Die ursprüngliche Bezeichnung „offene Gesellschaft“ rührt vom französischen Lebensphilosophen Henri Bergson (1859−1941) her. Bergson bezeichnete damit einen besonderen Gesellschaftstypus, der sich in der Seele hervorragender Menschen vorgebildet fände. Dieser Gesellschaftstypus geht, jenseits des natürlichen Rahmens von intimer Gruppensolidarität sowie eng auf die Abstammungsgruppe beschränkter Gemeinschaftsmoral – der Theologe Ernst Troeltsch sprach von „Binnenmoral“ – von einem einzigen, alle Menschen gleichermaßen befassenden Menschentum aus. Grundlage der „offenen Gesellschaft“ ist die Anerkennung des Menschen als eines Höchst– und Selbstwertes. Obwohl Bergsons Sympathie mit dieser Bestimmung eindeutig bei der „offenen Gesellschaft“ lag, erkannte er durchaus die Notwendigkeit und Berechtigung ursprünglicher, also „geschlossener“ Verbände und Gemeinwesen an.
Das liberale Ideologem der „offene Gesellschaft“
Erst Sir Karl Raimund Popper war es beschieden, Bergsons im Übrigen gut gebildete analytische Kategorie „offene Gesellschaft“ zum ideologischen Transportmittel für den Individualismus und Egoismus zu machen. „Offene Gesellschaft“ wurde, dank Popper, zum Freiheitsbekenntnis des (absoluten) Individuums, im Gegensatz zu Etatismus, Nationalismus, Protektionismus sowie jeder Art von „Kollektivismus“.
Seitdem gehört „offene Gesellschaft“ als Kampfbegriff zum Grundbestand pseudowissenschaftlicher, liberalistischer Propaganda. Diese war derart wirksam, dass sogar dieselben Liberalen, die eigentlich nur auf die Täuschung Unbedarfter aus waren, von ihrem eigenen Blendwerk geblendet worden sind. Der liberale deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf z.B. war felsenfest davon überzeugt, dass Großbritannien von alters her eine „offene Gesellschaft“ gewesen sei. Das trifft im gleichen Sinne zu, in dem man vom alten Athen mit seiner rücksichtslosen Sklavenwirtschaft, seiner andere Gemeinwesen den Boden gleichmachenden Kriegsführung und seiner grausamst betriebenen Kolonialpolitik („Kleruchien“) sagen kann, es sei eine Demokratie gewesen.
Keine Gesellschaft, kein Pluralismus
Kritischere Liberale haben die Unhaltbarkeit der geschichtlich realisierten „offenen Gesellschaft“ schließlich bald erkannt und versucht, in der „pluralistischen Gesellschaft“ einen Ausweg zu finden. Tatsächlich aber fällt die „pluralistische Gesellschaft“ in dem Land, was ihr zum Vorbild gedient hat, den USA nämlich, mit dem zusammen, was man hier landläufig „offene Gesellschaft“ nennt.
Dabei ist wichtig festzustellen, dass der namengebende Grundzug des „Pluralismus“, eben wirklich pluralistisch zu sein, nirgends dort zu Hause ist, wo einstmals der monarchische Absolutismus für Ruhe und Ordnung sorgte. Also in fast ganz Kontinentaleuropa. Und gerade der monarchische Absolutismus war es, der das charakteristische, moderne Spannungsfeld von Individuum und Staat erst hervorgebracht hat. Das war das Zerstörungswerk seiner alles zentralisierenden Bürokratien, allem voran seines vereinheitlichenden Rechtswesens nach der neuzeitlichen Wiederentdeckung des römischen Rechtes: Zuerst vereinnahmte oder zerstörte der Absolutismus seinen natürlichen Widerpart, die „soziale Souveränität“ (Vázquez de Mella), d.h. die sich in Ständen, Gilden, Zünften, Kirchen sowie Familienverbänden darstellende organisch gegliederte Gesellschaft.
Nach dieser Auflösung der sozialen Autorität befand sich der absolutistische Staat bereits im Übergang zum Klassenstaat, wie Marx ihn später geschildert hat. Die „liberalen“ Revolutionen des 19. Jahrhunderts setzten dann das fort, was bereits der monarchische Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts begonnen hatte: die Zersetzung der Gesellschaft.
Soziale Souveränität
Inwieweit sich das auf den „Pluralismus“ auswirkt, veranschaulicht ein Aphorismus Nietzsches: „Kurz gesagt – ach, es wird lang genug noch verschwiegen werden! –: was von nun an nicht mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden kann, das ist eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes: um diesen Bau zu bauen, fehlt alles, voran das Material. Wir alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft …“
In den Staaten des Alten Kontinents gibt es also keine soziale Souveränität mehr. „Soziale“ Interessenvertretungen sind einfach nur „soziale“ Parteien, deren Bestand genauso zu bedauern ist wie der der politischen Parteien. Und auch die verschiedenen „Körperschaften“, „Bünde“, „Verbände“, „Genossenschaften“ sind keine vollgültigen Nachfolger der sozialen Souveränität, sondern bloß für das mehr oder minder reibungslose Funktionieren des Lückenbüßers „Zivilgesellschaft“ gute Institutionen – allesamt von Gottvater Staats Gnaden.
Alexis de Tocqueville konnte dahingegen in den USA die den Pluralismus begründende „soziale Souveränität“ mit eigenen Augen, sozusagen „am Werk“ sehen. Die Universalität und Zukunftsfreudigkeit der jungen Nation war den Amerikanern dabei mit in die Wiege gelegt worden. In Europa gab und gibt es dazu nichts Vergleichbares. Wir haben eben Vergangenheit, Wurzeln und Sinn für Tradition.
Statt Erlösung Auflösung
Im Gegensatz zum „Kosmopolitismus“ sticht bei der „offenen Gesellschaft“ der individualistische Zug so nicht mehr ins Auge. Wir haben uns an den Terminus längst gewöhnt und machen uns kaum noch die Mühe, ihn zu durchdenken. Die „offene Gesellschaft“ ist deshalb das bevorzugte Mittel, den Leuten nichts weniger als die kosmopolitische Zersetzung ihrer Gemeinwesen schmackhaft zu machen. Dahinter steckt letztendlich eine Denkweise, die, wie Troeltsch ausführte, anfangs eine Erlösung von konfessionellem, staatlichem und unterrichtlichem Zwang versprach. Seit Popper gehört dazu auch die „Erlösung“ von der „geschlossenen Gesellschaft“, von Volk, Nation und aller durch Tradition und Autorität geprägten Gemeinwesen. Das jedoch ist dann keine Erlösung mehr, sondern eine Auflösung.