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dimanche, 08 décembre 2013

Thomas Manns Protest gegen den Zivilisationsliteraten

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Thomas Manns Protest gegen den Zivilisationsliteraten

Als Thomas Mann seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“ schrieb, war er noch streng deutschnational und kriegsbejahend gesinnt. Das sollte sich bald ändern: Schon kurze Zeit später distanzierte sich Mann von seinem schriftstellerischen Beitrag zum Ersten Weltkrieg und avancierte zum Vernunftrepublikaner, der die Weimarer Republik publizistisch gegen ihre Feinde von rechts und links verteidigte. Manns frühe Betrachtungen sind allerdings nicht einfach als dumpfe Kriegspropaganda abzustempeln, sondern stellen große Literatur dar, die darüber hinaus immer noch wichtige Einsichten politischer und kultureller Art zu vermitteln in der Lage ist. Mit Blick auf seinen Bruder Heinrich –damals pazifistisch eingestellt und ein eifernder Gegner des heraufziehenden Krieges – entwarf Mann die Figur des Zivilisationsliteraten, der gegen sein eigenes Land als intellektueller Agent der Westmächte publizistisch zu agitieren begann. Natürlich ist diese Figur stereotypisch überzeichnet; wir dürfen aber davon ausgehen, dass dieser Typus damals zuhauf Repräsentanten fand – und bis heute findet. Thomas Mann verketzert das Zivilisationsliteratentum jedoch nicht als „Verräterei“ und schiebt sie auf die Feindseite ab, sondern fragt nach den tieferen Ursachen dieses Phänomens.

Dabei stellt er fest, dass die innere geistige Einheitlichkeit und Geschlossenheit, wie sie bei allen europäischen Nationen gerade in Kriegszeiten besonders entwickelt ist, für Deutschland nicht so einfach in Anschlag zu bringen ist: Deutschland sei keine Nation in diesem Sinne, denn es habe eine andere Bildungsgeschichte und einen anderen Menschlichkeitsbegriff. Die geistigen Gegensätze seien so stark ausgeprägt, dass sie ein nationales Band nur schwerlich umfassen und vereinigen könne. Das liege vor allem daran, dass diese Gegensätze weniger nationaler als europäischer Art sind, die ihre Spannungen auf deutschem Boden und in deutscher Seele entladen: „In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen, — im mütterlichen und im kämpferischen Sinne ›ausgetragen‹. Dies ist seine eigentliche nationale Bestimmung. Nicht physisch mehr — dies weiß es neuerdings zu verhindern —, aber geistig ist Deutschland immer noch das Schlachtfeld Europas.“ Infolge von Deutschlands Mittellage in Europa gerät es nicht nur in eine geopolitische Bedrohungssituation, sondern wird zum seelischen Kampfplatz für europäische Gegensätze. Das bedeutet nicht nur, als eine permanente Arena eines Kulturkampfes zu dienen, sondern auch eine geistig-kulturelle Gemengelage, die künstlerischer Schaffenskraft eine produktive Anarchie von singulärer Qualität ermöglicht. Der Preis dafür fällt hoch aus: es ist die Zersplitterung der deutschen Seele, die wie der ehemalige Flickenteppich deutscher Lande zerrissen und unversöhnlich fragmentiert daliegt. Es entsteht eine Geistesspaltung, die nicht nur die Seele der Nation durchfährt, sondern auch die Seele jedes einzelnen Deutschen, sein Kopf und sein Herz. Deutschtum – das ist nach Mann also keineswegs ein festgefügtes Wesen, eine fertige Festung, die lediglich nach außen verteidigt werden müsste, nein: Deutschtum ist durch und durch problematisch, es ist selbst ein Problem, eine unbeantwortete Frage. Welche Gefahr bestünde nun für Deutschland, falls es den Weltkrieg verlöre und dem Westen einverleibt würde? Wäre das nicht ein nachhaltiger Beitrag für den Frieden in Europa? Nicht zufällig berufen sich die gegenwärtigen EU-Propagandisten, wenn sie ihre Vision in Frage gestellt sehen oder weitere Forderungen und Maßnahmen durchsetzen wollen, auf diese ideologische Legitimationsformel. „Westintegration“, „westliche Wertgemeinschaft“, „der Frieden in Europa“ – ob mit Krieg oder ohne, es sind bis heute die unhinterfragbaren Grundaxiome, die das Fundament bundesrepublikanischen Selbstverständnisses abgeben sollen. Die deutsche Eigenart kommt hingegen überhaupt nicht mehr vor, nicht mal mehr an zweiter Stelle. Was sagt nun Thomas Mann zu Deutschlands nationaler Neutralisation? „Wessen Bestreben es wäre, aus Deutschland einfach eine bürgerliche Demokratie im römisch-westlichen Sinn und Geiste zu machen, der würde ihm sein Bestes und Schwerstes, seine Problematik nehmen wollen, in der seine Nationalität ganz eigentlich besteht; der würde es langweilig, klar, dumm und undeutsch machen wollen und also ein Anti-Nationalist sein, der darauf bestünde, daß Deutschland eine Nation in fremdem Sinne und Geiste würde . . .“ Bei „bürgerlicher Demokratie im römisch-westlichen Sinne“ dürfen wir nicht primär an eine Staatsform denken, sondern es ist eine ganz andere politische Kultur gemeint, die heute nicht wesentlich anders aussieht als damals; man könnte sie „Weltbürgertum“ oder „Weltzivilisation“ nennen, eine imperialistische Bestrebung, die darauf abzielt, das globale Dorf zu begründen, das multikulturelle Traumparadies oder den ewigen herrschaftsfreien Diskurs im Maßstab der Weltkommunikation. Totale Menschheit, totale Toleranz, totaler Fortschritt. Wenn Deutschland darin aufgehen würde, würde es aufhören, Problem zu sein bzw. überhaupt zu sein. Um zu verstehen, warum Mann diese Option, die heute wahrscheinlicher als je erscheint, so perhorresziert, müssen wir die Rolle klarer herausstellen, die unser Land laut ihm in seiner Geschichte gegen den Westen einnahm. Helmut Plessner sprach abfällig von der „verspäteten Nation“ und bescheinigte Deutschland einen zivilisatorischen Rückstand gegenüber Frankreich und England. Mann perspektiviert denselben Sachverhalt andersherum und dreht ihn ins Positive: Deutschland sei immer das protestierende Reich gegen den „römischen Westen“ gewesen. Es machte bei dessen universalistischen Heilsphantasien nicht mit und scherte ostentativ aus. Es erwies sich dadurch als das protestantische Land im wahrsten Sinne des Wortes.

Was tut der Zivilisationsliterat? Nun, er protestiert gegen den Protest und „fordert den innigen Anschluß Deutschlands an das Zivilisationsimperium“. Er bekennt sich nicht nur dazu, er kämpft tatsächlich auf der Gegenseite. Er ist inneres Ausland. Und trotzdem: Mann hütet sich, ihn als Vaterlandsverräter oder „undeutsch“ zu denunzieren:  „Der Begriff ›deutsch‹ ist ein Abgrund, bodenlos, und mit seiner Negation, der Entscheidung ›undeutsch‹, muß man äußerst vorsichtig umgehen, um nicht zu Fall und Schaden dabei zu kommen.“ Da der Begriff „deutsch“ ohnehin abgründig ist und eigentlich bereits eine Negation darstellt, ist die Negation dieser Negation eine schwierige Angelegenheit. Anders gesagt: Wenn Deutschtum wesentlich Negativität bedeutet, schließt es auch seine eigenen Negationen in sein positives Wesen mit ein, so dass den Zivilisationsliteraten auch ein gewisser Patriotismus nicht abzusprechen ist. Nur: „Ihr Patriotismus bekundet sich dergestalt, daß sie die Vorbedingung der Größe, oder, wenn nicht der Größe, so doch des Glückes und der Schönheit ihres Landes nicht in seiner störenden und Haß erregenden »Besonderheit«, sondern, um es zu wiederholen, in seiner bedingungslosen Vereinigung mit der Welt der Zivilisation, der Literatur, der herzerhebend und menschenwürdig rhetorischen Demokratie erblicken, — welche Welt durch die Unterwerfung Deutschlands in der Tat komplett würde: ihr Reich wäre vollendet und umfassend, es gäbe keine Opposition mehr gegen sie.“ Der Triumph des Westens wäre das globale Universalreich der Kommunikation, die offene Gesellschaft ohne ihre Feinde, oder negativer gesprochen: der totale Konformismus einer gleichförmigen ‚One World’ ohne Opposition und Protest, zu denen gerade Deutschland nach Thomas Mann die geistig-kulturelle Potenz besessen hätte. Vielleicht steht dessen Ausfall nicht zuletzt mit der sukzessiven Annäherung an diesen scheinbar alternativlosen Weltzustand in kausalem Zusammenhang.

Doch lassen wir Mann diese schwammige Ideologie noch weiter konkretisieren, damit hinter ihrer zuckrigen Fassade zugleich auch ihre Peitsche sichtbar wird. Er nennt den Zivilisationsliteraten einen Pleonasmus. Was bedeutet das? Letztendlich, dass die Zivilisation, die der Zivilisationsliterat propagiert, eben nichts anderes als Literatur ist! Das heißt keine realpolitisch mögliche Wirklichkeit, sondern eine utopische Fiktion, die bestenfalls in Träumen oder Romanen ihren angemessenen Platz hat. Ihre Demokratie ist pure Rhetorik. Mann entlarvt sie als Kopfgeburt der französischen Revolution, als deren zeitgenössische Vollstecker sich die Zivilisationsliteraten verstehen: „Frankreich ist sein Land, die Revolution seine große Zeit, es ging ihm gut damals, als er noch ›Philosoph‹ hieß und in der Tat die neue Philosophie, nämlich die der Humanität, Freiheit, Vernunft vermittelte, verbreitete, politisch zubereitete…“ Der Zivilisationsliterat –ein „Element des nationalen Schicksals“ – erweist sich deshalb als so gefährlich, weil er den Monopolanspruch und die Definitionshoheit über solche Begriffe wie Menschheit und Brüderlichkeit errungen hat, obwohl wer Menschheit sagt, auch betrügen könnte oder Brüderlichkeit und Blutgerüste nahe beieinanderliegen könnten. Das sieht man diesen abstrakten Begriffen allerdings nicht an, sondern höchstens ihren historischen Verwirklichungsversuchen und zwar erst dann, wenn es schon zu spät ist. Um historische Durststrecken zu überbrücken und Aktivierungsenergie für die vernünftige Menschheitsrepublik zu sammeln, identifiziert sich der Zivilisationsliterat gerne mit dem Lauf der Geschichte selbst, die er als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit denkt:  „Das Bewußtsein, den ›Fortschritt‹ für sich zu haben, zeitigt offenbar eine sittliche Sicherheit und Selbstgewißheit, die der Verhärtung nahekommt und schließlich das Gemeine zu adeln glaubt, einfach dadurch, daß sie sich seiner bedient.“ Wer für den Fortschritt ist, dem ist alles erlaubt und darf jedes Mittel recht und billig sein. Wer diesen hingegen in Frage stellt, den trifft das Gemeine mit voller Breitseite.

Mann weigert sich jedoch hartnäckig, den Zivilisationsliteraten dasjenige Schicksal zuzumuten, das er seinen Feinden aufbürden will, sie nämlich zur persona non grata außerhalb von Recht und Menschheit zu deklarieren und für verbale und physische Barbarenschelte freizugeben: „Undeutsch? Aus allen meinen Kräften wehre ich mich dagegen, ihn undeutsch zu nennen, und werde nicht aufhören, mich dagegen zu wehren, solange die Kräfte mir nicht versagen. Man kann höchst deutsch sein und dabei höchst antideutsch. Das Deutsche ist ein Abgrund, halten wir fest daran.“ Im Zivilisationsliteraten schaut „Der Deutsche“ in seinen eigenen Abgrund: „Selbstekel und Einfremdung, kosmopolitische Hingebung und Selbstentäußerung“, die auch Teil deutschen Wesens sind, seines tief gespaltenen Wesens. Aber nicht nur das. Wenn er genauer hinsieht, würde er ebenso das Antlitz eines fremden Nationalismus erkennen, und zwar nationalfranzösischer Art: „Er ist einer der besten französischen Patrioten. Der Glaube trägt ihn und verleiht seinem Stile zuweilen ein herrliches Tremolo, einen bewunderungswürdigen Schwung: der Glaube an die Ruhmes- und Missionsidee seines — des französischen — Volkes und daß es ein für allemal zum Lehrer der Menschheit berufen sei, berufen, ihr ›die Gerechtigkeit‹ zu bringen, nachdem es ihr ›die Freiheit‹ gebracht hat (welche aber aus England stammt). Er denkt nicht nur in französischer Syntax und Grammatik, er denkt in französischen Begriffen, französischen Antithesen, französischen Konflikten, französischen Affären und Skandalen. Der Krieg, in dem wir stehen, erscheint ihm, völlig entente-korrekt, als ein Kampf zwischen ›Macht und Geist‹ — das ist seine oberste Antithese! —, zwischen dem ›Säbel‹ und dem Gedanken, der Lüge und der Wahrheit, der Roheit und dem Recht. (Ich brauche nicht hinzuzufügen, auf welcher Seite nach seiner Ansicht sich Säbel, Roheit und Lüge, auf welcher sich die antithetisch entsprechenden Ideale befinden.)“ Diese manichäische Logik, obwohl sie bei weitem nicht mehr so martialisch daherkommt, dauert bis heute fort, nur mit dauernd veränderter Rollenbesetzung: Zivilisation gegen Barbarei, die Guten gegen das Reich des Bösen, der Aufstand der Anständigen usw. Wer so redet, führt eine Feindbestimmung durch und meldet politische Hegemonieansprüche unter einem moralischen Denkmäntelchen an. Wer will schließlich nicht gerne mit den Heeren des Geistes und der Zivilisation marschieren? Widersprechende müssen verrückt, dumm oder krank sein. Aber wieso überhaupt noch marschieren? Ist der Zivilisationsliterat nicht notwendig Pazifist, weil er den Geist verkörpert? Ganz im Gegenteil, urteilt Mann: „Es verhält sich so, daß der Zivilisationsliterat den Krieg nicht mißbilligt, wenn dieser im Dienste der Zivilisation unternommen wird. […] Wie könnte denn auch der Schüler der Revolution — um nicht zu sagen: ihr Epigone — das Vergießen von Blut um der guten Sache, um der Wahrheit, des Geistes willen grundsätzlich verurteilen? »Entschlossene Menschenliebe« — das Wort gehört dem Zivilisationsliteraten - entschlossene Menschenliebe ist nicht blutscheu;“ Entschlossene Menschenliebe heiligt also das Mittel des Krieges, der zunehmend Kreuzzugscharakter gewinnt, insofern er ja im Zeichen von Menschheit, Zivilisation und Gerechtigkeit steht. Die Gegner sind damit per definitionem die Menschenhasser und Barbaren, deren Anliegen jede Legitimität abgesprochen wird. Wir haben es hier mit der pervertierten Renaissance des gerechten Krieges zu tun, der in dem Maße, wie er mit Sendungsbewusstsein und Missionseifer aufgeladen ist, seine Feinde entmenschlicht. Das Ziel des Zivilisationsliteraten lässt sich mit keinen geringeren Vokabeln umschreiben als mit „Erlösung“ oder „Befreiung“, die der römische Westen in pädagogischer Oberlehrermanier seinem frechen Ziehsohn Deutschland beibringen will: „»Deutschland wird sich schicken müssen«, sagte er damals, und seine Augen glommen. Deutschland wird endlich artig sein müssen, sagte er, und es wird dann glücklich sein wie ein Kind, das nach Schlägen schrie und, wenn es welche bekommen hat, dankbar ist, daß man seinen Trotz gebrochen, ihm über seine Hemmungen hinweggeholfen, es erlöst, es befreit hat. Wir erlösen und befreien Deutschland, indem wir es schlagen, es auf die Knie werfen, seine böse Renitenz, ihm selbst zur Wohltat, brechen und es zwingen, Vernunft anzunehmen und ein ehrenwertes Mitglied der demokratischen Staatengesellschaft zu werden.“ Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn sich das westliche Zivilisationsimperium global durchgesetzt und die Renitenz seiner Feinde nachhaltig eliminiert hätte – eine Weltsituation, die heute nicht mehr als allzu weit hergeholt erscheint, nachdem Deutschland als Bastion des Protestes nach zwei Weltkriegen endgültig unter die Fittiche der westlichen Wertegemeinschaft genommen und in eine der Vorzeigekolonien der Weltzivilisation verwandelt wurde? Thomas Mann formulierte diese Option noch vorsichtig im Konjunktiv, weil die letzten Entscheidungen noch nicht gefallen waren: „Gesetzt, das wäre geschehen, die Entente ihrerseits hätte rasch und glänzend gesiegt, die Welt wäre vom deutschen ›Alpdruck‹, dem deutschen ›Protest‹ befreit worden, das Imperium der Zivilisation hätte sich vollendet, oppositionslos übermütig geworden: das Ergebnis wäre ein Europa gewesen, — nun, ein wenig drollig, ein wenig platt-human, trivial-verderbt, feminin-elegant, ein Europa, schon etwas allzu ›menschlich‹, etwas preßbanditenhaft und großmäulig-demokratisch, ein Europa der Tango- und Two-Step-Gesittung, ein Geschäfts- und Lusteuropa à la Edward the Seventh, ein Monte-Carlo-Europa, literarisch wie eine Pariser Kokotte.“ Die Neutralisierung Deutschlands beträfe das kulturelle Gepräge Gesamteuropas: Der ganze Kontinent durchliefe eine Entwicklung, in deren Zuge er zu einem „Geschäfts- und Lusteuropa“ degenerierte, das – obwohl im Zeichen von „human freedom und peace“ – tatsächlich die eigene geistg-kulturelle Prostitution zelebrierte. Sind wir heute noch so weit davon entfernt? Auch Mann gab schon zu, dass es eine Entwicklung sei, „die ich für notwendig, da heißt: für unvermeidlich halte“, ein „Fortschritt, – der mir, nicht selten wenigstens, als unaufhaltsam und schicksalsergeben erscheint und den an meinem bescheidenen Teile zu fördern mein eigenes Schicksal ist“. Der ‚Protest’ gegen den ‚Fortschritt’ sieht aussichtslos aus: „Der Fortschritt hat alles für sich. Nur scheinbar ist er die Opposition. Der erhaltene Gegenwille ist es, der in Wahrheit immer und überall die Opposition bildet, der sich in der Verteidigung befindet, und zwar in einer, wie er genau weiß, aussichtslosen Verteidigung.“

Trotzdem sollte die Verteidigung versucht, wenigstens der Nonkonformismus mit dem Zivilisationsliteratentum praktiziert werden. Es ist wichtig an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass die Zivilisationsliteraten keine bestimmte politische Gruppierung darstellen, auf die man despektierlich mit dem Finger zeigen könnte – davor hatte Mann ja schon 1918 scharf gewarnt. Der Zivilisationsliterat steht weder rechts noch links, weder oben noch unten in der Gesellschaft, sondern er ist ein Symbol, das damals wie heute nicht nur die süße Versuchung der nationalen Selbstentkernung Deutschlands anzeigt – moderner: „Deutschland schafft sich ab“- sondern zugleich auch immer für eine Grundmöglichkeit deutschen Daseins steht, die seinem abgründigen Wesen entspringt. Die andere Grundmöglichkeit deutschen Daseins ist als Gegengewicht ebenso notwendig und kann mit Mann „konservative Opposition“ oder „ästhetische Revolte“ genannt werden. Die Proponenten dieses Flügels haben sich immer wieder die Frage zu stellen, die Thomas Mann am Ende des Kapitels zu seinem Zivilisationsliteraten rhetorisch gestellt hat:  „Es handelt sich um die Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands, es gilt seine ›Vermenschlichung‹ im lateinisch-politischen Sinne und seine Enthumanisierung im deutschen . . . es gilt, um das Lieblingswort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles zusammenzufassen und auf den Generalnenner zu bringen: es gilt seine Entdeutschung . . . Und an all diesem Unfug sollte ich teilhaben?“ Um die wirklich eigene Form von Demokratie und politischer Kultur wieder zu gewinnen, um in das eigene Wesen wieder einzukehren, bedarf es vor allem eines: Mut zum Protest.

Literatur:

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen.

mercredi, 26 octobre 2011

Der Renegat der konservativen Revolution: Das Buch „Thomas Mann – Der Amerikaner“

 

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Der Renegat der konservativen Revolution: Das Buch „Thomas Mann – Der Amerikaner“
     

 Geschrieben von: Simon Meyer   

 Ex: http://www.blauenarzisse.de/

 

Als im Sommer 1914 auf die Schüsse von Sarajevo die allgemeine Mobilmachung folgte, machte einer der schon damals berühmtesten Schriftsteller Deutschlands keinen Hehl aus seiner Solidarität mit dem Reich und dessen Kriegsführung: Thomas Mann. Er wurde – nicht zuletzt wegen seines berühmten Namens – vom Kriegsdienst freigestellt. Doch sein literarisches Schaffen stellte er in den Dienst der Sache. Zwanzig Jahre später jedoch, befand er sich geographisch und politisch auf der anderen Seite.

Thomas Manns literarischer Kriegsdienst begann noch 1914 mit der Schrift Gedanken im Kriege, auf die im gleichen Jahr der Großessay Friedrich und die große Koalition folgte. Und er legte nach. 1915 verfaßte er eine leidenschaftliche Verteidigung Deutschlands in einem Beitrag für die Schwedische Tageszeitung Svenska Dagbladet. Drei Jahre später, zum Ende des Krieges, sammelte er seine Gedanken unter dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen – einem der Grundlagenwerke der Konservativen Revolution.

Flucht vor der Heimat und der eigenen politischen Vergangenheit

Um so verwunderlicher: Derselbe Schriftsteller propagierte gut zwei Jahrzehnte später aus seinem amerikanischen Exil heraus unablässig die bedingungslose Vernichtung Deutschlands als notwendig und verdient. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Thomas Mann die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben. Seit 1938 hatte er in den Vereinigten Staaten seinen ständigen Aufenthalt. Der Amerikaner Thomas Mann war den Deutschen ein Fremder geworden. In den Nachkriegsjahren war er nicht willkommen, zu frisch war bei vielen die Erinnerung an das, was Mann ihnen in den Rundfunksendungen der Alliierten entgegengeschleudert hatte. Doch auch als die Verhältnisse sich 1968 grundlegend geändert hatten, blieb er ein Fremdkörper. Zu liberal-großbürgerlich erschien Thomas Mann nun und wurde angesichts seiner frühen Schriften schon fast als unsicherer Kantonist behandelt, jedenfalls als Fossil aus einer überholten Epoche.

Warum ging Thomas Mann, der für die Buddenbrooks mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde und darin eine hanseatische Handelsfamilie beschrieb, diesen Weg? Warum wurde er nicht nur aus der Notwendigkeit des Exils sondern aus innerer Überzeugung zum Amerikaner? Wäre nicht der Weg, den etwa Gottfried Benn, Martin Heidegger oder Ernst Jünger während der Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft gingen, für ihn der wahrscheinlichere gewesen? In diese Fragestellungen, so hofft man, würde ein Buch des Deutschamerikaners Hans Rudolf Vaget, Professor an einem College in Massachusetts und ausgewiesener Kenner des Lebens und Schaffens Manns, etwas Klarheit bringen können. Dieses Buch befaßt sich mit den amerikanischen Jahren Manns, ist unlängst im S. Fischer Verlag erschienen und trägt den bezeichnenden Titel Thomas Mann, der Amerikaner.

Ein detailreicher Blick in eine wenig bekannte Epoche Manns

Der Autor beeindruckt im Buch mit einem Detailreichtum, der eine langjährige, akribische Arbeit erahnen läßt. In allen Einzelheiten schildert Vaget die Zeit und die Zeitgenossen Manns in den Vereinigten Staaten, so daß der Leser den Weg des Autors in seinem Exil bis ins einzelne nach verfolgen kann. Viele deutsche Leser Thomas Manns haben sich zunächst mit den Buddenbrooks und dem Zauberberg befaßt und haben auch Tonio Kröger und den Tod in Venedig gelesen. Alles Werke, die für den Deutschen Thomas Mann stehen. Die amerikanischen Jahre und die amerikanischen Verhältnisse jener Zeit sind oft weniger bis überhaupt nicht bekannt. Insoweit eröffnen sich durch das vorliegende Werk in großer Breite neue Aspekte auf einen Zeitraum, mit dem man sich bisher vielleicht kaum oder gar nicht eingelassen hatte.

Leider erschöpft sich das Buch auch häufig in der Aneinanderreihung von Fakten und Ereignissen. Vaget ist stärker in der Schilderung der amerikanischen Protagonisten, etwa Franklin D. Roosevelts oder der Gönnerin Manns, Agnes Meyer. Thomas Mann selbst bleibt in den Schilderungen etwas blaß. Vor allem gelingt es Vaget nicht, den eigentlichen Grund für die Entwicklung Manns aus der Fülle der Details zu entwickeln. Die Verweise auf die Beschäftigung Manns mit den Dichtern Walt Whitman oder Joseph Conrad während der zwanziger Jahren, die eine erste tiefere Verknüpfung Manns zur anglo-amerikanischen Literatur entstehen ließ, mag biographisch interessant sein. Erhellend für die Amerikanisierung Manns sind sie nicht.

Thomas Manns politischer Lagerwechsel wird nicht begründet

Die Verwandlung Manns vom Verteidiger des deutschen Sonderwegs hin zu einem glühenden Anhänger des Sozialdemokraten Roosevelt bleibt dunkel. Denn gerade Roosevelt ist dem, was Mann noch 1918 für richtig hielt diametral entgegengesetzt. Roosevelt war ein Mann von ausgesprochener Deutschfeindlichkeit, der schon vor dem Krieg bedauerte, man habe es 1918/19 versäumt, den Deutschen den ihnen gebührenden Denkzettel zu verpassen. Im Gegensatz hierzu herrschte in der amerikanischen Öffentlichkeit überwiegend die Überzeugung vor, mit Versailles weit über das Ziel hinausgeschossen zu sein, und man blickte verschämt auf das Auseinanderklaffen des eigenen Anspruchs, mit dem man 1917 angetreten war, und dem Ergebnis der Friedensbedingungen. Roosevelt ging es – ähnlich wie Churchill – nicht nur um die Beseitigung Hitlers sondern um die Vernichtung Deutschlands als Subjekt der Geschichte. Thomas Mann erkannte dies und unterstützte Roosevelt trotzdem vorbehaltlos.

Die Frage nach dem „warum“ scheint Vaget aber auch nicht besonders wichtig zu sein. Vaget ist selbst so durchdrungen von der Überzeugung der gerechten Sendung der Amerikaner. Und zwar der Amerikaner in ihrer Variante der demokratischen Partei und ihres Anspruchs auf eine Formung und Umgestaltung der Welt in ihrem Sinne. Eine Alternative, einen dritten Weg gleichsam, kann sich Vaget nicht ernsthaft vorstellen.

Wiederholt schimmert so die eigene Vorliebe des Autors für die amerikanischen Demokraten von F. D. Roosevelt bis hin zu Obama durch. Zuweilen ist es schwer zu unterscheiden, wo die Wiedergabe der Gedanken Manns endet und eigene Ansichten des Autors in den Vordergrund rücken. Man hält den Autor zunächst für einen typischen Amerikaner, der trotz seiner ausgewiesenen Kenntnisse über Goethe, Mann und Nietzsche schlußendlich doch Amerikaner bleibt. Herbert Rosendorfer bemerkte in einem seiner Bücher, sowohl Sprache als auch Geschichte Deutschlands bliebe selbst dem intelligentesten Ausländer dem Grunde nach unbegreiflich. Aber Vaget ist Deutscher, im böhmischen Marienbad geboren. Gleichwohl scheint er sich derart amerikanisiert zu haben, wie dies auch beim späten Thomas Mann der Fall war. Da ihm selbst der Zugang zu dem fehlt, was Mann vor diesem Wandel ausmachte, kann er diesen Wandel auch nicht erklären.

Jünger, Benn und Bergengruen: Das politische Exil war 1933 nicht der alleinige Weg

So selbstverständlich, wie der Autor meint, war selbst 1933 der Weg nicht, den Thomas Mann genommen hatte. Zwar galt Mann seit etwa 1922, damals für viele überraschend, als Anhänger des parlamentarischen Parteienstaats, aber noch 1933 hätte ihn das Regime zumindest aus propagandistischen Zwecken mit offenen Armen begrüßt. Warum Mann nicht in der Schweiz blieb, sondern schlußendlich ein amerikanischer Linksliberaler mit noch dazu einem zuweilen pathologischen Haß auf Deutschland und die Deutschen wurde, bleibt nach der Lektüre dieses sehr umfangreichen Werkes komplett im Dunkeln.

Man kann Thomas Mann nicht vorwerfen, die Möglichkeit eines deutschen Sonderwegs in der Moderne nicht erfaßt zu haben. Er sah dies und ging trotzdem den langen Weg nach Kaisersaschern. Thomas Mann bleibt in der Vielgestaltigkeit seiner Facetten und seiner Entwicklung ein Rätsel. Anders als viele konservativ-bürgerliche Deutsche, die der Ansicht waren, zunächst sollte der Krieg gewonnen werden, wie man danach Hitler loswerde, werde man dann schon sehen, wollte Thomas Mann zuletzt zwischen Hitler und Deutschland nicht mehr trennen. Warum wurde Thomas Mann zum Amerikaner? Eine letzte Antwort hierauf gibt auch das vorliegende Buch nicht und eine letzte Antwort kann hierauf vielleicht auch nicht gefunden werden.

Hans R. Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner. S. Fischer Verlag Frankfurt. Gebunden, 545 Seiten. 24,95 Euro

dimanche, 17 avril 2011

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen - über die Wiedersprüche der demokratischen Gesinnungsethik

       

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen - Über die Wiedersprüche der demokratischen Gesinnungsethik

Geschrieben von: Prof. Dr. Paul Gottfried (Gastautor)

Ex: http://www.blauenarzisse.de/   

 

Thomas_Mann_1937.jpgEine Vielfalt von bunten, einander verwandten Themen bilden Die Betrachtungen eines Unpolitischen, die Thomas Mann zwischen 1915 und 1918 zusammentrug und vor Kriegsende herausbrachte. Der Erstteil des Werkes erwähnt, dass der Schriftsteller ein schon angesetztes „Künstlerwerk“ beiseite schob, nämlich den Zauberberg, um sich einem zeitdringlicheren Auftrag zuzuwenden. Eine Kontinuität erschliesst sich zwischen den letzten Szenen des Romans, als Hans Castorp sich kriegsmäßig gekleidet auf dem Schlachtfeld herumtummelt, und dem tragenden Thema der Betrachtungen, die eine Verteidigung des Deutschtums in einem folgenschweren Krieg darbieten.

Als Universitätsstudent wurde mir eingehämmert, dass beides dieselbe antidemokratische Streitlust bloßlegt, die den Krieg angestossen hatte. Obendrein ist ein gradliniger Verbindungsgang vermeintlich aufzuspüren, der von Manns Empfehlung des „deutschen Sonderwegs“ in den Betrachtungen bis auf die Nazi-Gewaltherrschaft hinüberleitet. Das wurde in den relativ beschaulichen und unparteiischen USA im Jahre 1963 gelehrt. Man kann sich vorstellen, wie dröhnend dieselbe Mahnung im heutigen antifaschistischen Deutschland ertönen muss.

Der deutsche Sonderweg gegen die jakobinisch-westliche Versuchung

Dazu gehören ein paar abgrenzende Bemerkungen. Wie andere Ehrenverteidiger auf beiden Seiten versuchte Mann im Verlauf der Kriegsaktion seine Heimat vor der Propaganda ihrer Opponenten zu bewahren. Da die auf der anderen Seite ausgerichteten Polemiker wie Lord Bryce und Henri Bergson, sich als Verfechter der westlichen Demokratie mit glänzendem Erfolg ausgegeben hatten, entschied sich Mann dafür, Widerstand zu leisten und Deutschland als eine konservative, volksgemeinschaftliche Kultur vorzustellen. Im Gegensatz zu ihren Widersachern kämpften die Deutschen und ihre Verbündeten nicht für eine zivilisatorische Sendung sondern gegen die Auslöschung ihrer Lebensweise und die Verdrängung „des deutschen Wesens“ durch ein eindringende Fremdlehre, sei es das Jakobinertum oder ein getarntes Römertum im revolutionären Gewand.

Vorrangig ist die deutsche Kriegssache als ein defensiver Einsatz auszulegen, auch wenn die Deutschen gezwungen wurden, gegen die Alliierten den ersten Schlag zu richten. Auf der internationalen Ebene war es schwer, einen anderen Kurs einzuschlagen. Schon vor den Ansätzen seines Kunstwerks scharten sich Manns verhasste „Zivilisationsliteraten“ in neutralen Ländern zusammen, den anderen voran, die spanischen Literaten, José Ortega y Gasset und Azorin, um für die „liberalen Streitmächte“ die Werbetrommel zu schlagen.

250px-thomas_mann_betrachtungen_eines_unpolitischen_1918.jpgWar das deutsche Kaiserreich fortschrittlich?

Wenngleich Hermann Cohen in seiner Kampfschrift Deutschtum und Judentum (1917) die Deutschen als Vehikel einer fortschrittlichen Weltzivilization schilderte, muss zugegeben werden, dass die Alliierten die Fortschrittsargumentation wirksamer für sich vereinnahmt hatten. Zum Ausgleich dieses propagandistischen Vorsprungs wäre den deutschen Eliten geboten gewesen, eine aufklärungsfreundlichere Miene vorzuzeigen. Bestimmt vermochten die Deutschen und Österreicher ihre modernisierenden und freiheitlichen Errungenschaften hervorzuheben. Es hätte gelohnt, diesen Vorzug auszuspielen, um den Deutschfeindlichen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Mann und seine Mitkämpfer gerieten somit auf den Holzweg, als sie zum Glauben gelangten, dass die deutsche Rolle als Kulturhüter auf Entfernung von mehr als dreißig Meilen von Deutschland Anklang finden würde. Die Auseinandersetzung der Deutung von „Kultur“ und „Zivilisation“ fochten sie so in kultureller Abgeschlossenheit aus.

Auch bemerkbar sind Manns vielmalige Hinweise in den ersten sechzig Seiten auf Scheinpazifisten und auf die verachteten Kosmopoliten, die Deutschlands Geisteskräfte schwächen. Anvisiert ist vor allem Manns Bruder Heinrich, mit dem er damals zerstritten war. Anfang der Kriegsereignisse erklärte sich der linksgesinnte Heinrich für neutral, und wie der französische Romanautor Romain Rolland setzte er sich für eine Einstellung der Kriegshandlung von der Schweiz aus ein. Thomas Mann befand den „widersetzlichen“ Bruder als Fürsprecher für die Alliierten (nicht ganz grundlos). Die geringschätzenden Verweise sind nicht leicht zu kontextualisieren, ohne auf den biographischen Hintergrund Bezug zu nehmen.

Thomas Mann mit seinen Betrachtungen auf dem Holzweg: Er selbst schuf damit etwas Fremdartiges

Eine durchdringende Zwiespältigkeit zeigt auch der Text, die ebensostark auf die Befindlichkeit des Autors zurückverweist. Es bleibt im Schwanken, dass sein „Künstlerwerk“ dem deutschen Gemeinnutz dienen könnte. Mann grübelt vor sich hin, ob seine Wortkunst nicht eine unterwühlende Gabe darstellt, da sie kein wahrhaftiges Erzeugnis des „deutschen Geistes“ hergibt. Im Unterschied zu der deutschen Veranlagung zum Dichtwerk und zu musikalischen Leistungen befasst er sich mit einer „undeutschen“ Kunstform, der Schriftstellerei und erst recht mit französisch anmutenden Novellen und Romanen. Obwohl Mann deswegen nicht Abbitte tut, erscheint es (ihm vielleicht selbst zu jener Zeit), dass, was er schafft, fremdartig aussieht.

Als „Eideshelfer“, um seine patriotische Sache besser zu begründen, griff er zum Russen und Slavophil Dostojewski, der die Festigkeit und Rechtschaffenheit des deutschen Wesens pries. Angesichts dieser Hinweise wird es schwer, den Eindruck zu verfehlen, dass Mann den russischen Schriftsteller trotz seiner angegebenen Vorbehalte den Deutschen gegenüber zutiefst bewundert. Zu dem Dreigestirn von Nietzsche, Schopenhauer und Wagner, deren schöpferischer Ertrag Mann mitgeprägt hat und die er auch als Zeugen zur deutschen Größe zuzieht, kehrt er Dostojewski zum selben Zweck hervor.

Versteckte Slavo- und Frankophilie: Mann zwischen Faszination und Erschrecken über das Fremde

Es fällt ebenso in den Sinn, dass Mann von der französischen Schriftstellerei und besonders von Gustave Flaubert begeistert war. Den allerzwingendesten Beweis ergibt der lange Passus im Zauberberg, in welchem Mann die Zärtlichkeiten des Hans Castorp seiner Geliebten gegenüber en français zum Ausdruck bringt. Mann machte daraus keinen Hehl, dass er den französischen Autoren bis zum Gebrauch ihrer eigenartigen französischen Ausdrucksform Ehre zollte. Hinzu kommt, dass der Gro?teil der Betrachtungen das deutschpatriotische Leitmotiv nebensächlich berühren. Sie behandeln wahlweise das europäische Literatentum oder Manns’ Eigenschriften.

Die aufsehenerregendsten Seiten sind die ungefähr ersten dreißig, in denen Mann aus allen Rohren feuernd das Deutschtum gegen die Westernisierung hochhält. Der Verfasser hält sich für „unpolitisch“, indem er die Politisierung mit dem Aufmarsch des Kosmopolitanismus gleichsetzt. Im Gegensatz zu seinen deutschfeindlichen Gegnern verrät er keineswegs einen unweigerlich „politisierten Geist“. Er beschützt sein Vaterland nicht lediglich als Mittel, um eine demokratische „Weltbekehrung“ zu vervollständigen, sondern weil sie von außen bedroht ist.

Der Pazifismus der gesinnungsethischen Literaten

Zeitrelevanter ist die von Mann getroffene Unterscheidung von „Gesinnungsmilitarismus“ und „Zweckmilitarismus“. In Abgrenzung zu dem preußischen Dienstadel mit ihrer miltärstolzen Gesittung schlagen die bewaffneten Advokaten der Zivilisationsdemokratie empört auf ihre ideologischen Gegner los. Sie stürmen mit einfallenden Armeen nicht bloß, um den Feind zurückzustoßen, sondern gegen das Böse eine Weltmission durchzuführen: „Wir beobachten da eine Art von Irrationalismus, der in Wahrheit ein vergeistigter Rationalismus ist und darin besteht, dass man den Krieg für ein Gottesgericht erklärt.“ Die Zivilisationsliteraten, die für diese bevorzugte Kriegsart eintreten, sind keineswegs gegen das Vergießen des Blutes: Diese „Menschenliebe ist nicht blutscheu; so gut wie das literarische Wort gehört die Guillotine zu ihren Werkzeugen.“

Ebensowenig sind die erklärten Pazifisten in Deutschland grundsätzlich gegen die Gewalt: „Sein Verhältnis zu diesem Krieg schwankt zwischen humanitärem Abscheu und größter Bewunderung für die soldatischen Leistungen der Feinde.“ Umso kriegslustiger ist der Scheinpazifist, der der mit Deutschland im Widerstreit stehenden Seite beitrat. „Er ist entzückt von den Leistungen der Zivilisationsmächte, er bewundert ihr Kriegsgerät, ihre Stahlplatten, Betongräbern, Fliegerpfeile, Erkrasit- und Stickgasbomben, ohne sich zu fragen,wie sich das alles mit Edelschwäche verträgt, und während er dieselben Dinge auf der deutschen Seite ekelerregend findet. Eine französische Kanone scheint ihm verehrungswürdig, eine deutsche verbrecherisch, abstoßend und idiotisch.“ Wie die Entente-Minister und -Journalisten fühlt sich der antideutsche Gemütsdemokrat nicht bemüßigt zu fragen, warum die andere Seite „gerüstet, glänzend gerüstet“ sei, wenn er uns vormachen will, dass es nur die Deutschen sind, die mit ihrer soldatischen Überlieferung über Heerscharen und Kriegsmittel verfügen.

Der Krieg für die gute Sache, der auch heute noch geführt wird

Mann ging mit den Fahnenträgern des demokratischen Internationalismus ins Gericht, ehe die amerikanische Regierung das „Junkertum“ zu bekriegen anfing. Mann rückte das Scheinwerferlicht auf das Jakobinertum und die Freimauererei, denen der französischen Feind und seine ausländischen Schwärmer verschrieben seien. In seiner Schilderung weist er jedoch über das Nahziel hinaus und trifft die heutzutage allgegenwärtige menschenrechtliche Ideologie. Beim Kriegsausbruch musste es einem Unbefangenen dämmern, dass beide Seiten ihr Scherflein beitrugen, um die Lawine loszutreten. Jedoch deutete Mann auf ein Novum hin, als er eine Art Militarismus umschrieb, der mit traditonsverbundenen Gesellschaften nichts zu tun hat. Vielmehr haftet diese Haltung spätmodernen, ausgesprochen demokratischen Ländern an, die der ganzen Welt ihre menschenfreudige Gesinnung zurschaustellen wollen.

Im Vergleich mit den alten Monarchien steht das Neumodell im Aufwind. Von den geschlagenen Mittelmächten sich abhebend, gaben sich die siegreichen Demokraten als Humanisten aus, die im Zeichen einer weltweiten Friedensmission gekämpft haben. Aus ihrem Schlag stammen die Wilsonianer und noch zeitgeistiger die Neokonservativen, die militärische Einsätze verkünden, um wesensfremde Gesellschaften zu „vermenschlichen“. Mann erhob die Fragen, warum die Humanisten der Friedsamkeit wohlgerüstet auftreten und warum der vermutlich allerletzte Kampf für die demokratische Ruhe zu immer verbisseneren Kriegsaktionen hinüberführt. Und natürlich werden die Literaten aufgebracht, wenn versucht wird, die Stellung der Antidemokraten klarzukriegen. Man wittert bei solchen Klarmachungen den Hauch einer schandhaften Aufrechnung. Die wehrhaften Demokraten gereuen sich keineswegs, dass ein Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg gegen Zivilisten geführt wurde. Blutige Ungeheurlichkeiten sind hinzunehmen, wenn eine demokratische Weltverwandlung den Kämpfern vorschwebt. Thomas Mann traf in seinen (später von ihm bedauerten und zurückgezogenen) Betrachtungen den Nagel auf den Kopf, als er die harte Anwendung von Zwangsmitteln kurz- und mittelfristig als die zweckmilitäristischen Kosten darstellt, die eine friedlich-demokratische Weltordnung zustande bringen sollten.