US-Präsident Barack Obama feuerte nach einem Vier-Augen-Gespräch im Oval Office am 23. Juni 2010 seinen Afghanistan-Befehlshaber Stanley McChrystal wegen dessen »höhnischer Bemerkungen« über die Washington-Administration.
Die kritischen Äußerungen sind in einem Porträt über McChrystal im US-Musikmagazin Rolling Stone enthalten (1). Unter dem Titel »The Runaway General« (übersetzt »Der abtrünnige General«) werden abfällige Bemerkungen des Generals über einige Top-Mitarbeiter der Obama-Administration wiedergegeben.
Mit scharfer Kritik wurden Vizepräsident Joe Biden, der US-Botschafter in Kabul, Karl Eikenberry, Obamas Sicherheitsberater James Jones sowie der Sonderbeauftragte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrook, überzogen. Letzteren hält McChrystal für einen Wichtigtuer, dessen E-Mails er als lästig empfand. In Jones sieht der geschasste General einen Clown, dessen Weltsicht zum Jahr 1985 passt, während er sich von Eikenberry verraten fühlt. Für Vizepräsident Joe Biden blieb nur Spott: »Bite me« (Auf Deutsch: »Leck mich«). Schon im vergangenen Herbst hatte McChrystal die Anti-Terror-Strategie von Biden als »kurzsichtig« bezeichnet. Sie würde in ein »Chaos-Istan« führen. Und Barack Obama selbst? »Uninteressiert« und »uninformiert« – so McChrystals Einschätzung nach dem ersten zehnminütigen Treffen zwischen dem Afghanistan-Kommandeur und seinem Oberbefehlshaber. Besonders enttäuschend empfand es McChrystal, dass der Präsident und Oberbefehlshaber nichts über seine Person gewusst und sich auch nicht sonderlich engagiert gezeigt habe.
Was mag diesen spartanischen General, den zähen Ausdauersportler und ehemals loyalen Feldkommandeur Obamas bewegt haben?
Wie tief mussten also die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Politik in Washington und der Armeeführung in Kabul sein, dass ein Vier-Sterne-General diesen Weg wählt, um auf den Bruch aufmerksam zu machen? Was sagt uns das über den Zustand der Mission in Afghanistan und Pakistan?
Die Despektierlichkeiten waren für den Präsidenten eine außerordentliche Herausforderung durch einen militärischen Führer – jedoch noch vor der Grenze zur Insubordination: Das US-Magazin stellt den General als einsamen Kämpfer dar, der sich von den Entscheidern in Washington alleingelassen fühlt. Das hätte den Präsidenten zum Nachdenken anregen müssen.
McChrystal hatte erst im Juni vergangenen Jahres den Oberbefehl über die westlichen Truppen in Afghanistan übernommen. Seinen Vorgänger, General David McKiernan, hatte die Regierung gefeuert, weil sie mit dessen Strategie nicht zufrieden war.
Binnen Minuten präsentierte Obama als Nachfolger für den gefeuerten ISAF-Kommandeur keinen geringeren als dessen Vorgesetzten, General David Petraeus, bis dato Befehlshaber des wichtigsten US-Regionalkommandos CENTCOM!
Flankiert von Vizepräsident Joe Biden, Verteidigungsminister Robert Gates und Admiral Mike Mullen, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, erklärte Obama diesen Schritt im Rosengarten des Weißen Hauses: »Aber Krieg ist größer als jeder Mann und jede Frau, größer als ein Gefreiter, ein General oder ein Präsident …« (2). Anschließend forderte Obama den Senat auf, die Ernennung von Petraeus zügig zu bestätigen: »Dies ist eine Änderung in der Personalentwicklung, es ist aber keine Veränderung der Politik«, betonte Obama.
Von Personalentwicklung kann jedoch keine Rede sein. Wie groß müssen die Schwierigkeiten sein, wenn kein geeigneter ISAF-Kommandeur aufgebaut werden kann und sich Obama des Befehlshabers von CENTCOM bedienen muss? Militärisch gesehen ist dies für Petraeus ein Abstieg und für Obama ein Offenbarungseid.
Nun soll Petraeus seinen irakischen Lorbeeren noch afghanische hinzufügen.
Im Irak-Krieg kommandierte er die 101. Luftlandedivision und begann nach der Zerschlagung des Regimes von Saddam Hussein, die neuen irakischen Sicherheitskräfte aufzustellen und auszubilden (3).
In die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, übernahm er am 20. Oktober 2005 das Kommando über das US Army Combined Arms Center (CAC). Während dieser Zeit war er für die Erstellung des Feldhandbuchs FM 3-24 zuständig. Eine der Autoren des Handbuchs ist die Anthropologin Montgomery McFate, Schöpferin des vom Pentagon initiierten Programms »Operationssystem der Feldhumanforschung« und Beraterin des Verteidigungsministeriums. McFate zeichnet sich durch ihre Parteinahme aus, mit der sie die enge Zusammenarbeit zwischen Anthropologen und Militärs in asymmetrischen Kriegen, die Verletzung der elementarsten Menschenrechte und der grundlegendsten Prinzipien der UNO, rechtfertigt. Sie konnte die Counterinsurgency-Strategen davon überzeugen, dass die Anthropologie eine wirkungsvollere Waffe als die Artillerie sein kann.
Am 5. Oktober 2007 veröffentlichte die New York Times einen Artikel von David Rohde über die Überlegung von US-Militärs einer neuen entscheidenden Waffe in den Aufstandsbekämpfungsoperationen: »eine mit Anthropologen und anderen Gesellschaftswissenschaftlern ausgestattete Mannschaft zum permanenten Einsatz in den Kampfeinheiten der US-Besatzungstruppen in Afghanistan und im Irak« (4). Rohde berichtet, dass diese einzigartige Verwicklung der Gesellschaftswissenschaften in die Kriegsanstrengungen der USA ein erfolgreiches experimentelles Programm des Pentagons darstellt. Dieses Programm wurde, als es im Februar 2007 begann, vehement von den Kommandierenden des Kriegsschauplatzes empfohlen. Im September desselben Jahres autorisierte der Verteidigungsminister Robert M. Gates einen zusätzlichen Posten über 40 Millionen Dollar, um jeder der 26 Brigaden in den beiden erwähnten Ländern ähnliche Gruppen zuzuweisen.
Diese offene Komplizenschaft der Hochschulkreise mit den Militärs rief bei unabhängigen US-Intellektuellen eine Welle der Kritik hervor. Sie verurteilten die Mitarbeit der Hochschullehrer bei diesem Handbuch, das zur Verfolgung, Folter und Ermordung von Menschen bestimmt ist, und das der militärischen Besatzung von Ländern in den »dunklen Winkeln der Welt« dient, in denen die USA ihre Interessen durchsetzen wollen.
Seither gilt das Feldhandbuch FM 3-24 als Richtlinie der US Army für die »Aufstandsbekämpfung« (counterinsurgency). In dieser Doktrin sieht die Bundeswehr die radikalste Militärdoktrin der Gegenwart (5). Sie stellt viele traditionelle Paradigmen der US-Kriegsführung auf den Kopf und liefert gleichwohl auch eine praxisorientierte und detaillierte Handlungsanweisung. In ihm manifestiert sich das Konzept von US-General David Petraeus, wonach der Sicherheit und dem Wohlstand der Zivilbevölkerung im Einsatzland die höchste Priorität einzuräumen ist – so die Einschätzung der Bundeswehr.
Vom 10. Februar 2007 bis zum 16. September 2008 versuchte dann Petraeus als Kommandeur der Multi-National Force Iraq (MNF-I) diese Doktrin umzusetzen. Jedoch nicht vollkommen – wie die letzten großen Anschläge im Irak beweisen. Ebenso verfolgte McChrystal in Afghanistan diese Counterinsurgency-Strategie. Danach sollen die alliierten Truppen nur zurückhaltend »tödliche Gewalt« anwenden, also etwa auch die Zivilbevölkerung bedrohende Luftschläge anfordern. Aber auch hier blieben die Erfolge aus. Dafür eskalierten die Verluste.
So erschütterte am 10. Mai 2010 die bisher schwerste Anschlagsserie des Jahres den Irak. Über 100 Menschen starben bei Attentaten in mehreren irakischen Städten, rund 350 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Anschläge reihen sich ein in eine Phase erhöhter Gewalt im Umfeld der am 7. März stattgefundenen Parlamentswahlen.
In dieser Situation sind die Erwartungen an Petraeus besonders hoch. Vor allem für Obama. Denn noch ist nicht klar, wie viel von der Affäre an ihm hängen bleibt.
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Anmerkungen
(1) Michael Hastings: »The Runaway General«, in Rolling Stone, 22. Juni 2010, S. 1, unter www.rollingstone.com/politics/news/17390/119236
This article appears in RS 1108/1109 from July 8-22, 2010, on newsstands Friday, June 25
(2) Jennifer Loven / Anne Gearan: »General McChrystal Relieved Of Command: Obama Takes General Off Top Afghan Post«, in Huffington Post, 23. Juni 2010
(3) Damit erhielt er als Erster das Kommando über das Multi National Security Transition Command Iraq.
(4) David Rhode: »Army Enlists Anthropology in War Zones«, in The New York Times, 5. Oktober 2007, unter www.nytimes.com/2007/10/05/world/asia/05afghan.html
(5) Bundeswehr, unter
http://www.readersipo.de/portal/a/sipo/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLN7KI9zUJBslB2f76kZiixsFIokEpqfre-r4e-bmp-gH6BbmhEeWOjooA2cvujg!!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMjhfTTVI?yw_contentURL=/01DB131300000001/W27UUB6G987INFODE/content.jsp
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