Wenn heute Abend alle Stimmen ausgezählt sind, wird nichts entschieden sein. Das ist ungewöhnlich in dem Land mit dem konsequentesten Mehrheitswahlrecht der Welt. Normalerweise sorgt es dafür, dass nur die beiden größten Parteien – seit einem Jahrhundert die „Tories“, heute repräsentiert in der „Conservative Party“ und die sozialdemokratische „Labour“ – eine bedeutende Zahl von Parlamentssitzen gewinnen können.
Indem es kleinere Parteien von der Macht ausschließt, hat das Mehrheitswahlrecht dem Vereinigten Königreich seit der „Glorious Revolution“ von 1688 im Ganzen betrachtet stabile Regierungsverhältnisse beschert.
Schottische Linksnationalisten drängen nach oben
Inzwischen erlebt Britannien jedoch einen Umbruch seines Parteiensystems. Der reicht noch weit über jene Krise hinaus, an deren Ende die konservativen „Whigs“ durch die Labour Party ersetzt, dass de facto existierende Zweiparteiensystem aber auf diese Weise wiederhergestellt wurde. Bei den aktuellen Wahlen ist die absolute Mehrheit einer Partei – erreicht bei 326 der insgesamt 650 Sitze – sehr unwahrscheinlich. Eine Regierungskoalition ist aber auch nicht in Sicht.
Das sichtbare Erdbeben dieser Wahl steht bereits fest. Die „Scottish National Party“ (SNP) schlägt in den schottischen Umfragen alle anderen Bewerber um Längen aus dem Feld. Nur reichlich ein halbes Jahr nach der knapp verlorenen Abstimmung um die schottische Unabhängigkeit wird die linksnationale Partei fast sämtliche Sitze in ihrer Heimat abräumen. Von Labour, der traditionell dominierenden Partei in Schottland, fühlen sich die meisten Schotten nicht mehr repräsentiert. Sie wird nur noch als Teil eines abgehobenen Westminster-Klüngels angesehen. Die Attraktivität der SNP beruht aber auch darauf, dass sie noch großzügigere Sozialleistungen verspricht als Labour – und nach Möglichkeit das Vereinigte Königreich dafür aufkommen soll.
Regional– und Minderheitenparteien sind in Westminster, dem Sitz des britischen Parlaments, ganz normal. Wenngleich das Mehrheitswahlrecht sehr hohe Schranken für inhaltliche Oppositionsparteien wie etwa die UKIP errichtet, so fördert es die Vertreter regionaler Interessen. Diese dürfen eine Handvoll Vertreter nach Westminster schicken und sind ansonsten ohne Belang. Die SNP jedoch reitet auf der Welle einer massiven Unzufriedenheit der Schotten mit dem gesamten Londoner Establishment. Hier geht es um alle 59 Sitze, die Schottland im House of Commons zu vergeben hat. Die SNP wird aller Wahrscheinlichkeit nach über 50 davon gewinnen.
Vor allem Labour hat Angst vor der SNP
Das schadet zunächst der Labour Party, die Schottland seit Jahrzehnten dominiert und mit der die SNP inhaltlich viele Gemeinsamkeiten hat. Das Bündnisangebot der SNP-Vorsitzenden Nicola Sturgeon an Labour wurde von dessen Vorsitzenden Ed Miliband aber zurecht als unheilvolles Danaergeschenk abgewiesen. Die Schotten wollen eine Minderheitsregierung der Labour Party unterstützen, nicht als Koalitionspartner, aber von Gesetzesvorlage zu Gesetzesvorlage. Dabei besteht das Ziel der SNP vor allem darin, möglichst viele Transferzahlungen für Schottland herauszuschlagen, wenn es nicht doch noch gelingen sollte die Unabhängigkeit wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Sich zur Geisel einer Separatistenpartei zu machen, die zudem unter nationaler Selbstbestimmung in etwa dasselbe versteht wie Alexis Tsipras, nämlich auf anderer Leute Kosten zu leben, und auch noch die Labour-Wähler stiehlt, ist für Miliband keine angenehme Vorstellung. Er hat bereits jede Zusammenarbeit ausgeschlossen.
Neuwahlen? Minderheitsregierung?
Eher will er die Briten erneut an die Urne schicken, in der wagen Hoffnung, dass sich die Anziehungskraft der SNP irgendwie mit der Zeit abnutzt. Sollte sich jedoch diese Partei dauerhaft als Vertreterin Schottlands etablieren, verlöre Labour eine wichtige Hochburg. Eine Alleinregierung von Labour wäre damit für die Zukunft ausgeschlossen und regelmäßige Koalitionen mit der in England äußerst unpopulären SNP sind auch nicht möglich. Das Bündnis SNP-Labour ist allerdings die einzige realistische Koalition. Sollte Miliband sich nach der Wahl nicht doch umentscheiden und den gewaltigen Vertrauensverlust in Kauf nehmen, bliebe außer Neuwahlen nur eine Minderheitsregierung.
Das sähe folgendermaßen aus: Der britische Premierminister wird verfahrenstechnisch betrachtet nicht vom Parlament gewählt, sondern vom Monarchen ernannt. Der einmal ernannte Premier braucht dann aber die Unterstützung des House of Commons für die Thronrede des Monarchen, in der das Regierungsprogramm niedergelegt ist. Queen Elisabeth soll diese Rede am 27. Mai halten. Um Premier zu werden bzw. zu bleiben, werden der amtierende Premierminister und Vorsitzende der „Conservative Party“ David Cameron und Miliband also die Stimmen der diversen Kleinparteien einsammeln müssen. Diese werden sich das natürlich etwas kosten lassen. Doch die verabschiedete Thronrede wäre dann nur der Anfang des Spießrutenlauf. Bei jeder Gesetzesvorlage, die nicht auch von der großen Oppositionspartei getragen wird, wird dieses Spiel von vorne beginnen. Fünf Jahreshaushalte wird die neue Regierung auf diese Weise durchbringen müssen.
Symptom einer gesamteuropäischen Umwälzung
Bleibt diese unselige Situation wenigstens auf die nächsten fünf Jahre beschränkt? Nein, das ist kein Betriebsunfall. Diese Wahlen sind nur das Symptom einer Umwälzung, die ganz Europa im Griff hat. Es entlädt sich eine diffuse Frustration über das Establishment. Das Kartell der etablierten Parteien wird von vielen nur noch als inzestuöser Klüngel wahrgenommen. Problemlösungskompetenz spricht man ihm nicht mehr zu, oft genug wird ihm auch schon der Wille zur Problemlösung abgesprochen. Wo sich ein Kanal findet, dem Unmut Luft zu machen, wird dieser genutzt.
In Schottland ist dieser Unmut durch die Kombination einer regionalen Separatistenbewegung mit den Besonderheiten des britischen Wahlrechts nur besonders wirksam geworden. Im restlichen Britannien fordert inzwischen die „UK Independence Party“ (UKIP) die etablierten Parteien heraus. Sie wird bei dieser Wahl zwar nur wenige Sitze gewinnen. Doch durch ihr Erstarken sah sich Cameron bereits zu dem Wahlversprechen genötigt, 2017 ein Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union abzuhalten. Aber auch Labour steht seitens dieser Richtung unter Druck. In vielen Wahlkreisen Nordenglands, jener Gegend, in der die Labour Party die Vergewaltigung tausender weißer Mädchen durch Migrantengangs über anderthalb Jahrzehnte lang beaufsichtigte, ist UKIP bereits die zweitstärkste Kraft.
Die Entwicklung in Britannien folgt einem Muster des Vertrauensverlustes der politischen Klasse, der neue ungewohnte Bewegungen nach oben spülen kann. Die akute politische Situation in Britannien hängt stark mit den dortigen Umständen zusammen. Im Kern folgt ganz Europa diesem Trend. Eines nicht all zu fernen Tages werden die jetzigen Oppositionsbewegungen vor der Frage stehen, was sie mit der errungenen Macht anfangen wollen. Mit etwas Glück wird dann etwas Ausgegoreneres auf der Tagesordnung stehen als der nationale Sozialismus der griechischen Linkspartei „Syriza“ oder der SNP.