George Orwell hat ein Buch über Nationalismus geschrieben, verstand ihn aber in  unorthodoxer Weise. Dennoch versuchen politisch-korrekte Intellektuelle ihn für linksgrünen Globalismus zu vereinnahmen. Viktor Timtschenko hat ebenfalls ein Buch über Nationalismus geschrieben, und verteidigt den berühmten Kollegen gegen seine Fehldeuter.

Gottbegnadete Menschen dürfen das. Sie dürfen einen Vogel „Tisch“ nennen und schreiben: „Ein Tisch sitzt auf dem Baum“. Und sie dürfen ein Vogel-Buch „Über Tische“ nennen. So ist es mit dem erstmals auf Deutsch erschienenen Buch von George Orwell „Über Nationalismus“.

uebernationalismus100_v-contentxl.jpg

Nationalismus ist nicht gleich Nationalismus

Zugegeben: Von Anfang an klärt der berühmte englische Autor („Farm der Tiere“, „1984“) den Leser über die „Vogel-Tisch-Problematik“ auf: Er hat sich „für die Bezeichnung ‚Nationalismus‘ entschieden, aber wir werden gleich sehen, dass ich dieses Wort nicht im üblichen Sinne verwende“. Allerdings! Was ist unter dem Nationalismus in diesem 1945 geschriebenen Artikel gemeint? Orwell hüllt sich nicht in Metaphysik: „Der Nationalismus im erweiterten Sinne, wie ich ihn verwende, umfasst Bewegungen und Neigungen, wie (jetzt aufpassen! – V. T.) den Kommunismus, den politischen Katholizismus, den Zionismus, den Antisemitismus, den Trotzkismus und den Pazifismus.“ Was hat das mit dem „konventionellen Nationalismus“ zu tun?

Da Orwell nicht ohne Grund vermutet, dass der Leser etwas irritiert sein könnte, nennt er „auf der Hand liegende Beispiele“ des von ihm neu definierten Nationalismus: „Das Judentum, der Islam, das Christentum, das Proletariat und die weiße Rasse sind allesamt Gegenstand leidenschaftlicher nationalistischer Empfindungen.“ Und fügt hinzu: „Ein Nationalist ist jemand, der einzig und allein – oder überwiegend – in Kategorien konkurrierenden Prestiges denkt.“ Und die Nationalisten eifern nicht um die Belange einer Nation, sondern einer „eigenen Machteinheit“ – Sekte, Organisation, Gruppe von Gleichgesinnten oder beispielsweise der Partei der „Sozialisten, deren Nationalismus die Form des Klassenhasses annimmt“.

Also hat ein Nationalist, wie Orwell ihn definiert, nicht unbedingt etwas mit Nation und Rasse am Hut. Das ist einfach ein engstirniger indoktrinierter Mensch, der blind(wütig) seine „Sache“ verteidigt, keine Argumente wahrnimmt und in schwarz-weiß-Kategorien denkt – und diese Doktrinen können religiöser, politischer, aber auch ethnischer Natur sein. Das Pamphlet „Über Nationalismus“ ist eine Invektive gegen Sturheit und Besessenheit, gegen Obsession und Rechthaberei. Das ist ein Text nicht über die Politik, sondern über die „Geisteshaltung“, über die „Emotion“, wie Orwell selbst erklärt oder „eine Mentalität, eine zum Habitus gewordene Ideologie“, wie Gustav Seibt in der Süddeutschen schreibt.

Durchaus aktuell. Aber wie!

An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass Orwell den Essay eigentlich über die damalige Geisteshaltung der britischen Intelligenzija schreibt – und manche Kunstschaffende (exemplarisch Gilbert Keith Chesterton – der mit den Krimis um Pater Brown – , sowie Evelyn Waugh und T. S. Eliot) kriegen ihr Fett weg: „Die bei der Intelligenzija vorherrschende Form von Nationalismus (wir erinnern uns, wie breit er den Begriff gefasst hat – V. T.) ist selbstverständlich der Kommunismus“, den Orwell nicht auf die Mitglieder der Kommunistischen Partei begrenzt, sondern alle „Russlandfreunde“, was zu diesem Zeitpunkt Stalinfreunde bedeutete, einbezieht.

orwellcartoon1.jpg

Schonungslos deckt Orwell die Fälschungen auf, die diese, von ihren Ideen besessenen, Propagandisten produzieren. Fakten werden von ihnen unterdrückt, „Zitate aus dem Kontext gerissen und so bearbeitet, dass sich ihr Inhalt verändert. Ereignisse, die, so das Gefühl, nie hätten stattfinden sollen, bleiben unerwähnt und werden letztlich geleugnet.“ Ein Beispiel: „1917 ließ Tschiang Kai Schek Hunderte Kommunisten bei lebendigem Leib verbrühen, und doch wurde er innerhalb von zehn Jahren zu einem Heroen der Linken. Die Neuordnung der Weltpolitik hatte ihn ins antifaschistische Lager befördert, und so hatte man das Gefühl, das Verbrühen der Kommunisten ‚zähle nicht‘ oder sei vielleicht nie geschehen“, berichtet der Literat.

Eric_Blair_George_Orwell_from_his_Metropolitan_Police_file-1.jpg

Eric Blair_(George Orwell) from his Metropolitan Police file.
Foto: The National Archives UK / No restrictions. Wikimedia, CC0

Also, „so das Gefühl“: „Lückenpresse“ und Haltungsjournalismus gab es schon damals auf der britischen Insel! Es gibt auch andere recht aktuelle Bezüge in dem vor 75 Jahren geschriebenen Text. Als einer der Formen des Nationalismus beschreibt Orwell die Anglophobie der englischen „Intellektuellen“: „Innerhalb der Intelligenzija ist eine spöttische und dezent feindselige Haltung gegenüber Großbritannien mehr oder weniger Pflicht.“ Etwas später schwappt diese Haltung auch nach Deutschland über, es erklingt nun „dezent“ „Deutschland verrecke!“ und „Bomber Harris“, der – unter anderem – 1945 Dresden in Schutt und Asche legte, wird mit Applaudissement bedacht.

Was ist das für ein perverses Phänomen, dass die Menschen ihr eigenes Land hassen, welche Geistesverfassung besitzen sie? Orwell aus dem Jahr 1945: „Natürlich wollten englische Linksintellektuelle nicht wirklich, dass die Deutschen oder die Japaner den Krieg gewannen, aber viele von ihnen zogen einfach einen Kick daraus, wenn sie sahen, wie ihr eigenes Land gedemütigt wurde.“ Der Unterschied zu Deutschland ist schon gut sichtbar: Die von Orwell beschriebenen Hasser saßen damals nicht in der britischen Regierung. Deutlich beschreibt der Schriftsteller und Zeitzeuge die Wendehälsigkeit, „Bigotterie“ solcher linken „Nationalisten“: „Auf dem europäischen Kontinent rekrutieren sich faschistische Bewegungen überwiegend aus Kommunisten – in den nächsten Jahren läuft die Sache möglicherweise in die entgegengesetzte Richtung.“  Meinte er, dass aus Faschisten „Anti-Faschisten“ werden? Läuft!

Die Ikone wird instrumentalisiert

Warum publiziert Mainstream den alten Orwell’schen Essay gerade jetzt? Die Frage ist leicht beantwortet: Weil der Nationalismus auf dem Vormarsch ist. Politische Parteien, die die Interessen ihrer eigenen Völker und nicht die Interessen der anderen Völker und globaler Konzerne in den Vordergrund stellen (exemplarisch „Amerika zuerst!“), gewinnen an Zuspruch. Die AfD in Deutschland, Lega in Italien, Viktor Orban in Ungarn, der Nationalisten in Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Schweden, Frankreich, Polen, Slowakei verbuchen Erfolge. Großbritannien ist aus dem EU-Imperium raus. In den USA, in Russland, China, Pakistan, Indonesien, Kambodscha, Indien, Südkorea, Japan, in der Türkei sind Nationalisten an der Macht.

9783742409461.jpg

Daher bekommt der linksgrüne Mainstream kalte Füße. Woher die Stärkung des Nationalismus kommt, möchten sie nicht ehrlich beantworten oder vermögen es nicht. Einziger Ausweg: man sucht (auch in historischen Mottenkisten) nach Prominenz, die sagt (oder sagen sollte): Nationalismus ist eine ga-a-a-nz böse Sache.

So kommen sie auf Orwell, einen der bedeutendsten Schriftsteller der Weltliteratur. Da sich die Herausgeber der Antiquiertheit des Textes bewusst sind, versehen sie die nicht einmal 40 Buchseiten des originalen Orwell mit einem opulenten Nachwort des Soziologen Armin Nassehi. Mit vielen Verrenkungen macht er dabei eine gute Figur und, wie der NDR-Rezensent Alexander Solloch bemerkt, schafft es immerhin „in einem leicht aktualisierungsneurotischen Abschnitt, den Nationalismus, von dem Orwell einst sprach, mit den heutigen ‚Klimaprotesten‘ (und mit Brexit! – V. T.) in Verbindung zu bringen.“
Das ist der Publikationsgrund Nummer zwei.

Der Mainstream, sowohl der politische als auch der mediale (samt Armin Nassehi), schwört auf die „sozialistischen Ansichten“ Orwells. Das stimmt nur so weit: Orwell war Sozialromantiker, ein Sozialträumer, der an irgendeinen „Sozialismus“ glaubte, der in der Realität gar nicht existierte (und nicht existiert). Was gab es da? Es gab den von Orwell rigoros abgelehnten Sozialismus Stalin’scher Prägung in der Sowjetunion, wo Millionen (politische) Häftlinge den Belomor-Kanal und Eisenbahnlinien in Sibirien bauten, es gab in Palästina sozialistische Kibbuzim, die unter Verzicht auf das Nötigste das Paradies auf Erden zu erschuften suchten. Beide „Projekte“ sind bitterböse gescheitert. Aber was Orwell nicht erleben konnte, war der Pol-Pot-Sozialismus der Roten Khmer in Kambodscha – mit Millionen Toten, der Sozialismus in China mit Freiheiten à la Platz des Himmlischen Friedens, der Sozialismus der Entbehrungen in ganz Osteuropa, in Nordkorea und auf Kuba. (Fortsetzung des Artikels unter dem Werbebanner)

Aber geniale Autoren, wie Orwell einer war, sind auch deshalb genial, weil sie in ihren Werken nicht ideologisch geblendet sind. Die Logik der Erzählung an sich, die erschaffenen Charaktere führen den Autor oft zu literarischen Erkenntnissen, die seinen eigenen Überzeugungen diametral gegenüberstehen. Einen ähnlichen „permanenten Kampf des Autors mit dem Helden“ bemerkt Literaturwissenschaftler Jakow Sundelowitsch auch bei Fjodor Dostojewskij. Der Autor Orwell glaubt an seinen romantisierten „Sozialismus“, die Gestalten, die aus seiner Feder kommen, entlarven aber das unmenschliche Wesen dieser politischen Ideologie. Deshalb heißt totalitäre Herrschaft in „1984“ – „Engsoz“, englischer Sozialismus.

Ein Beispiel von dem „ersehnten Sozialismus“ gibt Orwell in der „Grammatik des (sozialistischen – V. T.) Neusprechs“: „Das Wort frei gab es zwar im Neusprech noch, aber es konnte nur in Sätzen wie ‚Dieser Hund ist frei von Flöhen‘, oder ‚Dieses Feld ist frei von Unkraut‘ angewandt werden. In seinem alten Sinn von ‚politisch frei‘ oder ‚geistig frei‘ konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische oder geistige Freiheit nicht einmal mehr als Begriff gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung dafür vorhanden war.“

4B-Carl-Glover.jpg

Orwell als Apologet des Sozialismus? Keineswegs! Eher entschiedener Gegner des Überwachungsstaates, der Meinungsmanipulationen, political correctness und der gendersensiblen Sprache. Die beabsichtigte Schmähung des Nationalismus durch einen überzeugten „Sozialisten“ ist mit der Veröffentlichung des Buches „Über Nationalismus“ also weit daneben gegangen. Daraus wurde ein Schuss ins eigene linke Bein. Die Versuche vieler Rezensenten, Orwell umzuinterpretieren (indem man das Orwell’sche Verständnis für „seinen“ Nationalismus einfach weglässt) und aus dem Text einen Strick für den modernen Nationalismus zu drehen, sind kläglich gescheitert. Der Text ist aktuell, der Text ist brisant, und zwar nicht, weil er die Liebe zur Nation anprangert, sondern weil er den heutigen verlogenen politischen Eliten einen Spiegel vor ihre Fratzen hält.

Orwell, George: Über Nationalismus, dtv Verlagsgesellschaft mbH, München, 2020.