Zeit an, die ohne Grenzen sind. Der, welcher in dieser herrlichen Vollkommenheit lebt, er zeigt sich nicht und dennoch offenbart er sich, wie die Erde, durch seine Wohltätigkeit; er bewegt sich nicht und dennoch bewirkt er, wie der Himmel, vielfachen Wandel; er handelt nicht und dennoch bringt er, wie Raum und Zeit, seine Werke zur letzten Vollendung". Weiter unten – XXXI, 1 – wird gesagt, daß nur ein solcher Mensch "würdig ist, die höchste Autorität zu besitzen und den Menschen zu befehlen."]. In dieser Kraft oder “Tugend” verankert, bildete der Herrscher im alten China tatsächlich das Zentrum einer jeden anderen Sache oder Energie. Man war überzeugt, daß von seinem Verhalten insgeheim nicht nur Glanz oder Elend seines Reiches abhing (es ist die “Tugend” – te’ – des Herrschers, weniger sein Beispiel, wodurch das Betragen seines Volkes gut oder böse wird), sondern auch der geregelte und günstige Verlauf der Naturereignisse selbst. Seine Funktion als Mittelpunkt implizierte sein Verharren in jener innerlichen, “sieghaften” Seinsart, von der die Rede war und der hier der Sinn des bekannten Ausdrucks “Unveränderlichkeit in der Mitte” entsprechen mag. Aber wenn dem so ist, kann keine Macht gegen seine “Tugend” aufkommen, um den überlieferungsgemäß geordneten Verlauf der menschlichen und selbst der natürlichen Dinge zu stören. Bei jedem normalen Ereignis mußte also der Herrscher die letzte Ursache und die geheime Verantwortung dafür in sich selbst suchen.
Allgemeiner gesagt, die Idee von heiligen Eingriffen, durch die der Mensch mit seinen verborgenen Kräften die natürliche Ordnung aufrecht erhält und sozusagen das Leben der Natur erneuert, gehört einer frühesten Überlieferung an und interferiert sehr häufig mit der Königsidee selbst. Daß die erste und wesentlichste Funktion des Königs im Vollzug jener rituellen und sakrifikalen Handlungen besteht, die den Schwerpunkt des Lebens in der traditionsgebundenen Welt darstellten, ist jedenfalls eine Idee, die in allen regulären Formen der Überlieferung fortdauert, bis zu den griechischen Städten und bis auf Rom [Aristoteles (Pol. VI, 5, 11; vgl. III, 9) sagt: "Die Könige haben diese ihre Würde dadurch, daß sie Priester eines gemeinschaftlichen Kultes sind." Die wichtigste Handlung, die dem König von Sparta zukam, war die Darbringung von Opfern; und dasselbe ließe sich von den ersten römischen Königen sagen und dann auch von den Herrschern der Kaiserzeit.], indem sie die schon erwähnte Untrennbarkeit der königlichen Würde von den sakrifikalen und pontifikalen erzeugt. Der König, mit nichtirdischen Kräften versehen, ein göttliches Wesen, erschien auf natürlichem Wege als der, welcher unmittelbar fähig ist, die Macht der Riten zur Entfaltung zu bringen und die Wege zur höheren Welt zu erschließen. In jenen Formen der Überlieferung, in denen eine besondere Priesterkaste erscheint, gehört deshalb der König, wenn er seiner ursprünglichen Würde und Funktion entspricht, ihr an, und zwar als ihr Oberhaupt, pontifex maximus. Wenn wir, umgekehrt, bei gewissen Völkern den Brauch vorfinden, beim Eintritt eines Versagens das Oberhaupt abzusetzen oder zu beseitigen – denn dieses Versagen galt ihnen als ein Verfallszeichen der mystischen Kraft des “Glücks”, derentwegen man das Recht hatte, Oberhaupt zu sein – , so haben wir hier den Widerhall von etwas, das, wenn auch in Formen materialistischer Entartung, uns auf dieselbe Ideenfolge zurückführt. Und bei den nordischen Völkern, bis zur Zeit der Goten, wo das Prinzip der königlichen Göttlichkeit zwar unangetastet blieb (der König wurde hier Ases genannt, der Eigenname einer bestimmten skandinavischen Götterkategorie), galt als ein unglückliches Ereignis, wie z.B. eine Hungersnot, eine Seuche oder eine Mißernte, wenn auch nicht gerade als das Fehlen der an den König gebundenen mystischen Macht des “Glücks”, so doch als der Effekt von etwas, das der König begangen haben mußte, und das die objektive Wirksamkeit seiner Macht unterband.
Man verlangte deshalb vom König, daß er die symbolische und solare Eigenschaft des invictus – sol invictus, élios aníketos – bewahre und damit den Zustand einer unerschütterlichen und übermenschlichen Zentralität aufrecht erhalte, die genau der Idee des Fernen Ostens von der “Unerschütterlichkeit in der Mitte” entspricht. Andernfalls ging die Kraft, und mit ihr die Funktion, auf denjenigen über, der bewies, daß er sie besser an sich zu ziehen verstand. Schon hier kann man auf einen der Fälle hinweisen, in denen die Vorstellung vom “Sieg” zum Knotenpunkt verschiedener Bedeutungen wird. Wer sie richtig versteht, für den ist in dieser Beziehung höchst bedeutungsvoll die Legende vom König der Wälder von Nemi, dessen Würde in einer Zeit des König – und Priestertums auf den überging, dem es gelungen wäre, ihn zu überraschen und zu “töten” – und bekannt ist auch Frazers Versuch, mannigfache Überlieferungen gleichen Typs, die es so ziemlich überall auf der Welt gibt, auf eben diese Legende zurückzuführen. Natürlich ist hier die “Probe” als körperlicher Kampf – sollte er auch in Wirklichkeit nie stattgefunden haben – nur die materialistische Reduktion von etwas, dem eine höhere Bedeutung innewohnt. Um den tieferen Sinn erfassen zu können, der sich in der Legende des Priester-Königs von Nemi verbirgt, muß man sich erinnern, daß nach der Überlieferung den Rex Nemorensis zu stellen nur ein “entflohener Sklave” berechtigt war (d.h. esoterisch verstanden, ein den Fesseln der inferioren Natur entflohenes Wesen), nachdem er zuvor in den Besitz eines Zweiges der heiligen Eiche gelangt ist. Aber die Eiche ist gleichwertig mit dem “Baum der Welt” vieler anderer Überlieferungen und ein ziemlich gebräuchliches Symbol, um die Urkraft des Lebens zu bezeichnen; womit ausgedrückt wird, daß nur ein Wesen, das an dieser Kraft teilhaben will, danach trachten kann, dem Rex Nemorensis die Würde zu entreißen. Was diese Würde anbelangt, ist daran zu erinnern, daß die Eiche und auch das Gehölz, dessen “rex” der Priester – König von Nemi war, in Beziehung zu Diana stand und daß Diana sogar die “Buhlerin” des Königs der Wälder war. Die großen asiatischen Göttinnen der Natur wurden in den alten Überlieferungen des orientalischen Mittelstandes oftmals durch heilige Bäume symbolisiert: worin wir, unter den Symbolen, die Idee von einem Königtum entdecken, das sich herleitet von der Vermählung oder Paarung mit dieser mystischen “Lebens”-Kraft – die auch die der transzendenten Weisheit und der Unsterblichkeit ist – , verkörpert sowohl in der Göttin als auch im Baum. So bekommt die Sage von Nemi die allgemeine Bedeutung, die wir in vielen anderen Mythen und Legenden der Überlieferung finden, nämlich die eines “Siegers” oder “Helden”, der als solcher an Stelle des rex in den Besitz einer Frau oder Göttin gelangt, die in anderen Überlieferungen in der indirekten Bedeutung einer Hüterin von Früchten der Unsterblichkeit auftritt (die Frauengestalten in Beziehung zum symbolischen Baum in den Mythen von Herakles, Jason, Gilgamesch usw.) oder in der direkten Bedeutung einer Personifikation der geheimen Kräfte der Welt und des Lebens oder des übermenschlichen Wissens [Vgl. J. Evola, La tradizione ermetica, Bari 1931, S. 13 – 25. Einige alte Überlieferungen, in Bezug auf einen "weiblichen" Ursprung der Königsmacht, lassen sich zuweilen nach dieser Maßgabe auslegen. Ihre Bedeutung ist dann genau die entgegengesetzte von jener, die der "gynäkokratischen" Anschauung eignet, auf die wir vielleicht bei anderer Gelegenheit zurückkommen werden. – Über den Zusammenhang zwischen göttlichem Weib, Baum und sakralem Königtum vgl. auch die Wendungen im Zohar (III, 50b., III, 51a – auch II, 144b, 145a, mit Bezugnahme auf Moses als Gemahl der "Matrone"), wo es heißt, daß "der Weg, der zum großen Lebensbaum führt, die große Matrone ist" und daß "alle Macht des Königs in der Matrone wohnt", da die "Matrone" die "weibliche" und der Gottheit immanente Form ist; jene, der später bei den Gnostikern, als "heiligem Geist", oftmals wieder ein weibliches Sinnbild entspricht (die Jungfrau Sophia). In der japanischen Überlieferung , die bis heute unverändert fortbesteht, wird der Ursprung der Kaisermacht auf eine Sonnengöttin zurückgeführt – Amaterasu Omikami –, und der Kernpunkt der Zeremonie für den Aufstieg zur Macht – dajo sai – ist durch die Beziehung gegeben, die der König mit ihr durch die "Darreichung der neuen Speise" anknüpft. – Was den "Baum" anbelangt, ist der Hinweis nicht uninteressant, daß er auch in den mittelalterlichen Sagen in Beziehung zur Kaiseridee bleibt: der letzte Kaiser wird vor seinem Tode Zepter, Krone und Schwert am "dürren Baume" aufhängen, der sich gewöhnlich in der symbolischen Region des Presbyters Johannes befindet, genau wie der sterbende Roland sein unzerbrechliches Schwert am "Baume" aufhängt. Weitere Übereinstimmung: Frazer hat auf die Beziehung hingewiesen zwischen dem Zweig, den der entflohene Sklave von der heiligen Eiche der Nemi brechen muß, um mit dem König der Wälder kämpfen zu können, und dem Goldenen Zweig, der Aeneas erlaubt, als Lebender in die Unterwelt hinunterzusteigen, d.h. als Lebender in das Unsichtbare eingeweiht zu werden zu können. Nun wird aber eines der Geschenke, die Kaiser Friedrich II. von dem Presbyter empfängt, gerade ein Ring sein, der "unsichtbar" macht (d.h. in der Unsterblichkeit und ins Unsichtbare versetzt: in den griechischen Überlieferungen ist die Unsterblichkeit des Helden oft ein Synonym für ihren Übergang zum unsterblichen Leben) und der den "Sieg" verschafft: genau wie Siegfried in den Nibelungen durch die symbolische Tugend des Sich-unsichtbar-machens die "göttliche" Brunhild bezwingt und zum königlichen Hochzeitslager führt. ].
Reste von Überlieferungen, in denen die in der archaischen Sage vom König der Wälder enthaltenen Themen wiederkehren, bleiben übrigens bis zum Ende des Mittelalters, wenn nicht noch länger, erhalten und sind stets mit dem antiken Gedanken verknüpft, daß das rechtmäßige Königtum die Neigung hat, auch in spezifischer und konkreter, wir möchten sagen “experimenteller” Weise untrügliche Zeichen seiner übernatürlichen Natur zu bekunden. Ein einziges Beispiel: vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges verlangte Venedig von Philipp von Valois, daß er sein tatsächliches Recht, die Königskrone zu tragen, durch eines der folgenden Mittel beweise. Das erste, das der Sieg über seinen Widersacher ist, mit dem er auf dem Turnierplatz hätte kämpfen müssen, bringt uns in der Tat auf den Rex Nemorensis und auf die mystische Beglaubigung eines jeden “Sieges” zurück [Bei anderer Gelegenheit werden wir die Auffassung noch besser erhellen, die uns hier – wie, allgemeiner, in der "Waffenprobe" bestimmten mittelalterlichen Rittertums – eigentlich nur in grob materialistischer Form entgegentritt. Der Überlieferung nach war der Sieger nur insofern ein solcher, als sich in ihm eine übermenschliche Energie verkörperte; und eine übermenschliche Energie verkörperte sich in ihm, insofern er Sieger wurde: zwei Momente in einem einzigen Akte, das Zusammentreffen eines "Abstieges" mit einem "Aufstieg".]. Über die beiden anderen Mittel liest man in einem Texte der Zeit: “Wenn Philipp von Valois, wie er behauptet, wahrer König von Frankreich ist, soll er es dadurch zeigen, daß er sich hungrigen Löwen aussetzt, denn die Löwen verwunden nie einen wirklichen König; oder aber er vollbringe das Wunder der Heilung von Kranken, wie es die anderen wahren Könige zu vollbringen pflegen… Im Falle des Mißerfolges würde man ihn seiner Krone als unwürdig erachten.”
Die übernatürliche Macht, die sich im Sieg oder in der thaumaturgischen Tugend offenbart, läßt sich also auch in Zeiten, welche wie die Philipp von Valois schon in die “moderne” Ära fallen, nicht trennen von der Idee, die man traditionsgemäß vom wahren und rechtmäßigen Königtum hatte [Die thaumaturgische Tugend wird von der Überlieferung auch den römischen Kaisern Hadrian und Vespasian bestätigt (Tacitus, Hist., IV, 81; Sueton, Vespas., VII). Bei den Karolingern finden wir Spuren einer Idee, derzufolge sich die soterische Kraft gleichsam materiell bis in die Königsgewänder auswirkt. Angefangen von Robert dem Frommen, über die Könige von Frankreich, und von Eduard dem Bekenner über jene von England, bis zum Zeitalter der Revolutionen, überträgt sich sodann auf dynastischem Wege die thaumaturgische Macht, die sich zunächst auf die Heilung aller Krankheiten erstreckt, sich später auf einige von ihnen beschränkt und sich in tausenden von Fällen erprobt hat, so sehr, daß sie nach einem Wort von Pierre Mathieu "als einziges Wunder von Dauer in der Religion der Christen" erscheint. Zu den geistigen Einflüssen, die sich in den Helden auswirkten, deren Kult man in Griechenland feierte, zählte man außer den prophetischen oft auch die soterische Tugend.]. Und sieht man auch ab von der tatsächlichen Angleichung der einzelnen Personen an sie, so bleibt doch die Idee bestehen, daß “das, was die Könige in solche Verehrung gebracht hat, hauptsächlich die göttlichen Tugenden und Kräfte gewesen sind, die nur in ihnen vorhanden waren und nicht auch in anderen Menschen”. Joseph de Maistre schreibt: “Gott setzt die Könige buchstäblich ein. Er bereitet die Königsgeschlechter vor; er läßt sie in einer Wolke gedeihen, die ihren Ursprung verhüllt. Endlich treten sie hervor, mit Ruhm und Ehre gekrönt; sie setzen sich ein, und das ist das größte Zeichen ihrer Rechtmäßigkeit. Sie steigen von selbst empor, ohne Gewalt von der einen Seite und ohne ausdrückliche Verhandlung von der anderen. Hier herrscht eine gewisse großartige Ruhe, die nicht leicht zu beschreiben ist. Rechtmäßige Usurpation – das schiene mir der treffendste Ausdruck (wäre er nicht zu kühn), um diese Art von Ursprung zu bezeichnen, dem die Zeit dann bald ihre Weihe erteilt.” [Auch in der iranischen Überlieferung herrschte die Ansicht, daß die Natur eines königlichen Wesens sich früher oder später unweigerlich durchsetzen müsse. Der Stelle von De Maistre entnimmt man den Brauch des symbolischen Verhüllens mit einer Wolke, den man traditionsgemäß, in Griechenland vor allem, auf die geraubten und unsterblich gemachten "Helden" anwandte; außerdem wird hier die alte mystische Idee des Sieges ersichtlich, insofern das "Sich-Einsetzen" nach De Maistre das "größte Zeichen für die Rechtmäßigkeit" der Könige ist.]
(Veröffentlichung in: Deutsches Adelsblatt, 04.03.1933)